Читать книгу Europäisches Marktöffnungs- und Wettbewerbsrecht - Peter Behrens - Страница 162

(f) Forensische Ökonomie

Оглавление

Literatur:

Ewald Ökonomie im Kartellrecht: Vom more economic approach zu sachgerechten Standards forensischer Ökonomie, ZWeR 2011, 15; Zimmer Law and Economics im Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, in: FS Canenbley (2012) 525.

425

Anders als es nach den Aussagen der Kommission und der allgemeinen Diskussion häufig den Anschein hat, bedeutet die „stärker wirtschaftliche Betrachtungsweise“ (der more economic approach) in Wahrheit keine ökonomische Neuausrichtung der wettbewerbsrechtlichen Bewertungsmaßstäbe, die an ein unternehmerisches Verhalten angelegt werden. Vielmehr betrifft dieser Ansatz genau genommen (nur) die ökonomische Analyse der Sachverhalte und ihrer Subsumtion unter die rechtlich definierten Maßstäbe in den konkreten Einzelfällen. Die Ökonomisierung der Wettbewerbsregeln ist also bei zutreffender Würdigung keine theoretische Frage der Schutzziele, sondern eine Frage der praktischen Rechtsanwendung:

Diese Unterscheidung tritt in dem bereits erwähnten Fall GlaxoSmithKline/Kommission,[150] in dem es um die Wettbewerbswidrigkeit von Parallelhandelsbeschränkungen im Arzneimittelbereich ging, deutlich hervor: Zunächst wurde in diesem Fall die normative Frage aufgeworfen, ob das ökonomische Konzept der Verbraucherbenachteiligung ein für die Beurteilung solcher Beschränkungen maßgebliches Tatbestandsmerkmal des Kartellverbots des Art. 81 Abs. 1 EG [jetzt: Art. 101 Abs. 1 AEUV] sei und damit eine Voraussetzung für die Feststellung einer Wettbewerbsbeschränkung. Das hat der EuGH wie gesagt – entgegen dem EuG,[151] jedoch in Übereinstimmung mit den Schlussanträgen der Generalanwältin[152] – abgelehnt.[153] Für den Fall einer positiven Antwort auf diese Frage hätte sich dann – in Übereinstimmung mit dem EuG – das Problem des tatsächlichen Nachweises der durch Parallelhandel entstehenden Verbrauchervorteile bzw. der durch Beschränkungen dieses Handels entstehenden Verbrauchernachteile gestellt. Zur Lösung dieses Problems wäre auf ökonomische Erfahrungssätze abzustellen gewesen.[154]

426

Es besteht Einigkeit darüber, dass die Nutzung ökonomischer und ökonometrischer Erkenntnisfortschritte für die Sachverhaltsaufklärung und -würdigung unerlässlich ist. Man hat dafür treffend den kennzeichnenden Begriff der forensischen Ökonomie geprägt.[155] Sie ist keineswegs ein neues Phänomen, wenngleich sie in den letzten Jahren schrittweise verstärkt genutzt worden ist, und zwar sowohl bei der Anwendung des Kartellverbots als auch des Verbots des Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung und der Zusammenschlusskontrolle:[156]

Hinzuweisen ist im Rahmen der Anwendung des Kartellverbots beispielsweise auf das Problem des Nachweises einer Abstimmung des Marktverhaltens, wenn es an expliziten Absprachen fehlt. Die Frage ist dann, inwieweit sich aus den beobachtbaren Indizien auf ein Kartell schließen lässt. Im berühmten Teerfarbenfall[157] hatten die großen europäischen Farbenhersteller aus verschiedenen Ländern, die zahlreich genug waren, um noch nicht als (enges) Oligopol mit starker Reaktionsverbundenheit angesehen zu werden, mehrfach in vergleichsweise kurzen Abständen nahezu gleichzeitig – jeweils nach vorheriger Ankündigung – die Preise für ein umfangreiches und durchaus heterogenes Warensortiment angehoben. Aufgrund des Erfahrungssatzes, dass nur Mitglieder eines engen Oligopols, die bei weitgehend identischen Kostenstrukturen homogene Güter herstellen, aufgrund ihrer Reaktionsverbundenheit (Interdependenz) auch ohne wechselseitige Abstimmung zu parallelem Marktverhalten neigen, war die Kommission hier zu dem gegenteiligen Schluss gekommen, dass sich die parallelen Preiserhöhungen gar nicht anders als durch eine horizontale Verhaltensabstimmung erklären ließen. Weder hatte es sich um ein hinreichend enges Oligopol gehandelt, um von einer zwingenden Reaktionsverbundenheit sprechen zu können, noch konnte von übereinstimmenden Kostenstrukturen und von homogenen Gütern die Rede sein. Darüber hinaus hatten die jeweiligen Ankündigungen der beabsichtigten Preiserhöhungen seitens einiger Marktteilnehmer den Konkurrenten die Unsicherheit hinsichtlich der wechselseitigen Reaktionen genommen, die für den Wettbewerb kennzeichnend ist. Dieser Sachverhaltswürdigung der Kommission und dem ihr zugrundeliegenden Erfahrungssatz ist der EuGH gefolgt.

427

Andererseits hat das EuG in jüngeren Entscheidungen mehrfach gerügt, dass die Kommission ihrer Beweisführung keinen tragfähigen Erfahrungssatz zugrundegelegt bzw. dessen Anwendung nicht hinreichend mit Tatsachen untermauert habe:

So hatte in einem Fall vertikaler Re-Exportverbote (Parallelhandelsbeschränkungen) im Arzneimittelbereich, die von einem Produzenten seinen Händlern in anderen Mitgliedstaaten auferlegt worden waren, um zu verhindern, dass die Händler seine eigenen Absatzchancen in einem höherpreisigen Drittstaat durch Re-Exporte minimierten, der Produzent diese Handelsbeschränkungen im Sinne ihrer Freistellungsfähigkeit nach Art. 81 Abs. 3 EG [jetzt: Art. 101 Abs. 3 AEUV] damit rechtfertigen wollen, dass sich die durch die fraglichen Beschränkungen bedingten Erlösverbesserungen positiv auf seine Innovationsfähigkeit auswirken würden.[158] Die Kommission hatte aufgrund eines entsprechenden Erfahrungssatzes angenommen, dass ein solcher Zusammenhang nicht zwingend sei, weil ein Unternehmen seine Gewinne zu beliebigen Zwecken einsetzen könne. Demgegenüber hat das EuG darin einen Begründungsmangel erblickt.[159] Die Kommission habe so konkret wie möglich prüfen müssen, ob der Eintritt der behaupteten Vorteile wahrscheinlicher sei als deren Nichteintritt.[160]

428

Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang drei vom EuG wegen fehlerhafter Begründungen aufgehobene Entscheidungen der Kommission, mit denen sie verschiedene Unternehmenszusammenschlüsse gem. Art. 2 Abs. 2 und 3 FKVO 4064/89 für unvereinbar mit dem Gemeinsamen Markt erklärt hatte. Nach dem damaligen Wortlaut kam es entscheidend auf die Feststellung an, ob der fragliche Zusammenschluss „eine beherrschende Stellung“ begründen oder verstärken würde:

Im Fall Airtours[161] hatte die Kommission die Übernahme des britischen Reiseveranstalters First Choice durch seinen größten Konkurrenten Airtours mit der Begründung untersagt, dass sich die Anzahl der großen britischen Reiseveranstalter dadurch von vier (Airtours, First Choice, Thomson Travel, Thomas Cook) auf drei reduzieren würde. Damit werde der Wettbewerb auf dem relevanten Markt beseitigt und es komme zur kollektiven Markbeherrschung des verbleibenden Oligopols. Angesichts der extrem hohen Transparenz auf dem relevanten Markt, sei ein von den jeweils anderen Konkurrenten unabhängiges Marktverhalten der Oligopolisten unmöglich, weil jeder Wettbewerbsvorstoß in Gestalt einer Ausdehnung des Angebots umgehend entsprechende Anpassungsreaktionen der übrigen Oligopolisten provoziere und daher nicht profitabel sei. Daraus folge eine Tendenz zur Angebotsverknappung aufgrund einer stillschweigenden Koordinierung des Marktverhaltens der Oligopolisten. Während die Kommission also aufgrund eines entsprechenden Erfahrungssatzes von der marktstrukturell bedingten Reaktionsverbundenheit der Oligopolisten auf ein wettbewerbswidriges Parallelverhalten geschlossen hatte, sah das EuG dies nicht als ausreichende Begründung an. Anders als die Kommission, verlangte das EuG den Nachweis, dass die Oligopolisten auch über „ausreichende Abschreckungsmittel“ im Verhältnis zueinander verfügten, um jeden von ihnen von einem Ausscheren aus dem gemeinsamen Marktverhalten abzuhalten.[162] Für diesen Nachweis genüge es nicht ohne weiteres darauf hinzuweisen, dass ein Ausscheren das sofortige Nachziehen der Konkurrenten zur Folge hat. Obwohl das Gericht der Kommission im Grundsatz ein gewisses Ermessen bei der Beurteilung des Sachverhalts einräumte,[163] hat es in diesem Fall die Beweisführung der Kommission detailliert auf ihre ökonomische Überzeugungskraft überprüft. Das Ergebnis war negativ und die Kommissionsentscheidung wurde aufgehoben.[164]

429

Aus alledem wird deutlich wo die „stärker ökonomische Betrachtungsweise“ ihren legitimen Platz hat: Nicht auf der Eben der Schutzzwecke der Wettbewerbsregeln, sondern im Sinne einer forensischen Ökonomie auf der Ebene der Sachverhaltsaufklärung und -würdigung. Dass die zutreffende ökonomische Erfassung von wettbewerblich relevanten Sachverhalten auch Rückwirkungen auf die Ebene Normsetzung (etwa die Gestaltung von Verordnungen) haben kann,[165] ist dabei keineswegs ausgeschlossen. Der Begriff „forensisch“ darf daher nicht so verstanden werden, dass er die Verwertung ökonomischer Erkenntnisse allein den Kartellbehörden und Gerichten vorbehält.

Europäisches Marktöffnungs- und Wettbewerbsrecht

Подняться наверх