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BEOBACHTUNG DES GEISTESZUSTANDS
Оглавление1916 werden sie beide, Fritz und Alfred Schaie, „durch Gerichtsbeschluss außer Verfolgung gesetzt“, weil sie „nicht gemustert“ und „noch nicht als Soldaten anzusehen waren, also auch nicht als fahnenflüchtig im Sinne des Gesetzes“.55 Zuvor, im Februar 1916, ist Alfred an einem „Nierenleiden“ erkrankt. Er wird nach Berlin entlassen – und einen Monat später „im März 1916 zur Beobachtung seines Geisteszustandes von der Truppe dem Lazarett überwiesen“. Beides bezeichnet Kriegsgerichtsrat Wagner, der die Untersuchung führt, „als auffällig“ und ist der Ansicht, die Brüder hätten „während ihrer langen Untersuchungshaft eine ganz besondere Schärfe ihrer Intelligenz entwickelt“.56 „Simulation“, vermutet denn auch Oberregierungsrat Curt von Glasenapp, der als Leiter („Dirigent“, so die offizielle Bezeichnung) dieser Theaterabteilung kurz vor Kriegsende die Affäre nochmals eigenmächtig aufrollt. Fritz, der inzwischen wieder den Bühnennamen Rotter trägt, wagt es nämlich, im Dezember 1917 als Fritz Schaie-Rotter in Berlin ein Gesuch für eine offizielle Theaterkonzession einzureichen. Der Historiker Tobias Becker nennt es für jene Zeit „geradezu verpflichtend“, sich einen Künstlernamen zuzulegen, der die „Religionszugehörigkeit“ nicht gleich „öffentlich“ macht.57
Das besondere Augenmerk Glasenapps richtet sich auf den scheinbar absoluten Tiefpunkt der Karriere der Brüder, als sie 1916 in Nürnberg gastieren: Den Lessing-Verlag gibt es zu diesem Zeitpunkt noch, obwohl Inhaber Julius Blumenthal im Felde ist. Dieser schreibt später, die Rotters hätten „die schlechteste Presse“ bekommen und „andauernd neue Stücke angezeigt […], ohne sie einzustudieren.“ Dann heiße es „abends an der Kasse“, so erfährt Blumenthal, „jedes Mal“, es werde „wegen technischen Schwierigkeiten“ stattdessen Die Hochzeitsreise von Roderich Benedix gegeben. Mit „diesem Manöver“ sollen sie „stets neue Besucher angelockt haben und ihnen dann, wenn sie einmal da waren, stets das gleiche Stück vorgespielt haben“.58
Als Julius Blumenthal, der Inhaber des gemeinsamen Lessing-Verlags, auf Militärurlaub nach Nürnberg kommt, sind Fritz und Alfred schon „abgereist“, „angeblich hatten sie meine Nachricht der Ankunft zu spät erhalten“. Blumenthal bricht mit den einstigen Freunden: „Meine Versuche, mit Schaie abzurechnen, laufen seit September 1916! […] Aufgrund der schlechten Erfahrungen kündigte ich dann fristlos den Vertrag und entzog Fritz Schaie die Vollmacht.“
Die Aufführungen des Sommers 1916 in Nürnberg spielen auch eine Rolle in einer späteren anonymen Denunziation „mehrerer Schauspieler“59 an die Theaterabteilung des Königlichen Polizeipräsidiums zu Berlin am 4. Februar 1918 – mit einem seltsamen Unterton:
„Er [Fritz] hat keine Ahnung von der Inszenierung der Stücke. Alle seine diesbezüglichen Angaben sind leere, großsprecherische, unwahre Redereien, und seine eingebrachten Empfehlungen sind nur seiner Konfession und den damit verbundenen Beziehungen zu jüdischen Pressekreisen zu erklären. […] Am Intimen Theater in Nürnberg kam es des öfteren vor, dass sie des Abends kein Stück vorbereitet hatten. Sie kamen deshalb mit ihrem Personal vor der Vorstellung zusammen und berieten sich, was sie sagen wollten. Darauf spielten sie abends eine buchstäbliche Stegreifkomödie. Die Vorstellungen waren derart unkünstlerisch und skandalös, dass das Publikum unter Protest und Schimpfen das Theater verließ und [Fritz] Schaie sich nicht mehr dort sehen lassen darf.“
Der langjährige Theatermeister am Intimen Theater in Nürnberg, Fritz Lehmeyer, sagt im Rückblick vom Februar 1918, es soll „einige Male vorgekommen sein, dass die Direktoren [Fritz und Alfred] samt dem übrigen Personal kurz vor Beginn der Vorstellung sich über das Stück noch nicht einig waren und dass sie einmal tatsächlich beabsichtigten, die nicht einstudierten Rollen bei der Vorstellung abzulesen. Aus diesem Anlass soll das Publikum mit großer Unzufriedenheit das Theater verlassen haben.“
Unverkennbar haben Fritz und Alfred 1916 für die von Propaganda und Kriegsgeschrei verwüstete Kulturlandschaft mit Sommertheater etwas Harmloses gesucht. So verpatzt und improvisiert sie auch waren – gänzlich ohne Pointen dürften die Aufführungen der Brüder aber nicht gewesen sein.
Die Hochzeitsreise aus dem Jahr 1859 ist ein Spiel um latente Homosexualität, und insofern für Fritz Rotter, der damals inszenierte, keine unwichtige Wahl: Diese Komödie von Roderich Benedix macht sich über einen Professor lustig, der Frauen nur aus seinen misogynen Büchern kennt. Erst eine Erbschaft – die daran gebunden ist, dass er sich verheiratet – bringt ihn an die Seite einer Frau, die in einem Monolog klarmacht:
„Je nun, er kennt mich ja noch nicht, er kennt überhaupt keine Frauen, er meint ganz unbefangen: Wir müssten so behandelt werden […]. Es gilt, ihn über das Falsche seiner Meinung zu belehren, ihm begreiflich zu machen, was eine Frau ist […].“
Diese an Menander und Plautus anknüpfende Geschlechterkomödie attackiert mit viel Situationswitz das damalige bürgerliche Männerbild frontal. – „Du wagst es, Femininum!“, repliziert er hilflos und fügt hinzu: „Ich habe mich im Kreise von Frauen niemals wohl befunden.“ – Sie sagt: „Sieh, du kennst weder mein Geschlecht noch die Art, mit uns umzugehen, und deshalb bin ich nachsichtig gegen dich.“ Und setzt nicht nur ihren Wunsch nach einer Hochzeitsreise, sondern auch ihre Philosophie durch: „Zwei Menschen, die sich für das Leben miteinander verbinden, […] müssen ihre Seelen austauschen in unbegrenztem Vertrauen, in gegenseitiger Liebe.“60
Vom 7. August bis 2. September 1916 sind die Rotters polizeilich korrekt unter ihrer Berufsbezeichnung „Juristen“ angemeldet.61 Die erwähnte feindselige Denunziation „mehrerer Schauspieler“, die nur von einer Person handschriftlich und in der ersten Person verfasst ist,62 behauptet jedoch das Gegenteil: Es „schienen die beiden Brüder Alfred und Fritz Schaie, die sämtliche Veranstaltungen gemeinsam machten, Ursache zu haben, das Licht der Polizei zu scheuen. […] Niemand durfte wissen, wo sie wohnten, und im Hotel hatten sie falsche Namen angenommen. Zeitweilig gaben sie sich auch dort als Offiziere aus. […] Ungefähr der gleichen Sachen machte sich Herr Fritz Schaie in Wiesbaden schuldig. Dort schmierte er in der gleichen hilflosen Art und Weise […].“63
„Schmiere“ auf der Bühne hat der Theaterkritiker Richard Wilde Jahre später wie folgt definiert: „Schmiere: das heißt Dienst an der Kunst mit untauglichen Mitteln. Heißt: Personalmangel, Kostümmangel, Dekorationsmangel, Requisitenmangel. Heißt: Unbekümmertheit um Stilfragen, aber geniale Erfindungskraft, die auch die verzweifeltsten Schwierigkeiten zu überwinden weiß. Für jeden Mangel ein Ersatz, er sei so lächerlich wie er mag: Schmiere.“64
Den Denunzianten geht es – noch ist Krieg – auch nicht um edlere oder unedlere Formen des Theaters, sondern darum, Fritz daran zu hindern, 1917/1918 am Trianon-Theater Berlin, wo er endlich wieder mit Erfolg und ganz seriös arbeitet, seine erste eigene Theaterkonzession zu bekommen. Nur deshalb wühlen sie und andere anonyme Gegenspieler bei der Berliner Theaterpolizei die alten Geschichten nochmals auf und werfen Fritz Rotter „Drückebergerei“ vor:65 „[…] um seiner militärischen Dienstpflicht zu entgehen, hielt er sich angeblich in einem dortigen Sanatorium auf. Während die Militärbehörde dahingehend getäuscht wurde, Fritz Schaie befinde sich leidend im Sanatorium, machte derselbe Reisen nach Dresden, Hannover, Berlin und ganz Deutschland. Fritz Schaie ist ein durch und durch gewissenloser, haltloser Mensch mit ausschließlich homosexuellen Neigungen, der gänzlich unter dem Einfluss seines Bruders Alfred Schaie steht.“ Er sei „ein vollständig willenloser Mensch und nur das ausführende Werkzeug seines Bruders […].“ Im Denunziationsbrief wird zudem Alfred verdächtigt, er sei „ein großer Schieber, der auch schon ein halbes Jahr wegen Wechselfälschungen verbüßt hat“ – wofür es in den Akten nicht den geringsten Hinweis gibt; es ist eine aus der Luft gegriffene Vermutung, die in Unkenntnis der wirklichen Zusammenhänge lediglich die tatsächlich ausgestandene Untersuchungshaft des „unsicheren Heerespflichtigen“ als Fama fortspinnt. Niemals nämlich würde Alfred mit einer Vorstrafe später eine Theaterkonzession erhalten haben, der „Dirigent“ der Theaterpolizei Curt von Glasenapp hätte in diesem Fall von vornherein jedes Gesuch abgelehnt.
Fritz, 1916 als Soldat ins Train-Bataillon eingeteilt, legt im März 1916, um ins Lazarett zu kommen – und das ist der tatsächliche Kasus, der danach viele Gerüchte befeuert –, „ein von Dr. Mansfeld in Berlin ausgestelltes ärztliches Zeugnis“ vor, wonach er „seit den Entwicklungsjahren an einer fetischistischen Triebstörung“ leide, „die sich auf die weibliche Haarfrisur erstreckt“: „Der Zustand trete periodisch auf […].“ Vorgeblich geht es um eine Theaterperücke und einen Toilettenspiegel, die er sich als Theaterrequisiten ausgeliehen und zurückzugeben versäumt hat. Er geht anscheinend gelegentlich als Frau gekleidet aus. Jedenfalls erreicht er die Aufnahme in eine Klinik. Der Denunziationsbrief wirft ihm dagegen „Fahnenflucht und Drückebergerei“ vor und dass er sich nur „angeblich“ in einem „Sanatorium“ aufhalte. Doch in der Kuranstalt Dietenmühle in Wiesbaden ist er tatsächlich, einem Zeugnis zufolge „seit November 1916 mit Unterbrechungen“ – er darf sich offenbar entfernen, und tut dies auch stets, wenn die Bühnenarbeit, auf die er nicht verzichten will, dies erfordert. Fritz Rotters Leben im Ersten Weltkrieg ist eine deutsche Schwejkiade: Es sei ihm sogar gelungen, kurzfristig als Pächter wieder das Zirkus-Gebäude in Dresden zu übernehmen – während eines „Lazarett-Aufenthalts“ in der Stadt. Eine Zeitung berichtet jedenfalls anekdotenhaft, „sämtliche Sanitätsfeldwebel, Sanitätsunteroffiziere wirkten abends im Zirkus Sarrasani als Claqueure mit, wo der Lazarettkranke Sophokles-Aufführungen veranstaltete.“66
Schon am 6. Juni 1916 wird er als „Landsturmmann“ entlassen.67 Sein Berliner Arzt ist der Ansicht, Fritz leide „seit längerer Zeit an allgemeinen, funktionell-nervösen, neurasthenischen Beschwerden, namentlich auch einer hartnäckigen Neuralgie im Gebiete der linken Oberaugenhöhlennerven (‚Neuralgia supraorbitalis‘)“.68
Der ältere der beiden Brüder, Alfred Rotter, erkrankt im Februar 1916 wie berichtet an einem Nierenleiden; das führt schließlich zur Dienstbefreiung.69 Er ist in den späteren Erfolgsjahren öfter kränklich und leidet an chronischer Gastritis.