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„DER LEBENSSCHÜLER“

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Vom Militär vorläufig dispensiert, wagen sie schließlich die Rückkehr nach Berlin. Fritz Rotter wird 1917 Mitinhaber des Trianon-Theaters.70 Es befindet sich an der Georgenstraße 9, unter dem S-Bahn-Bogen am Bahnhof Friedrichstraße, ist 1902 eröffnet worden und bietet Platz für 600 Personen. Vor Kriegsausbruch bevorzugt diese Bühne „französischen Schwank und Sittendrama“71. Nun, „unter neuer, literaturbeflissener Leitung“, wird es, wie die um Neutralität bemühte Neue Zürcher Zeitung ironisch feststellt, „entgallisiert“.72 Fritz Rotter erklärt Ende 1917 in einem Lebenslauf, er wolle am Trianon-Theater „aus einer Bühne, die seit Jahren den leichtesten französischen und deutschen Schwänken diente, eine Stätte ernster Kunst […] machen“.73

Eine enge künstlerische Beziehung verbindet Fritz und Alfred Rotter mit der damals vierundfünfzigjährigen, in den Niederlanden geborenen Starschauspielerin Adele Sandrock. Eine Zeitung schreibt später74:

„Sie hatten inzwischen schon gelernt, dass man mit Berliner Gastspielen in der Provinz Geld machen kann, sie schleppten Adele Sandrock als Antigone [richtig: Elektra] durch halb Deutschland. In Hamburg stand auf dem Zettel: ‚An der Orgel: Edwin Fischer‘. In Wahrheit tippte Fritz Rotter auf den schwarzen Tasten disharmonische Kadenzen. Im Eisenbahnzug zwischen Hamburg und Berlin kaufte Fritz Rotter dem gerade an der Alster durchgefallenen Ludwig Fulda [1862–1939] alle Aufführungsrechte seines Lebensschülers ab; er [Fritz] dichtete den Schluss um, brachte das Stück im Trianon-Theater heraus – es ging 375-mal. Weil nämlich die Brüder Rotter jeden Sonntag die letzte Seite des ‚Weltspiegel‘ gekauft hatten, auf der sie die Bilder ihrer Stars und die wohlwollendsten Kritiken ihrer Aufführungen inserierten.“

In der Hamburger Fassung des Lebensschülers, die am 18. Januar 1916 uraufgeführt wird, soll am Tag der Mobilmachung 1914 aus dem neuen Jahrhundert ein sogenanntes „männliches“ werden. Fritz Rotter aber scheint an Fuldas Stoff genau das nicht zu interessieren, weshalb er den letzten Akt anders ausgehen lässt. Ein „starker Erfolg mit vielen Hervorrufen“, berichtet das Berliner Tageblatt von der Berliner Premiere am 20. September 1917 im Trianon-Theater.75 Ludwig Fulda ist persönlich anwesend. Mit Sicherheit inszeniert Fritz Rotter; pro forma aber ist ein junger Schauspieler der Regisseur, der neu vom Deutschen Schauspielhaus in Hamburg nach Berlin gekommen ist: Kurt von Moellendorff. Im Stück spielt er die männliche Unschuld vom Lande, den jungen Dichter Gert aus dem Ferienort Leutra. Der wird von seiner Schwester nach Berlin geschleppt, worauf der heimliche Verehrer der Schwester, ein Rechtsanwalt, den jungen Mann „in die Schule des Lebens schicken“ will und an seine Ex-Geliebte Hella verkuppelt – eine „muntere, von keiner Moral schlaflos gemachte, schillernde Dame“, die der Dichter Fulda „sehr gut gesehen, sehr gewandt mit neunundneunzig reizenden Lastern und einem einzigen Sehnsuchtsblick nach Reinheit ausgestattet hat“.76 Hella nimmt es mit der Wahrheit über ihr eigenes Leben nicht so genau und belügt Gert über die eigene Biografie. Später im Stück sagt Hella: „Ich bin, was man aus mir macht. Ein Engel oder ein Teufel, je nachdem. […] Du bist meine Kreatur, ein Jüngelchen, das ich zum Mann werden ließ. […] Keine, der nicht zu meinem Sklaven würde, falls ich ihn dazu haben wollte.“77

Just an dieser Stelle hat Ludwig Fulda in der Originalfassung mit der Mobilmachung 1914 eine Deus-ex-Machina-Lösung gesucht. Diesen pathetischen Schluss lässt Fritz Rotter weg. Keine Soldatenlieder, die vom Sammlungsplatz in Leutra dringen, keine Phrasen über den „Grabgesang einer alten Zeit, das Wiegenlied der neuen“, keine Ankündigung: „Der Tag des Weibes ist zu Ende; der Tag des Mannes steigt herauf.“ Und Gert antwortet auch nicht: „Krieg! So weiß man wenigstens, wie man mit Anstand sterben kann.“ Gestrichen die letzte Regieanweisung: „Gert vernimmt in sich selber den großen Appell. Eine merkwürdige Veränderung geht mit ihm vor. Seine Züge werden stählern; seine Glieder straffen sich.“

Der neue Schluss Fritz Rotters lässt den Ausgang des Spiels zwischen Hella und Gerd bewusst offen. Das Berliner Tageblatt fragt sich: „Lockt Hella, die Sirene, den reinen Jüngling Gert in sein Verderben? Oder ‚wird er sich wiederfinden‘, wie jetzt das Schlusswort des Schauspiels lautet? Genau erfahren wir es nicht.“78 Die Neue Zürcher Zeitung berichtet: „In einer früheren Fassung sollte der Krieg die Erziehung des Unerfahrenen zur Männlichkeit durchführen; jetzt wird ihm das Los aufgebürdet, sich in den Lauf der Welt zu finden.“79

Fritz Rotter entzieht sich geschickt jeder Kriegspropaganda, und bezeichnenderweise kommen die beiden Brüder ausgerechnet mit diesem Fulda-Stück in der Schlussphase des Kriegs wieder hoch. Wenn das Stück in der abgeänderten Fassung in Berlin zum Zugstück wird, nachdem es in Hamburg untergegangen ist, dann wesentlich deshalb, weil am Trianon-Theater die Geschlechterbalance und der Eros in seiner weiblichen Form eine Rettung finden. Das wird, nach den Lehrjahren mit Strindberg und der unverwüstlichen Benedix-Hochzeitsreise, zum Rotter’schen Erfolgsrezept für Berlin.

Fritz und Alfred Rotter

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