Читать книгу Europäisches Marktöffnungs- und Wettbewerbsrecht - Peter Behrens - Страница 156
(6) Der „more economic approach“
ОглавлениеLiteratur:
Böge Der „more economic approach“ und die deutsche Wettbewerbspolitik, WuW 2004, 726; Schmidtchen Der „more economic approach“ in der Wettbewerbspolitik, WuW 2006, 6; Basedow Konsumentenwohlfahrt oder Effizienz, Neue Leitbilder der Wettbewerbspolitik? WuW 2007, 712; von Weizsäcker Konsumentenwohlfahrt oder Wettbewerbsfreiheit: Über den tieferen Sinn des „Economic Approach“, WuW 2007, 1078–1084; Schmidtchen Wettbewerbsfreiheit oder Effizienz? Zur Zweisamkeit von Recht und Ökonomie im Bereich der Wettbewerbspolitik, ORDO 59 (2008) 143; Mestmäcker Wettbewerb und unternehmerische Effizienz. Eine Erwiderung auf Schmidtchen, ORDO 59 (2008) 185; Schmidtchen Zum Verhältnis von Recht und Ökonomie in der Wettbewerbspolitik: Eine Erwiderung auf Mestmäcker, ORDO 60 (2009) 153; Drexl Wettbewerbsverfassung, in: Bogdandy/Bast (Hrsg.) Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge (2. Aufl. 2009) 905; Eilmansberger Verbraucherwohlfahrt, Effizienzen und ökonomische Analyse – Neue Paradigmen im europäischen Kartellrecht? ZWeR 2009, 437; Schmidt/Wohlgemuth Das Wettbewerbskonzept der EU aus Sicht der Wirtschaftswissenschaften: Wie ökonomisch ist der „more economic approach“? in: Blanke/Scherzberg/Wegner (Hrsg.) Dimensionen des Wettbewerbs (2010) 51; Immenga/Mestmäcker Der „stärker wirtschaftliche Ansatz“ in der Leitlinienpolitik der Kommission, in: Dies. (Hrsg.) Wettbewerbsrecht, Band 1/2 Teile – Kommentar zum Europäischen Kartellrecht (5. Aufl. 2012) Einl. EU D., 59; Mestmäcker/Schweitzer Europäisches Wettbewerbsrecht (3. Aufl. 2014) § 3: Wettbewerb der Unternehmen, 79 ff.
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Seit ihrem Weißbuch von 1999 über die Modernisierung der Vorschriften zur Anwendung der Art. 85 und 86 EG-Vertrag[116] [später: Art. 81 und 82 EG; jetzt: Art. 101 und 102 AEUV] propagiert die Kommission für die Europäische Wettbewerbspolitik einen „stärker wirtschaftlichen Ansatz“ (more economic approach) bei der Beurteilung unternehmerischen Verhaltens im Hinblick auf das Kartellverbot (Art. 101 AEUV) und das Verbot des Missbrauchs marktbeherrschender Stellungen (Art. 102 AEUV) sowie im Hinblick auf die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen nach der FKVO 139/2004.[117] Anders als bei der Berücksichtigung von Effizienzvorteilen im Rahmen der Legalausnahme des Art. 101 Abs. 3 AEUV (oben Rn. 397 ff.) geht es hier primär um die Berücksichtigung ökonomischer Kriterien auf der Ebene der Verbotstatbestände, dh bei der Feststellung des Vorliegens eines Wettbewerbsverstoßes. Mario Monti, der damals für die Generaldirektion Wettbewerb zuständige Kommissar, kennzeichnete in einer am 24. Oktober 2003 in New York gehaltenen Rede[118] die Wende der Kommission genauer mit den Worten: „… we have shifted from a legalistic based approach to an interpretation of the rules based on sound economic principles“. Was hier mit einem „legalistic based approach“ und mit „sound economics“ gemeint war, ergab sich mit aller Deutlichkeit aus den Empfehlungen, die in einem ausführlichen Bericht mit dem Titel „An economic approach to Article 82“ enthalten waren, den die aus Ökonomen zusammengesetzte European Advisory Group on Competition Policy (EAGCP) im Juli 2005 vorlegte[119] und in dem es hieß:
„An economics-based approach to the application of article 82 implies that the assessment of each specific case will not be undertaken on the basis of the form that a particular business practice takes (for example, exclusive dealing, tying, etc.) but rather will be based on the assessment of the anti-competitive effects generated by business behaviour. This implies that competition authorities will need to identify a competitive harm, and assess the extent to which such a negative effect on consumers is potentially outweighed by efficiency gains. The identification of competitive harm requires spelling out a consistent business behaviour based on sound economics and supported by facts and empirical evidence. Similarly, efficiencies – and how they are passed on to consumers – should be properly justified on the basis of economic analysis and grounded on the facts of each case.“
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Montis Nachfolgerin im Amt, Neelie Kroes, übernahm diese Empfehlung, indem sie in einer Rede vom 15. September 2005[120] feststellte:
„Consumer welfare is now well established as the standard the Commission applies when assessing mergers and infringements of the Treaty rules on cartels and monopolies. Our aim is simple: to protect competition in the market as a means of enhancing consumer welfare and ensuring an efficient allocation of resources. An effects-based approach, grounded in solid economics, ensures that citizens enjoy the benefits of a competitive, dynamic market economy.“
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Es geht der Kommission also nicht mehr bloß um die allgemein konsentierte abstrakte Feststellung, dass der funktionsfähige Wettbewerb die gesamtwirtschaftliche Effizienz und insbesondere die Wohlfahrt der Verbraucher fördert, sondern um die Verwendung der Konsumentenwohlfahrt als wettbewerbliches Beurteilungskriterium im konkreten Einzelfall. Seither wird über die normative Legitimation, aber auch über die wirtschaftstheoretische Fundierung des more economic approach intensiv diskutiert.[121] Allerdings sind die programmatischen Aussagen, mit denen die Kommission sich bemüht hat, die Bedeutung dieses Ansatzes in ihren Leitlinien[122] näher zu erläutern, alles andere als klar und konsistent.
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Wenn man die diversen Kommissionsleitlinien daraufhin befragt, was die Kommission dort zum „stärker wirtschaftlichen Ansatz“ ausführt, so erhält man erstaunlicher Weise eine Reihe höchst unterschiedlicher und unscharfer Antworten. Die Leitlinien geben insbesondere keine klare Auskunft über die Frage, ob sich die Kommission die Empfehlungen der EAGCP und die zitierten Äußerungen der Wettbewerbskommissare auch offiziell als programmatische Richtlinien zu Eigen gemacht hat. Bei genauer Analyse des Wortlauts sieht man sich vielmehr mit einer Reihe höchst unterschiedlicher Formulierungen konfrontiert, die eine Vielfalt von Schutzzielen und Beurteilungsmaßstäben ansprechen. Im Wesentlichen lassen sich folgende Ansätze unterscheiden: ein Ansatz, der für die Feststellung eines Wettbewerbsverstoßes in der Tat auf den „Verbraucherschaden“ abstellt (a), ein Ansatz, der auf „negative Marktwirkungen“ abstellt (b), ein Ansatz, der die „Marktmacht“ der beteiligten Unternehmen zum entscheidenden Kriterium erhebt (c), und schließlich ein Ansatz, der an der Beeinträchtigung des „Wettbewerbsprozesses“ festhält (d). Abschließend ist auf die Reaktion des EuGH auf die Vorstellungen der Kommission (e) und die eigentliche forensische Bedeutung des „stärker wirtschaftlichen Ansatzes“ einzugehen (f) sowie ein Fazit zu ziehen (g).