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(5) Effizienzvorteile (Legalausnahme)
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Nach Art. 101 Abs. 3 AEUV iVm Art. 1 KartellVO 1/2003[104] sind wettbewerbswidrige Formen der Koordinierung des unternehmerischen Marktverhaltens vom Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV ausgenommen, wenn sie bestimmte wirtschaftliche Vorteile mit sich bringen, die auch dem Verbraucher zu Gute kommen. Verlangt werden „Verbesserungen der Warenerzeugung oder -verteilung“ oder die „Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts“. Diese Vorteile werden gemeinhin als Effizienzvorteile angesehen. Auch im Rahmen des Verbots missbräuchlichen Verhaltens marktbeherrschender Unternehmen sowie der Fusionskontrolle wird die Berücksichtigung von Effizienzvorteilen relevant (vgl. Rn. 403 und Rn. 404).
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So kann die Koordination des Marktverhaltens von Konkurrenten unter Umständen die Voraussetzung dafür sein, dass überhaupt bestimmte Güter oder Leistungen am Markt angeboten werden, weil sie individuell nicht angeboten würden; dass bestimmte Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen unternommen werden, die individuell nicht zustande kämen; oder dass Produktions- oder Vertriebskosten gesenkt werden. Auch die Verhaltensabstimmung zwischen einem Produzenten und den Handelsunternehmen kann im Einzelfall den Vertrieb verbessern, die Marktdurchdringung fördern und die Verfügbarkeit von Waren oder Leistungen für die Verbraucher erhöhen. Der Zusammenschluss von Unternehmen kann u.U. Skalenerträge (dh produktive Effizienzgewinne) ermöglichen, auf die anderenfalls verzichtet werden müsste. Der Ausschluss des Zugangs von Konkurrenten eines marktbeherrschenden Unternehmens zu bestimmten Ressourcen kann auch ein Anreiz zu innovativem Verhalten der betroffenen Wettbewerber sein (und so zur Erhöhung der dynamischen Effizienz beitragen). Solche Effizienzvorteile können die Wettbewerbsbeschränkung u.U. kompensieren, sofern die negativen marktstrukturellen Wirkungen sich in Grenzen halten, dh der verbleibende Restwettbewerb im Wesentlichen erhalten bleibt und letztlich sogar stimuliert wird.
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Der Begriff „Effizienzvorteil“ ist in diesem Zusammenhang allerdings unscharf. Er lässt offen, ob es sich um prognostizierte gesamtwirtschaftliche Wohlfahrtseffekte im Sinne der produktiven, allokativen oder dynamischen Effizienz handelt, die – wie weiter oben erläutert (Rn. 362) – grundsätzlich nicht einem bestimmten unternehmerischen Marktverhalten, sondern allein dem „System unverfälschten Wettbewerbs“ insgesamt zugeschrieben werden können, oder um einzelwirtschaftliche (zunächst nur auf Unternehmensebene anfallende) Wohlfahrtswirkungen, die zwar (ausnahmsweise) ursächlich auf das wettbewerbswidrige Verhalten zurückgeführt werden können, die sich aber letztlich doch erst im „System unverfälschten Wettbewerbs“ als solche erweisen müssen. Würde man die „Effizienzvorteile“ im Sinne direkter gesamtwirtschaftlicher Wohlfahrtseffekte verstehen, dann wäre die Konzeption des „wirksamen Wettbewerbs“ in sich widersprüchlich. Mit dem Schutz des Wettbewerbs als Prozess, der als solcher die gesamtwirtschaftliche Effizienz gewährleistet, wäre die Annahme unvereinbar, dass im Einzelfall die Beschränkung eben dieses Wettbewerbsprozesses gesamtwirtschaftlich vorteilhafter sein kann als der Wettbewerb. Das liefe auf einen unzulässigen Marktergebnistest hinaus (vgl. oben Rn. 350 ff.). Der Wortlaut des Art. 101 Abs. 3 AEUV zeigt aber, dass dies nicht der Standpunkt des Unionsrechts ist. Es ist insofern von entscheidender Bedeutung, dass Art. 101 Abs. 3 AEUV den Fortbestand ausreichenden Restwettbewerbs zur Voraussetzung für die Freistellung vom Verbot wettbewerbsbeschränkenden Verhaltens macht. Dies bedeutet, dass die von dem freigestellten Verhalten erwarteten „Effizienzvorteile“ zunächst nur einzelwirtschaftliche (auf Unternehmensebene anfallende) Wohlfahrtsgewinne sind, die sich nur im „System unverfälschten Wettbewerbs“, dh im wettbewerblichen Suchprozess, auch als gesamtwirtschaftliche Effizienzvorteile herausstellen können.
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Der EuGH[105] hat verlangt, dass die nach Art. 101 Abs. 3 AEUV erforderlichen wirtschaftlichen Verbesserungen nicht rein „subjektiver“ Art sind, dh sie dürfen nicht allein den beteiligten Unternehmen (etwa in Gestalt höherer Gewinne) zugutekommen. Vielmehr ist nach der Rechtsprechung ein „objektiver“ Maßstab anzulegen,[106] was nichts anderes bedeuten kann als dass die wirtschaftlichen Verbesserungen über die Beteiligten hinaus spürbare positive externe Effekte für Dritte auslösen müssen. Diese Art der Objektivierung setzt aber den Fortbestand eines hinreichenden wettbewerblichen Anpassungsdrucks voraus, der nur besteht, wenn Konkurrenten die Möglichkeit behalten, die an der freigestellten Wettbewerbsbeschränkung beteiligten Unternehmen durch externen Wettbewerb zu überflügeln. Die Aufrechterhaltung hinreichenden Wettbewerbs gewährleistet also, dass sich gesamtwirtschaftlich überlegenere Lösungen im Wettbewerbsprozess auch gegen die – zunächst als positiv bewerteten – „Effizienzvorteile“ des vom Verbot freigestellten wettbewerbsbeschränkenden Verhaltens durchsetzen können. Das letzte Urteil bleibt somit stets dem „System unverfälschten Wettbewerbs“, dh dem Suchprozess des Wettbewerbs vorbehalten.[107] Im Ergebnis normiert daher auch Art. 101 Abs. 3 AEUV nicht einen Marktergebnistest, sondern bestätigt den für die unionsrechtlichen Wettbewerbsregeln durchgehend maßgeblich Marktstrukturtest.
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Die Differenz zwischen den in Art. 101 Abs. 3 AEUV aufgeführten „Effizienzvorteilen“ und der gesamtwirtschaftlichen Effizienz des Wettbewerbsprozesses folgt ferner aus dem Umstand, dass eine Beteiligung der Verbraucher an dem „Gewinn“ (= den Effizienzvorteilen) verlangt wird. Die Konsumentenwohlfahrt ist in der Tat ein Aspekt der gesamtwirtschaftlichen Effizienzwirkungen. Sie ist aber nach der Konzeption des Art. 101 Abs. 3 AEUV keine direkte Wirkung des vom Verbot freigestellten wettbewerbsbeschränkenden Verhaltens, sondern erst eine indirekte Folge des wettbewerblichen Anpassungsdrucks, der vom „System unverfälschten Wettbewerbs“ ausgeht und dem die an der freigestellten Wettbewerbsbeschränkung beteiligten Unternehmen nach wie vor ausgesetzt bleiben müssen. Darin liegt auch die vom EuGH[108] verlangte Objektivierung der „Effizienzvorteile“. Da es insoweit stets um eine Prognose geht, bedeutet dies, dass die zunächst einzelwirtschaftlichen Vorteile lediglich geeignet sein müssen, sich im Wettbewerbsprozess als gesamtwirtschaftliche Effizienzvorteile zu erweisen. Aus diesem Grunde macht Art. 101 Abs. 3 AEUV die Aufrechterhaltung hinreichenden Wettbewerbs zur Voraussetzung für eine Freistellung.
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Die Legalausnahme des Art. 101 Abs. 3 AEUV geht also davon aus, dass das zu beurteilende Verhalten einerseits Auswirkungen auf die Marktstruktur hat, die hinreichend gravierend sind, um das Urteil der Wettbewerbswidrigkeit nach Art. 101 Abs. 1 AEUV zu rechtfertigen, andererseits aber doch eine noch hinreichend offene Marktstruktur bewahrt, um den Wettbewerbsdruck aufrechtzuerhalten, der für die Weitergabe der „Effizienzvorteile“ an die Verbraucher erforderlich ist. Nur unter dieser Voraussetzung ist es vorstellbar, dass aufgrund von Wahrscheinlichkeitsurteilen die möglichen positiven Effizienzwirkungen gegen die negativen Effizienzwirkungen der in Frage stehenden Wettbewerbsbeschränkung gegeneinander abgewogen werden. Im Ergebnis ist daher das Verhältnis von Art. 101 Abs. 1 und Abs. 3 AEUV durch unterschiedliche Marktmachtschwellen (im Sinne von Unter- bzw. Obergrenzen) gekennzeichnet: Für die Feststellung einer Wettbewerbsbeschränkung ist in der Regel das Überschreiten einer gewissen minimalen Marktmachtschwelle erforderlich, die insbesondere im Kriterium der „Spürbarkeit“ zum Ausdruck kommt; für die Erfüllung der Freistellungsvoraussetzungen darf die Marktmacht andererseits nicht einen Grad erreichen, der dem verbleibenden Restwettbewerb seine Wirksamkeit nimmt.
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Dem entspricht auch die Rechtsanwendungspraxis der Unionsorgane. Sie haben im Rahmen der Freistellungsvoraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV stets darauf geachtet, dass die Marktstruktur und die durch sie vermittelte wirtschaftliche Handlungsfreiheit Dritter (im Sinne der Wettbewerbsfreiheit von Konkurrenten und der Auswahlfreiheit der Abnehmer) nicht übermäßig beeinträchtig wird. Der geringe Marktanteil der beteiligten Unternehmen, die Marktpräsenz starker Wettbewerber oder die unbeschränkte Möglichkeit des Marktzutritts potentieller Wettbewerber sind vielfach als Begründung dafür angeführt worden, dass trotz Freistellung der Wettbewerbsbeschränkung hinreichender Wettbewerb bestehen bleibt, um die einzelwirtschaftlichen „Effizienzvorteile“ in gesamtwirtschaftliche Effizienzvorteile (= Verbrauchervorteile) zu verwandeln. Auch werden in den Gruppenfreistellungsverordnungen gem. Art. 101 Abs. 3 AEUV wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen – ausgenommen die sog. Kernbeschränkungen (Preisabsprachen, Produktionsbeschränkungen, Marktaufteilungen) – vom Kartellverbot nur unter der Voraussetzung freigestellt, dass die beteiligten Unternehmen unterhalb bestimmter Marktanteilsschwellen von 20% (bei Spezialisierungsvereinbarungen),[109] 25% (bei Forschungs- und Entwicklungskooperationen)[110] bzw. 30% (generell bei Vertikalvereinbarungen)[111] bleiben. Damit ist sichergestellt, dass die Marktstruktur nicht übermäßig wettbewerbswidrig verengt und die darüber vermittelte Handlungsfreiheit außenstehender Dritter letztlich nicht beeinträchtigt wird. Unter diesen Voraussetzungen können sich die „Effizienzvorteile“ begrenzter Beschränkungen des Wettbewerbs letztlich sogar als ein Beitrag zur Förderung des Wettbewerbsprozesses insgesamt erweisen. Um das festzustellen, kommt es im Einzelfall jeweils auf eine Analyse der besonderen Gegebenheiten des jeweils relevanten Marktes an.
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Auch im Hinblick auf die von Art. 102 AEUV erfassten einseitigen Verdrängungsstrategien kann sich das beherrschende Unternehmen ausnahmsweise auf die in Art. 101 Abs. 3 AEUV definierten Effizienzvorteile berufen. Die Rechtsprechung hat zwar die Erstreckung des für das Kartellverbot geltenden Freistellungstatbestandes des Art. 101 Abs. 3 AEUV auf das Missbrauchsverbot des Art. 102 AEUV abgelehnt.[112] Das hindert jedoch nicht, gewisse Wertungen aus dem Freistellungstatbestand auch im Rahmen des Missbrauchsbegriffs zu berücksichtigen.[113] Dies gilt dann auch für die Erfordernisse der Unerlässlichkeit der Wettbewerbsbeschränkung für die Erreichung der Effizienzvorteile, für die Verhältnismäßigkeit (insbesondere die Angemessenheit) der Effizienzvorteile im Vergleich zur Schwere der Wettbewerbsbeschränkung, für die Verbraucherbeteiligung an den Effizienzvorteilen sowie für die Aufrechterhaltung hinreichenden Restwettbewerbs.[114] Auch hier dürfen aber die Unterschiede zwischen produktiver Effizienz auf Unternehmensebene und der nur auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene (also durch den Wettbewerb und nicht durch seine Beschränkung) zu verwirklichenden allokativen bzw. dynamischen Effizienz nicht verwischt werden (siehe zu den Einzelheiten Rn. 1138 f.).
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Nach der Begründungserwägung 29 zur FKVO 139/2004[115] soll auch bei der Beurteilung der wettbewerblichen Auswirkungen eines Unternehmenszusammenschlusses „begründeten und wahrscheinlichen Effizienzvorteilen Rechnung getragen werden, die von den beteiligten Unternehmen dargelegt werden“. Es sei nämlich möglich, dass solche Effizienzvorteile die negativen Auswirkungen auf den Wettbewerb ausgleichen und eine erhebliche Behinderung des Wettbewerbs demgemäß zu verneinen ist. Die Kommission ist der in dieser Begründungserwägung formulierten Aufforderung nachgekommen und hat in entsprechenden Leitlinien dargelegt, dass sie bei ihrer Gesamtbewertung eines Zusammenschlusses alle nachgewiesenen Effizienzvorteile berücksichtigt. Sie erklärt einen Zusammenschluss demgemäß für mit dem Binnenmarkt vereinbar, wenn solche Effizienzvorteile geeignet sind, den Wettbewerb zum Vorteil für die Verbraucher zu beleben (siehe zu den Einzelheiten Rn. 1418 ff.).