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2. Rahmenbedingungen
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Die wettbewerbspolitische und -rechtliche Beurteilung des Verhaltens der Marktteilnehmer (dh der Unternehmen) hat zur Voraussetzung, dass eine Beschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs (im Sinne eines Prozesses des Rivalisierens von Konkurrenten bzw. im Sinne eines offenen Interaktionssystems) ihre Ursache nicht bereits in den Rahmenbedingungen hat. Insofern kommt vor allem die staatliche Wirtschafts- und Regulierungspolitik als Auslöser von Beschränkungen und Verzerrungen des Wettbewerbs (genauer: der wirtschaftlichen Handlungsautonomie der Marktteilnehmer) in Betracht, die nicht den Marktteilnehmern selbst zugerechnet werden können.[39] Der Staat kann durch rechtliche oder tatsächliche Maßnahmen Märkte abschotten bzw. den Marktzutritt erschweren (Beispiel: tarifäre Beschränkungen des Außenhandels oder Maßnahmen gleicher Wirkung). Monopole können durch die Einräumung von Ausschließlichkeitsrechten zugunsten bestimmter Unternehmen geschützt und der Wettbewerb auf diese Weise schon von Rechts wegen verhindert werden (Beispiel: Ausschluss von Wettbewerb im Hinblick auf die Erbringung von Leistungen der Daseinsvorsorge). Ferner kann der Staat den Marktzutritt von Unternehmen an die Erfüllung bestimmter rechtlicher Voraussetzungen knüpfen, die als Wettbewerbsbeschränkungen wirken (Beispiel: staatliche Genehmigungsvorbehalte im Hinblick auf die Aufnahme bestimmter gewerblicher Aktivitäten). Durch diskriminierende wirtschaftspolitische Maßnahmen kann der Staat im Übrigen verhindern, dass alle Marktteilnehmer unter gleichen Bedingungen miteinander konkurrieren (Beispiel: Subventionierung einzelner Unternehmen oder Wirtschaftszweige). Ebenso kann der Staat als Nachfrager im Rahmen der Beschaffungstätigkeit der öffentlichen Hände durch diskriminierende Auswahl seiner Lieferanten den Wettbewerb verzerren (Beispiel: Verwendung vergaberechtlicher Kriterien, die bestimmte Unternehmen begünstigen). Schließlich kann der Staat durch rechtliche Regelung des unternehmerischen Marktverhaltens seine Entscheidungen an die Stelle der Unternehmensentscheidungen setzen (Beispiel: staatliche Preisregulierung).
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Das Unionsrecht reagiert auf solche staatlichen Wettbewerbsbeschränkungen mit besonderen staatsgerichteten Instrumenten. Sie sind teils in den wirtschaftlichen Binnenmarktfreiheiten enthalten, die der Marktöffnung durch Beseitigung staatlicher Marktzutrittsschranken dienen (siehe dazu oben Rn. 117 ff.), teils in der Beihilfenkontrolle, die den Subventionswettbewerb unter den Mitgliedstaaten beseitigen soll, weil er den Leistungswettbewerb der Unternehmen auf den Produktmärkten verzerrt (siehe dazu unten Rn. 1528 ff.), teils im gemeinschaftlichen Vergaberecht, das Diskriminierungen im öffentlichen Beschaffungswesen verhindern soll (siehe dazu unten Rn. 1713 ff.).
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Nach einer extremen Variante der evolutionstheoretischen (systemtheoretischen) Auffassung, die den Wettbewerb als zukunftsoffenen Entdeckungsprozess betrachtet,[40] und dabei das gesamte Wirtschaftssystem als einen Markt begreift,[41] soll es wettbewerbspolitisch allein darauf ankommen zu verhindern, dass der Wettbewerb nicht durch staatliche Beschränkungen beeinträchtigt wird. Entscheidend ist danach allein die wettbewerbskonforme Ausgestaltung der Rahmenbedingungen. Die nur ausschnittsweise Betrachtung einzelner Segmente des wettbewerblichen Gesamtsystems, insbesondere die Herauslösung einzelner Märkte aus dem Gesamtmarkt, wird hiernach abgelehnt, weil aus der Sicht von Konsumenten mit begrenztem Budget streng genommen alle Güter und Leistungen miteinander in Wettbewerb stehen (Bruttosubstitutionsprinzip). Abgelehnt wird daher auch die Sanktionierung einzelner unternehmerischer Verhaltensweisen als wettbewerbswidrig, weil sie bei wettbewerbskonformen Rahmenbedingungen nach dieser Auffassung stets als Ausdruck des Wettbewerbs und nicht als Beschränkungen desselben interpretiert werden müssen.[42] Was im Falle der Einzelbetrachtung als Wettbewerbsbeschränkung erscheint, kann hiernach in seinen Wirkungen nicht isoliert betrachtet werden und hat im Laufe der Fortentwicklung des Gesamtsystems langfristig ohnehin keinen Bestand. So werden Monopole im Laufe der Zeit ohnehin durch Innovation unterminiert und Kartelle zerfallen auf längere Sicht aufgrund des individuellen profitmaximierenden Verhaltens seiner Mitglieder von selbst. Daher ist nach diesem Ansatz nur eine Gesamtbetrachtung des wettbewerblichen Systems angemessen. Wettbewerbspolitisch motivierte Verbote einzelner unternehmerischer Verhaltensweisen sind aus dieser Perspektive nichts anderes als Eingriffe in das wettbewerbliche Entdeckungsverfahren, die sich nicht legitimieren lassen, weil sie ein Wissen über die Ausprägungen und die Ergebnisse dieses Entdeckungsverfahrens voraussetzen, das allein der Wettbewerb erst hervorbringen kann. Von diesem Standpunkt aus sollte der Wettbewerbsprozess daher sich selbst überlassen werden. Dieser Ansatz folgt offenkundig einer sehr langfristigen Perspektive und vertraut auf die Evolution in historischen Zeiträumen.
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Eine Wettbewerbspolitik, die den Schutz vor Wettbewerbsbeschränkungen durch Unternehmen zum Gegenstand hat und demgemäß bestimmte für wettbewerbswidrig erklärte Verhaltensweisen verbietet und sanktioniert, geht aber ersichtlich von einer kurzfristigeren Perspektive aus. Sie beruht auf der Prämisse, dass die Aufgabe nicht allein darin bestehen kann, die staatlichen Rahmenbedingungen für ein wettbewerbliches Gesamtsystem zu sichern. Sie beruht vielmehr auf der Annahme, dass es nicht nur gewissermaßen einen Totalmarkt gibt, auf dem sämtliche angebotenen und nachgefragten Produkte und Leistungen miteinander in Wettbewerb stehen, sondern dass sich auch Teilmärkte sehr wohl sinnvoll abgrenzen lassen und abgegrenzt werden müssen, auf denen die Unternehmen über Möglichkeiten verfügen, die Bedingungen, unter denen sie miteinander konkurrieren, negativ zu beeinflussen und zu verändern. Davon bleibt die Einsicht unberührt, dass der Wettbewerb als ein Entdeckungsverfahren begriffen werden muss, das auf der Grundlage individueller Handlungsautonomie die Suche nach effizienten Lösungen ermöglicht und antreibt. Ausgangspunkt der Wettbewerbspolitik ist aber im Gegensatz zum streng evolutions- bzw. systemtheoretischen Ansatz die Überzeugung, dass es legitim ist, nicht abzuwarten bis etwaige Beschränkungen oder Verfälschungen des so verstandenen Wettbewerbs durch die Unternehmen im langfristigen Entwicklungsprozess des Gesamtsystems überwunden werden. Vielmehr sollten solche Wettbewerbsbeschränkungen auch kurzfristig mit den Mitteln des Wettbewerbsrechts (dh durch staatliche Interventionen) bekämpft werden. Vor diesem Hintergrund stellt sich aber unausweichlich die Frage nach dem angemessenen Maßstab für die Feststellung von Wettbewerbsbeschränkungen.