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(2) Handlungsfreiheit (Selbstständigkeitspostulat)

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Der EuGH ist bisher ausdrücklich von der individuellen wirtschaftlichen Handlungsfreiheit der Marktteilnehmer (im Sinne ihrer Selbstständigkeit bzw. Entscheidungsautonomie) als einer Voraussetzung des wirksamen Wettbewerbs ausgegangen. Ein Grundgedanke der Wettbewerbsregeln besteht nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nämlich darin,

„dass jeder Unternehmer selbstständig zu bestimmen hat, welche Geschäftspolitik er auf dem Gemeinsamen Markt zu verfolgen gedenkt“.[81]

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Dieses Erfordernis unternehmerischer Autonomie gilt stets für beide Seiten des Marktes, dh sowohl für Anbieter im Hinblick auf den künftigen Einsatz bestimmter Wettbewerbsparameter im Wettbewerb um die Gunst der Nachfrager, als auch für die Nachfrager im Hinblick auf die Auswahl zwischen verschiedenen Angeboten.[82] Produzenten- und Konsumentensouveränität sind die notwendige Bedingung dafür, dass das Wettbewerbsverhalten der Marktteilnehmer im System horizontaler und vertikaler Beziehungen die erwünschten Wohlfahrtswirkungen hat. Entscheidend ist insofern der dynamische Charakter dieses Systems im Sinne eines Entdeckungsverfahrens, dessen Erfolg davon abhängt, dass die Marktteilnehmer im Rahmen der rein ökonomischen Zwänge, die vom Wettbewerbssystem als solchen ausgehen, frei sind, nach den für sie jeweils besten Lösungen zu suchen. Weil der Prozess des Rivalisierens auf der Handlungsfreiheit im Sinne der Autonomie der Marktteilnehmer beruht, muss der wettbewerbsrechtliche Schutz gerade dieser Handlungsfreiheit gelten. Das gilt für die Freiheit der Anbieter bezüglich der Wahl der geeigneten Wettbewerbsparameter ebenso wie für die Freiheit der Auswahl von Bezugsquellen seitens der Nachfrager. Im Interesse der Funktionsfähigkeit des Systems unverfälschten Wettbewerbs unterbinden die Wettbewerbsregeln daher die Beschränkung der Autonomie von Marktteilnehmern. Diese Autonomie ist konstitutiv für das System und sie wird gerade wegen dieser Systemrelevanz unter den Schutz des Wettbewerbsrechts gestellt. So hat auch der EuGH ausdrücklich betont, dass die Wettbewerbsregeln nicht nur die Interessen von Wettbewerbern und Verbrauchern schützen, sondern auch „die Struktur des Markts und damit den Wettbewerb als solchen“.[83]

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Art. 101 Abs. 1 AEUV verbietet deshalb zunächst einmal die wettbewerbsbeschränkende Koordinierung des Marktverhaltens durch „Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen“, mit denen sich die Marktteilnehmer selbst ihrer Wettbewerbsfreiheit begeben würden. So führt die Kommission etwa in ihren Leitlinien zu Art. 81(3) EG [jetzt: Art. 101(3)] aus:[84]

„In den Anwendungsbereich des Art. 81 Absatz 1 [jetzt: Art. 101 Absatz 1] fällt die Art von abgestimmten Verhaltensweisen oder kollusivem Zusammenspiel zwischen Unternehmen, wenn mindestens ein Unternehmen sich gegenüber einem anderen Unternehmen zu einem bestimmten Marktverhalten verpflichtet, oder wenn in Folge von Kontakten zwischen Unternehmen die Ungewissheit über ihr Marktverhalten beseitigt bzw. zumindest erheblich verringert wird. Hieraus folgt, dass abgestimmte Verhaltensweisen sowohl die Form von Verpflichtungen annehmen können, als auch die Form von Vereinbarungen, welche das Marktverhalten durch die Veränderung der Anreize von mindestens einer Partei beeinflussen.“

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Der Schutz der Wettbewerbsfreiheit im Sinne der Entscheidungsautonomie gilt für alle Marktteilnehmer auf allen Marktstufen. So hat der EuGH 1966 in seiner grundlegenden Entscheidung im Fall Consten und Grundig ausgeführt:[85]

„Der Grundsatz der Wettbewerbsfreiheit gilt für alle Wirtschaftsstufen und für alle Erscheinungsformen des Wettbewerbs. Der Wettbewerb zwischen Herstellern mag zwar im allgemeinen augenfälliger in Erscheinung treten als der zwischen Verteilern von Erzeugnissen einer und derselben Marke. Dies bedeutet aber nicht, dass eine Vereinbarung, die den Wettbewerb zwischen solchen Verteilern beschränkt, schon deswegen nicht unter das Verbot des Artikels 85 Absatz 1 [jetzt: 101 Absatz 1 AEUV] fiele, weil sie den Wettbewerb zwischen Herstellern möglicherweise verstärkt.“

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Dies bedeutet, dass sich das Verbot wettbewerbwidriger Koordinierungen des Marktverhaltens nicht nur gegen das „kollusive Zusammenspiel“ von Marktteilnehmern richtet, die miteinander in Wettbewerb stehen (horizontale Koordination), sondern auch gegen die Koordinierung des Marktverhaltens von Marktteilnehmern, die auf unterschiedlichen Wirtschaftsstufen tätig sind (vertikale Koordination) und die daher zwar insoweit nicht miteinander, aber sehr wohl mit dritten Marktteilnehmern der jeweiligen Wirtschaftsstufe in Wettbewerb stehen.

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Der Schutz des Systems unverfälschten Wettbewerbs wäre nun allerdings höchst unvollkommen, wenn die Wettbewerbsregeln nur die Formen der direkten Beschränkung der Wettbewerbsfreiheit durch die Marktteilnehmer selbst erfassen würden. Vielmehr sind auch die Formen einer indirekten Beschränkung der Wettbewerbsfreiheit zu berücksichtigen, bei denen außenstehende dritte Marktteilnehmer in der Wahrnehmung ihrer Handlungsautonomie behindert werden. So geht das Unionsrecht in Art. 102 AEUV davon aus, dass eine Wettbewerbsbeschränkung im Sinne einer Beschränkung der Wettbewerbsfreiheit auch aus dem einseitigen Verhalten marktbeherrschender Unternehmen resultieren kann, soweit es dabei um die Beeinträchtigung der Wettbewerbsfreiheit Dritter (Konkurrenten oder Abnehmer) geht. Die Existenz marktbeherrschender Stellungen oder Monopolstellungen wird grundsätzlich akzeptiert, sofern sie das legitime Ergebnis des Leistungswettbewerbs sind. Nach den Worten des EuGH[86] beinhaltet die Feststellung einer marktbeherrschenden Stellung

„für sich allein keinen Vorwurf gegenüber dem betreffenden Unternehmen, sondern bedeutet nur, dass dieses unabhängig von den Ursachen dieser Stellung eine besondere Verantwortung dafür trägt, dass es durch sein Verhalten einen wirksamen und unverfälschten Wettbewerb auf dem Gemeinsamen Markt nicht beeinträchtigt.“

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Die Erlangung von Marktbeherrschung ist nämlich eine wesentliche Antriebskraft für den Wettbewerb. Diesen Anreiz darf das Wettbewerbsrecht nicht beseitigen, indem es die in diesem Sinne erfolgreichen Unternehmen sanktioniert. Im Gegenteil: auch die wettbewerbliche Handlungsfreiheit eines marktbeherrschenden Unternehmens ist grundsätzlich geschützt. Daher ist es auch einem marktbeherrschenden Unternehmen nicht verwehrt, mit legitimen Mitteln (insbesondere der Vertragsgestaltung) Strategien zu entwickeln, um Transaktionskosten zu minimieren oder die unvermeidlichen Informationsunvollkommenheiten und Erwartungsunsicherheiten zu überwinden. Diese Handlungsfreiheit wird von einem marktbeherrschenden Unternehmen aber dann wettbewerbswidrig „missbraucht“, wenn es sich bestimmter Strategien bedient, durch die Wettbewerber auf derselben oder einer vor- oder nachgelagerten Wirtschaftsstufe in ihren Wettbewerbsmöglichkeiten bzw. Abnehmer in ihren Auswahlmöglichkeiten behindert oder gar vom Markt ausgeschlossen werden. Zwar genießen Konkurrenten keinen Schutz vor wirtschaftlichem Misserfolg am Markt. Nachteile aufgrund der höheren Leistungsfähigkeit eines marktbeherrschenden Unternehmens sind hinzunehmen. Bestimmte Strategien eines marktbeherrschenden Unternehmens können jedoch nicht mehr als „Leistungswettbewerb“ angesehen werden, sondern nur als gezielte Maßnahmen zur Verdrängung anderer Wettbewerber vom Markt bzw. zur Verhinderung des Neueintritts potentieller Wettbewerber in den Markt. Solche Strategien („Behinderungsmissbräuche“ bzw. „Ausbeutungsmissbräuche“) nehmen den betroffenen Wettbewerbern die Möglichkeit, selbstständig entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu entscheiden, ob sie im Markt bleiben bzw. in den Markt eintreten. Vielmehr wird ihnen die Entscheidung, aus dem Markt auszuscheiden bzw. nicht in den Markt einzutreten unter Umständen vom Marktbeherrscher aufgedrängt. In diesem Sinne werden sie hinsichtlich der autonomen Ausnutzung ihrer Handlungsspielräume wettbewerbswidrig behindert. Auch insoweit geht es also um den Schutz der Wettbewerbsfreiheit von Marktteilnehmern als Funktionsvoraussetzung des Systems.

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Schließlich kontrolliert das Unionsrecht auf der Grundlage der FKVO[87] schon die Entstehung marktbeherrschender Stellungen, sofern sie nicht das Ergebnis des Erfolges auf den Produkt- bzw. Dienstleistungsmärkten (also von „internem“ Unternehmenswachstum) sind, sondern das Resultat von Unternehmenszusammenschlüssen (dh von „externem“ Unternehmenswachstum). Die Fusionskontrolle soll schon der abstrakten Gefährdung des Wettbewerbssystems und der ihm zugrundeliegenden Wettbewerbsfreiheit der Marktteilnehmer vorbeugen. Diese Gefährdung resultiert allerdings typischerweise nicht allein aus der unmittelbaren Beseitigung der wettbewerblichen Rivalität zwischen den Fusionspartnern, sondern aus einer Verengung der Marktstruktur, welche die Konsequenz der Entstehung oder Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung ist. So gehört zu den Kriterien, die gem. Art. 2 FKVO bei der wettbewerblichen Beurteilung eines Unternehmenszusammenschlusses relevant sind, insbesondere auch der potentielle Wettbewerb, der auf der Möglichkeit von Außenseitern basiert, in den Markt ohne Behinderung von Marktzutrittsschranken einzutreten. Ebenso geht es um die Möglichkeit von Anbietern oder Nachfragern, auf den vor- oder nachgelagerten Märkten als Zulieferer bzw. Abnehmer zwischen verschiedenen Alternativen zu wählen. Im Falle der Beeinträchtigung solcher durch die Marktstruktur vermittelten Freiheiten ist ein Unternehmenszusammenschluss bedenklich.

Europäisches Marktöffnungs- und Wettbewerbsrecht

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