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1. Relativierung des Rationalitätsaxioms
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Die bisher vorgestellte mikroökonomische Analyse des Marktverhaltens von Unternehmen basiert weitgehend auf der traditionellen „neoklassischen“ Wohlfahrtstheorie, die ihren modellhaften Ableitungen die Annahme zugrunde legt, dass das Handeln aller Marktteilnehmer zielgerichtet an der Profitmaximierung orientiert ist (Rationalitätsaxiom), dass es auf der optimalen Verarbeitung aller relevanten Informationen beruht, und dass Markttransaktionen nicht mit besonderen Kosten verbunden sind (insgesamt: Modell des homo oeconomicus). Nur auf der Basis dieser Axiome lassen sich die einzelwirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Kalküle, die sowohl der Analyse des unternehmerischen Entscheidungsverhaltens als auch der Auswirkungen unterschiedlicher Marktformen (Marktstrukturen) auf dieses Verhalten zugrunde liegen, logisch konsistent ableiten. Nur unter der Geltung dieser Annahmen sind nämlich Marktteilnehmer in der Lage, sich so zu verhalten wie es die neoklassische Ökonomie von ihnen im Hinblick auf optimale (effiziente) Investitions-, Produktions- und Absatzentscheidungen erwartet. Nur auf der Grundlage des Modells des homo oeconomicus ist die neoklassische ökonomische Theorie daher auch in der Lage, die gesamtwirtschaftliche Effizienz aus der Effizienz des einzelwirtschaftlichen Handelns der Unternehmen abzuleiten.
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Der neoklassische Ansatz blendet allerdings im Interesse der Stringenz seiner Ableitungen wesentliche Aspekte des tatsächlichen Verhaltens von Marktteilnehmern aus. Das ist legitim, wenn es darum geht, modellhaft grundlegende Wirkungszusammenhänge zu verstehen, die das Verhalten von Unternehmen auf Märkten bestimmen. Die neoklassische Theorie hat auf diesem Wege eindrucksvolle Erkenntnisse hervorgebracht. Und die Prognosekraft des Modells ist durchaus beachtlich. Allerdings muss Klarheit darüber bestehen, dass die Prognosen, die aufgrund des neoklassischen Ansatzes möglich sind, den Charakter statistischer Durchschnittsvorhersagen haben. Es handelt sich um abstrakte Mustervoraussagen, die sich nicht auf bestimmte Ergebnisse unternehmerischen Handelns im einzelnen Fall erstrecken. Die Folgen eines konkreten Marktverhaltens hängen vielmehr von der Gesamtheit der über den Markt vermittelten Reaktionen und Interaktionen aller Marktteilnehmer ab. Wenn aber der neoklassische Ansatz ungeeignet ist, um die konkreten Wirkungen des Marktverhaltens eines bestimmten Unternehmens und die mit diesem Verhalten verfolgten unternehmerischen Zwecke einzuschätzen,[22] dann ist dafür ein umfassenderer Ansatz erforderlich, der auch Bestimmungsfaktoren unternehmerischen Verhaltens einbezieht, die realitätsnäher sind. Ein solcher Ansatz ist zwar notwendigerweise weniger stringent als ein neoklassisches Modell. Für das Verständnis des tatsächlichen Verhaltens von Unternehmen auf Wettbewerbsmärkten, um dessen wettbewerbliche Beurteilung es geht, ist er aber wesentlich angemessener und deshalb unverzichtbar. Neuere ökonomische Forschungsrichtungen haben sich um die Erkenntnis der tatsächlichen Bestimmungsfaktoren des menschlichen Verhaltens und um Konzepte für deren Bewältigung durch rechtliche Institutionen bemüht. Die bisherigen Ergebnisse dieser Bemühungen sind für das Verständnis des Wettbewerbsverhaltens von Marktteilenehmern und damit für die Formulierung und Anwendung der Wettbewerbsregeln von fundmentaler Bedeutung.