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a. Ausgangspunkt

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Über die rechtliche Maßgeblichkeit der unterschiedlichen wettbewerbstheoretischen und -politischen Kriterien zur Beurteilung von unternehmerischen Wettbewerbsbeschränkungen entscheiden ausschließlich die geltenden Wettbewerbsregeln. Ökonomische Einsichten in die für Wettbewerbsmärkte charakteristischen Zusammenhänge zwischen Marktverhalten, Marktstruktur und Marktergebnis sind für die Rechtsanwendung nur in dem Maße relevant, wie sie im Wettbewerbsrecht auch normative Geltung erlangt haben. Die Wettbewerbsregeln erfassen nicht jede beliebige Beschränkung des Wettbewerbs, sondern nur solche, die durch rechtlich definierte Formen des Verhaltens von Marktteilnehmern herbeigeführt werden. Nun handelt es sich bei den Wettbewerbsregeln – gleichviel ob es um das Kartellverbot, das Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung oder um die Kontrollmaßstäbe für Unternehmenszusammenschlüsse geht – um Generalklauseln, die in hohem Maße konkretisierungsbedürftig sind. Dies bedeutet, dass im Prinzip durchaus unterschiedliche Ansätze zur wettbewerblichen Beurteilung unternehmerischen Verhaltens von den Wettbewerbsregeln gedeckt sein können; aber es gibt Grenzen.

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Schon aus der Tatsache, dass es bei der Umsetzung von Wettbewerbspolitik um Rechtsanwendung geht, ergeben sich gewisse generelle Restriktionen. Die Anwendung von Rechtsnormen lässt sich nicht ausschließlich auf den Vollzug bestimmter ökonomischer Ansätze reduzieren, sondern sie unterliegt zugleich der Eigengesetzlichkeit des Rechts und seiner Anwendung. Sie verlangt zum einen ein Mindestmaß an Rechtssicherheit, ohne die das Recht keine verhaltenssteuernde Wirkung entfalten kann. Zum anderen erfordert sie die praktische Handhabbarkeit der Rechtsregeln, insbesondere was den Informations- und Zeitaufwand betrifft, der für die Subsumtion eines bestimmten unternehmerischen Verhaltens unter die Tatbestandsmerkmale einer Wettbewerbsregel erforderlich ist. Diese beiden Aspekte setzen der Komplexität der Rechtsanwendung Grenzen.[68] Sie rechtfertigen einerseits den Verzicht auf eine umfassende Einzelfalluntersuchung der komplexen und in der Regel unüberschaubaren gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrtswirkungen des zu beurteilenden unternehmerischen Verhaltens, zumal sich diese Wirkungen in der Regel des unmittelbaren empirischen Zugriffs – und damit der Beweisbarkeit vor Gericht – entziehen. Andererseits rechtfertigen sie selbstverständlich nicht den Verzicht auf eine ökonomische Analyse des für die wettbewerbliche Beurteilung eines bestimmten Verhaltens relevanten konkreten wirtschaftlichen und rechtlichen Entstehungs- und Wirkungszusammenhangs im oben erläuterten Sinne einer Kontextanalyse wie sie auch vom EuGH verlangt wird.[69] Das ist aber etwas anderes als eine Analyse gesamtwirtschaftlicher Effizienzen.[70] Die ökonomische Analyse der Wirkungszusammenhänge kann sich jedoch nur auf die Umstände beziehen, die im Kenntnis- und Erfahrungsbereich der Unternehmen liegen, deren Verhalten zu beurteilen ist.[71] Auch können nur diese Umstände den Unternehmen im Rechtssinne zugerechnet werden. Die Frage der Zurechenbarkeit ist rechtlich von besonderer Bedeutung, wenn es um die Sanktionierung eines für wettbewerbswidrig befundenen Verhaltens geht.

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Die Rechtsanwendung ist daher auch im Bereich des Wettbewerbsrechts nur unter der Bedingung unvollkommener Information über die gesamtwirtschaftlichen Zusammenhänge möglich. Unwerturteile beruhen im Wettbewerbsrecht auf Wahrscheinlichkeitsurteilen.[72] Bei der Konkretisierung der unionsrechtlichen Wettbewerbsregeln ist somit in Rechnung zu stellen, dass das Risiko zweier Arten von Entscheidungsfehlern besteht: ein bestimmtes Marktverhalten kann irrtümlich als wettbewerbswidrig sanktioniert werden, obwohl es legitimer Ausdruck wettbewerblichen Verhaltens ist (Fehlertyp I: false positive, dh die der Entscheidung zugrundeliegende Wettbewerbsregel ist zu weit gefasst); oder das Marktverhalten kann als wettbewerbskonform qualifiziert werden, obwohl es den Wettbewerb schädigt (Fehlertyp II: false negative, dh die der Entscheidung zugrundeliegende Wettbewerbsregel ist zu restriktiv gefasst). Aus wohlfahrtsökonomischer Sicht würde man nun versuchen, die jeweiligen Kosten alternativer Formulierungen einer bestimmten Wettbewerbsregel gegeneinander abzuwägen. Gegenübergestellen lassen sich zum einen die im Fall eines Fehlers des Typs I (dh im Fall des unberechtigten Einschreitens gegen ein wettbewerbskonformes Verhalten) entstehenden Kosten, die in der Unterdrückung der wohlfahrtssteigernden Wirkungen des fraglichen Verhaltens bestehen, und zum anderen die im Fall eines Fehlers des Typs II (dh im Fall des Nichteinschreitens gegen ein wettbewerbswidriges Verhalten) entstehenden Kosten, die in den wohlfahrtsmindernden Wirkungen dieses Marktverhaltens bestehen.[73] In der Realität entziehen sich diese Kosten der Quantifzierbarkeit.

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Das Irrtumsrisiko, dem wettbewerbsrechtliche Entscheidungen ausgesetzt sind, hängt vom jeweiligen Inhalt der Normen ab und von der Eigenart des wettbewerbswidrigen Verhaltens, das mit ihrer Hilfe bekämpft werden soll. So ist etwa das Verbot von Preisabsprachen unter Konkurrenten vergleichsweise treffsicher, weil es kaum Zweifel geben kann, dass damit der Wettbewerb zum Nachteil der Abnehmer beschränkt wird. Andererseits kann beispielsweise die Beurteilung der wettbewerblichen Auswirkungen bestimmter Rabattgestaltungen, die von marktbeherrschenden Unternehmen angewendet werden, problematisch sein. Die Feststellung einer Verdrängungswirkung zu Lasten von Wettbewerbern kann eine intensive Kontextanalyse erfordern.[74]

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Dem wird im Wettbewerbsrecht durch zwei unterschiedliche Regelungsansätze Rechnung getragen. Es gibt zum einen sog. „per se“-Regeln, die dadurch gekennzeichnet sind, dass ein bestimmtes wegen seines wettbewerbsrelevanten Bezugspunktes generell als wettbewerbswidrig anzusehendes Verhalten tatbestandlich eindeutig und abschließend umschrieben wird. Für die Feststellung der Wettbewerbswidrigkeit im Einzelfall genügt dann die bloße Feststellung, dass das fragliche Marktverhalten „formal“ die Charakteristika aufweist, die tatbestandlich definiert sind. Auf eine Analyse der konkreten Auswirkungen des Verhaltens im Einzelfall kommt es dann nicht mehr an. Es handelt sich vor allem um Fälle, in denen es um die Beschränkung der wettbewerblichen Handlungsautonomie im Verhältnis von Konkurrenten untereinander geht, deren Zweck sich gerade in der Beschränkung der Rivalität unter ihnen erschöpft (Beispiele: Preisabsprachen, Quotenkartelle, Marktaufteilungen). Es steht außer Zweifel, dass solche Formen der Koordination des Marktverhaltens die Auswahlfreiheit der Abnehmer einschränken. Aber auch die Bewertung bestimmter einseitiger Verhaltensweisen marktbeherrschender Unternehmen folgt zuweilen diesem Regelungsmuster (Beispiel: Rabattgestaltungen, die in ihren Wirkungen einer exklusiven Bezugsbindung gleichkommen). Die Charakterisierung dieses Regelungsansatzes als „formalistisch“ (form based) im Gegensatz zu „wirkungsbezogen“ (effects based) wäre jedoch verfehlt. Denn auch „per se“-Regeln beruhen auf ökonomischen Wirkungsanalysen, die allerdings für die betreffenden Verhaltensweisen generalisierbar sind und keiner Überprüfung im Einzelfall mehr bedürfen.

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Dem stehen zum anderen Regeln gegenüber, die sich auf Verhaltensweisen beziehen, deren Wettbewerbswidrigkeit nur aufgrund einer Auswertung des gesamten wirtschaftlichen und rechtlichen Entstehungs- und marktstrukturellen Wirkungszusammenhangs unter Berücksichtigung der Besonderheiten des jeweiligen Marktes festgestellt werden kann. Es geht insoweit also um Verhaltensweisen, deren wirtschaftliche Wirkungen nicht eindeutig sind, so dass sich generalisierende Aussagen über ihre Wettbewerbswidrigkeit verbieten. Hier bedarf es vielmehr einer sog. Kontextanalyse im Sinne der Berücksichtigung aller relevanten Umstände des Einzelfalles. Zu diesen Umständen gehören dann nicht nur die wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen, sondern auch etwaige wettbewerbsfördernde Wirkungen einschließlich etwaiger Effizienzgewinne. Dieser Ansatz schlägt sich allerdings in durchaus unterschiedlichen positivrechtlichen Regelungsstrukturen nieder: Die amerikanische Rechtsprechung zum Kartellverbot des Sherman Act von 1890[75] hat im Hinblick auf bestimmte Verhaltensweisen das Verbot selbst mit Hilfe des Kriteriums der „reasonableness“ eingeschränkt und damit eine dem Kartellverbot selbst immanente Tatbestandsrestriktion entwickelt. Demgemäß werden im Rahmen des Verbotstatbestandes „per se rules“ und „rules of reason“ unterschieden.[76] In das Kartellverbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV ist demgegenüber keine derartige Tatbestandsrestriktion hineininterpretiert worden, weil etwaige positive Wirkungen einer Wettbewerbsbeschränkung gesondert im Rahmen des Freistellungstatbestands des Art. 101 Abs. 3 AEUV zu prüfen sind. Auch das Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung (Art. 102 AEUV) ist vergleichbar strukturiert (siehe dazu Rn. 1117 f.). Die Feststellung der Wettbewerbswidrigkeit ist somit im Unionsrecht selbst dann zunächst einmal unabhängig von einer Abwägung gegen etwaige positive Effizienzwirkungen, wenn sie nur aufgrund einer ausführlichen Kontextanalyse möglich ist. Dies steht nicht im Widerspruch zum Grundsatz der „integralen Anwendung“ von Art. 101 Abs. 1 und Abs. 3 AEUV (siehe dazu unten Rn. 753, 848).

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Der Gegensatz zwischen den beiden möglichen Regelungsansätzen ist somit allenfalls ein gradueller: Selbstverständlich geht auch der Formulierung von per se-Regeln stets eine ökonomische Wirkungsanalyse der jeweiligen Verhaltensweisen voraus, bevor sie als abstrakte Gefährdungstatbestände normiert werden können. Es gilt schon bei der Formulierung der Regel zu verhindern, dass auch legitime unternehmerische Wettbewerbsstrategien von solchen Normen erfasst werden. Und umgekehrt ist auch im Rahmen von Regeln, deren Anwendung eine sorgfältige einzelfallbezogene Kontextanalyse voraussetzt (und erst recht im Rahmen einer rule of reason) unvermeidlich, dass sich die Analyse der konkreten wettbewerblichen Wirkungen eines unternehmerischen Verhaltens im Interesse der Rechtssicherheit und der Handhabbarkeit in Grenzen hält. Gewisse Pauschalierungen und Wahrscheinlichkeitsurteile sind auch bei konkreten Gefährdungstatbeständen unerlässlich. Letztlich geht es daher stets darum, bei der Formulierung von Wettbewerbsregeln und bei deren Anwendung (dh Konkretisierung) einen Kompromiss zu finden zwischen Rechtssicherheit für die Normadressaten und Treffsicherheit hinsichtlich der Erfassung von Wettbewerbsbeschränkungen. Wie diese Kompromisse im Rahmen des Unionsrechts aussehen, lässt sich nicht generalisierend nach Fallgruppen, sondern nur anhand der konkreten Auslegung und Anwendung der Wettbewerbsregeln durch die Unionsorgane bestimmen.

Europäisches Marktöffnungs- und Wettbewerbsrecht

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