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(3) Offenheit der Marktstruktur (Drittschutz)
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Wie bereits die Beispiele des einseitigen Verhaltens marktbeherrschender Unternehmen oder des Zusammenschlusses von Unternehmen zeigen, ist es für die Feststellung einer Wettbewerbsbeschränkung weder erforderlich noch hinreichend, dass eine unmittelbare Beschränkung der Entscheidungsautonomie von Marktteilnehmern aufgrund einer gegenseitigen Verhaltenskoordination bezüglich des künftigen Einsatzes bestimmter Wettbewerbsparameter vorliegt. Eine solche Verhaltenskoordination ist zwar für gewisse Formen der Kartellierung typisch. Insbesondere bei vertikalen Verhaltensbindungen sowie bei einseitigem Verhalten marktbeherrschender Unternehmen oder bei Konzentrationsvorgängen geht es aber vielmehr um die Beeinträchtigung der Entscheidungsautonomie Dritter als Folge einer Verengung der Marktstruktur. Das Konzept des wirksamen Wettbewerbs schließt daher die Erwägung ein, dass das Wettbewerbsrecht auch die Funktion hat, die Marktstruktur hinreichend offenzuhalten, damit alle Marktteilnehmer hinreichende Ausweichmöglichkeiten hinsichtlich ihrer Bezugsquellen oder Vertriebswege haben und der Markzutritt potentieller Wettbewerber jederzeit möglich ist. Es geht insoweit um die Abwehr von Drittwirkungen in Gestalt von Verdrängungs- oder Marktabschottungswirkungen aufgrund von Marktmacht, die sowohl von einer horizontalen oder vertikalen Koordination als auch vom einseitigen Verhalten eines marktbeherrschenden Unternehmens oder von einem Unternehmenszusammenschluss ausgehen können. Es handelt sich insoweit nicht um einen Marktergebnistest, der auf die unmittelbaren gesamtwirtschaftlichen Effizienzwirkungen des in Frage stehenden Verhaltens abstellen würde, sondern um einen Marktstrukturtest, der sich an den Auswirkungen auf das (Interaktions-)System unverfälschten Wettbewerbs orientiert.
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Bereits im Rahmen des Verbots wettbewerbswidriger horizontaler oder vertikaler Koordinierung des Marktverhaltens von Unternehmen ist es daher in der Regel erforderlich, den Aspekt der Marktmacht und die daraus folgenden Drittwirkungen zu Lasten anderer Marktteilnehmer in die Beurteilung mit einzubeziehen.[88] Sofern Unternehmen den künftigen Einsatz bestimmter Wettbewerbsparameter bewusst zu dem Zweck koordinieren, um damit die „praktische Zusammenarbeit an die Stelle des mit Risiken verbundenen Wettbewerbs treten“ zu lassen,[89] genügt zwar die Feststellung der Selbstbeschränkung ihrer wettbewerblichen Handlungsfreiheit und Autonomie insoweit als bei den in Art. 101(1) lit. a–c AEUV beispielhaft aufgeführten Koordinationsformen die Wettbewerbswidrigkeit im Sinne einer per se-Regel, dh als abstrakte Gefährdung der Handlungsfreiheit anderer Marktteilnehmer, insbesondere der Auswahlfreiheit der Marktgegenseite, in der Regel unterstellt werden kann. Das gilt vor allem für „Kernbeschränkungen“ in der Form von Preis-, Quoten- oder Marktaufteilungsabsprachen. Bei anderen Koordinationsformen kann hingegen die Wettbewerbswidrigkeit nur aus den konkreten Marktwirkungen abgeleitet werden. Dabei muss im Einzelfall beurteilt werden, inwieweit sich die Verhaltenskoordinierung auf die systemrelevanten Wettbewerbsmöglichkeiten außenstehender Marktteilnehmer auswirkt. Diese hängen von der Marktstellung (dh der Marktmacht) der an der Verhaltenskoordinierung beteiligten Unternehmen insgesamt ab („Bündeltheorie“). Je stärker deren Stellung ist, desto größer ist die Gefahr, dass Konkurrenten der Marktzutritt erschwert oder die Auswahlfreiheit der Marktgegenseite im Hinblick auf Bezugsquellen oder Vertriebswege eingeschränkt wird. Dies gilt nicht nur für horizontale Koordinierungsformen, sondern vor allem für bestimmte Formen der vertikalen Koordinierung.[90]
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Folgerichtig macht die Kommission die Anwendung des Kartellverbots daher davon abhängig, dass je nach Inhalt der Verhaltenskoordination ein bestimmter Grad an Marktmacht erreicht wird.[91] Marktmacht wird dabei definiert als die Fähigkeit, die Preise über einen gewissen Zeitraum hinweg gewinnbringend oberhalb des Wettbewerbsniveaus oder die Produktionsmenge, Produktqualität, Produktvielfalt bzw. Innovation für einen gewissen Zeitraum gewinnbringend unterhalb des Wettbewerbsniveaus zu halten. Die Kommission hat den Aspekt der Marktmacht in Gestalt eines Kriteriums der „Spürbarkeit“ einer Wettbewerbsbeschränkung als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal im Kartellverbot selbst verankert. In der „De-minimis-Bekanntmachung“ (Bagatellbekanntmachung) von 2014[92] wird die Spürbarkeitsschwelle in der Form von Marktanteilen der betreffenden Unternehmen in Höhe von 10% (bei Horizontalbeschränkungen) bzw. 15% (bei Vertikalbeschränkungen) definiert. Allerdings sind nach der Rechtsprechung für die Spürbarkeit im Einzelfall nicht allein quantitative, sondern auch qualitative Kriterien zu berücksichtigen, die sich etwa auf die Eigenart der Wettbewerbsbeschränkung und die Marktverhältnisse insgesamt beziehen.[93]
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Am deutlichsten zeigt sich das Erfordernis der marktstrukturellen Drittwirkung in der Missbrauchskontrolle marktbeherrschender Unternehmen gem. Art. 102 AEUV. Die als missbräuchlich (wettbewerbswidrig) anzusehenden einseitigen Praktiken eines solchen Unternehmens haben entweder eine Marktausschluss- bzw. Marktabschottungswirkung zu Lasten von aktuellen oder potentiellen Konkurrenten oder eine Ausbeutungswirkung zu Lasten von Unternehmen auf der nachgelagerten oder vorgelagerten Marktstufe. In beiden Fallkonstellationen geht es darum, dass das marktbeherrschende Unternehmen die Wettbewerbsspielräume Dritter – und in diesem Sinne ihre wettbewerbliche Handlungsfreiheit bzw. Auswahlfreiheit – aktuell oder potentiell beschränkt. Dabei ist für das Urteil der Wettbewerbswidrigkeit auch hier der Systembezug unerlässlich: Entscheidend ist nämlich, ob die für die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbssystems erhebliche Freiheit und Autonomie anderer Marktteilnehmer im Hinblick auf deren künftigen Einsatz von Wettbewerbsparametern bzw. auf deren Freiheit der Wahl zwischen Angebotsalternativen durch eine Verengung der Marktstruktur zu Lasten des noch verbleibenden Restwettbewerbs übermäßig eingeschränkt zu werden droht. Es geht also auch insoweit nicht um den Schutz anderer Marktteilnehmer als solchen, sondern sie werden wegen ihrer Systemrelevanz geschützt.
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In diesem Sinne ist schließlich auch die Fusionskontrolle gem. Art. 2 FKVO daran ausgerichtet, dass schon der abstrakten Gefährdung des wirksamen Wettbewerbs durch die Entstehung oder Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung vorgebeugt wird. Auch insoweit geht es um den Schutz einer Marktstruktur, die den Wettbewerb als Interaktionssystem für Konkurrenten und Abnehmer bzw. Anbieter hinreichend offenhält, damit ihnen die Handlungsspielräume verbleiben, die für die Funktionsfähigkeit dieses Systems erforderlich sind. Die Wettbewerbswidrigkeit eines Unternehmenszusammenschlusses ist also ebenfalls nach seinen Drittwirkungen zu beurteilen.