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FRIVOLES BERLIN: DIE ROTTERS ALS „PUBLIKUMSBAROMETER“

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Auch Eduard Stucken wird Hausautor der Rotters. Nach Myrrha inszeniert Fritz von ihm Die Gesellschaft des Abbé Chateauneuf.75 Uraufführung ist am 10. Februar 1921. Es ist die Geschichte einer Frau, die „auch noch nach ihrem Tode durch die Hand vieler Männer gegangen ist, die dann Romane, Dramen und sogar Opern mit ihr zeugten“: „Als sie lebte, hatte sie mit einem Marquis einen Sohn […]. Dieser junge Mann verliebte sich, wie man weiß, in die unbekannte Mutter. Er kam nicht, wie Ödipus, dazu, sie zu heiraten. Als er erfuhr, dass es das Fräulein Mama war, das er anbetete, erschoss er sich. […] Ihr verliebtes Söhnchen war Hans Brockmann. Es ist eine zuckerige Rolle; der Schauspieler ließ sich tenorsäuselnd nicht entgehen, sie noch in Schmalz zu backen und Saccharin darüberzustreuen. Festessen für kleine Mädchen“, so das Berliner Tageblatt.76 „Welch wunderlicher Mensch und Poet, dieser junge Eduard Stucken!“, ruft Franz Servaes im Lokal-Anzeiger nicht ohne Bewunderung. „Mit jedem Stoffe, den er aufgreift, scheint er selbst sich zu verwandeln.“ Andere Zeitungen spotten: „Rotters sind zum Kostüm übergegangen“ – „Barock. Ringellocken. Spitzenkragen; galante Abbés, frivole Chevaliers, geistvolle Marquisen; roter Samt, matte Seide, und immerzu Esprit“.77 Auch Herbert Jhering ist unerbittlich: „In der Tat reichen die ungeprägten Weisheiten, die hier […] ausgetauscht werden, für zehn Rotter-Inszenierungen. In der Tat reichen die unformulierten Witze, die sich hier als Esprit ausgeben, für das Residenz-, das Trianon- und das Kleine Theater zusammen. In der Tat genügt die süßliche Tragik für das Sentimentalitätsbedürfnis einer ganzen Saison.“78

Danach arbeitet Fritz Rotter nie wieder als Regisseur.

Doch anders, als die Theaterkritik es wahrnimmt, sind diese frivolen Salonstücke um Frauen, die den gesellschaftlichen Konventionen den Rücken kehren, nicht lediglich ein Merkmal für das starke Zerstreuungsbedürfnis der unruhigen, schwierigen Zeit nach Ende des Ersten Weltkrieges und während der Inflation, sondern spiegeln die Suche nach einem neuen Selbstbild von Frau und Mann.

Die neuen Komödien der Inflationszeit sind gesellschaftliches Traummaterial und offenbaren – so wie später das Operettenfieber in den Jahren der Weltwirtschaftskrise – tiefere Sehnsüchte. In beiden tragischen Phasen der Weimarer Republik geben die Rotterbühnen kulturell mit den Ton an. Die Rotters enthüllen ein Stück Berliner Befindlichkeit. In ihrem Leben und in ihren Aufführungen verkörpert sich ein besonderes Zeitbild der deutschen Hauptstadt zwischen den beiden Weltkriegen.

Allerdings ist es nur eines neben anderen Bildern. Trude Hesterberg erinnert sich:

„Wenn man an die Zeit der Inflation nach dem Ersten Weltkrieg zurückdenkt, so kann man sie nur mit einem höllischen Spuk vergleichen. Alles fiel auseinander, was früher Gültigkeit besaß. An jeder Ecke standen die Opfer des verlorenen Krieges. Zerlumpt und auf Krücken oder ohne Beine auf der Erde hockend, hielten sie ihre alten, zerschlissenen Soldatenmützen auf. Was sollte man hineintun? Fünfhundert, tausend, eine Million? Am Tag darauf war das so viel wert wie ein Pfennig! Bettelnd standen diese Menschen mit ihren ausgehungerten Kindern an den Ausgängen der Bars und der Tanzdielen, die wie giftige Pilze aus dem Boden schossen. Alles wurde kürzer, die Haare, die Kleider, die Liebe, der Schlaf! Das Leben spielte sich ab, wenn es dunkel wurde. Der bunte Flittermantel der Nacht deckte die grausamen Blößen des Tages zu.“79

Wie ein Sinnbild für diese Zeit steht die Aufführung des bereits älteren Lustspiels Nur ein Traum von Lothar Schmidt, das Eugen Burg am 22. April 1921 für die Rotters am Kleinen Theater Unter den Linden neu inszeniert und in dem eine Frau ihre Nacht mit einem anderen Mann nachträglich dem eigenen Gatten „so darstellt, als wäre sie wirklich nur ein Traum gewesen“. Der Börsen-Courier beobachtet, dass die „Flut der ‚feineren Lustspiele‘ steigt. Vielleicht wird sie uns, über Jahr und Tag, verschlungen haben. Der Bedarf meldet sich allerorten.80

Alfred Kerr schreibt dazu im Rätselstil scherzend und in Klammern gesetzt: „Ein Berliner würde sagten: die Möchte ist heut noch stärker als die Kannste.“81

Zugkräftige Stücke schicken die Rotters wie schon in den Tingeltangel-Jahren während des Ersten Weltkriegs gleich auf Gastspieltournee. So erreichen sie ein Publikum in der ganzen Republik. Als sie im Oktober 1921 in Hannover Arthur Schnitzlers Reigen im dortigen Residenz-Theater zeigen, kommt es jedoch zum Skandal. Das Stück „erregt allgemein Anstoß“: „Es werden Protestkundgebungen vor dem Opernhause und in der Marktstr[aße] vor dem Theatergebäude veranstaltet, der Verband der Bürger-Vereine protestiert gegen die Verschmutzung des hannover[schen] Theaters durch derartige unsittliche Stücke. 37 andere Vereine, Verbände und Ausschüsse verlangen polizeiliches Einschreiten.“ Der Direktor des Residenz-Theaters in Hannover beugt sich dem Druck und löst „bald hernach die geschäftliche Verbindung mit der Rotter-Bühne.“82

Fritz und Alfred Rotter einigen sich hierauf mit dem Eigentümer des etwas kleineren Deutschen Theaters Hannover und zeigen von nun an ihre laufenden Neuheiten dort, zuletzt 1924 sogar unter dem Direktionsnamen Vereinigte Rotterbühnen Berlin-Hannover. Da Gertrud Rotter, genannt Trude, die Gattin von Alfred, aus Hannover ist, fühlen sie sich dieser Stadt verbunden.

So stark der Zustrom des Publikums, so heftig bleibt die Ablehnung der gehobenen Berliner Theaterkritik gegen die Rotters. Die Abwehr ihrer psychologischen Stücke, welche durchgängig die Geschlechterrollen thematisieren, ist direkt auffällig und richtet sich indirekt gegen Wien. Herbert Jhering ist überzeugt, aus Wien hätten „die Rotters den Gemütsspeck auch nach Berlin geschmuggelt“. In Wien erfolge die „Auflösung szenischer Widerstände durch seelische Prostitution“ und das „Gefühl selbst“ werde „Trick und Kulisse“. In Berlin aber gelte es, „Effekt und Kunst zu scheiden“: „Dass man in Wien die Gemütsstimmung, in die das Publikum durch das Sensationsstück geraten will, gleich mitspielt, ist der Unterschied gegen Berlin.“83 Gewiss, Jhering schätzt den Wiener Arthur Schnitzler, insbesondere dessen Reigen, weil da die „Dialoge aus diesem erotischen Nervengefühl geboren sind, das nur noch um einen Grad sublimiert zu werden brauchte, um Klang und Ton zu werden“ – dieses Drama werde „in der deutschen erotischen Literatur, die arm ist, bleiben“.84

Jhering meint in einem Rundfunkvortrag von 1931 zugespitzt, Schnitzlers Stücke geben aber „das Weltbild der Vorkriegszeit“ wieder, und „nach dem Zusammenbruch einer ganzen Welt“ könne „an dieses Bild nicht wieder angeknüpft werden“, es gebe kein Zurück zu diesen „psychologischen Stücken oder vielmehr zu der von ihnen geforderten psychologischen Darstellungsweise“.85

Wie viel verdrängte Vorkriegszeit in den Zwanzigerjahren noch immer vorhanden war, übersieht Jhering nicht, doch an die Kunst „in unserer glücklosen, zerrissenen, im schweren Endkampf einer Machtauseinandersetzung stehenden Zeit“ stellt er andere Anforderungen, jenseits der „psychologischen Individualcharakteristik“. Brechts neues Stück Die heilige Johanna der Schlachthöfe, das Jhering bereits kennt, sei „in diesem Stil“ geschrieben. Das „moderne Drama“ könne „nicht an den großen sozialen Gegensätzen, an dem Endkampf der Weltsysteme vorbeigehen“, ist er überzeugt.

Doch gerade diesem Kampf versuchen sich die Rotters nach den Erfahrungen mit der Novemberrevolution 1918 zu entziehen, das erkennt Jhering wohl richtig. Wie geschickt sie diese Verweigerung betreiben und stattdessen einen kunstvollen, aber nicht konfrontativen Weg zwischen den Fronten einschlagen, versteht er jedoch nicht zu würdigen. Deshalb blickt Jhering so ungnädig auf das Rotter-Theater der Zeit nach 1918. Im Rotter’schen Rollenspiel und in ihren Versuchen zur Auflösung des starren Geschlechterschemas erblickte er nicht die Zukunft der Kultur, sondern nur abwertend das rein Geschlechtliche und den vermeintlich reaktionären Zucker für das Publikum. In Die Getarnte Reaktion schreibt er 1930:

„Als nach dem Kriege alles drunter und drüber ging, als die Armeen zurückfluteten und die aufgeschreckten Spießer zwischen Angst vor dem Bolschewismus und der auftrumpfenden Freude über einen entfesselten Amüsierbetrieb hin und her gerissen wurden, als die Mark ins Bodenlose sank und die heimlichen Spielklubs blühten, da wussten die Rotters am besten, was sie einem verschüchterten und aus sich herausgetriebenen, einem aufgescheuchten und sensationsgierigen Publikum zu bieten hatten. Sie beruhigten das erschreckte Gefühl durch Minnigkeit auf der Bühne, sie bezahlten den Anspruch des in Unordnung geratenen Geistes mit billigen Sentenzen und kitzelten den Sexus durch Zoten und Entkleidungskünste. Die zwinkernde geschlechtliche Anspielung ging in den innigen Augenaufschlag über, zuckrige Diskretion stand neben gepfefferter Eindeutigkeit. Auf diesen Nenner führten sie gewaltsam, aber instinktsicher alle ihre Stücke, alle ihre Schauspieler zurück. Wer erinnert sich noch an die Aufführungen von Oscar Wilde bis Sudermann, von Fulda bis Schnitzler? Da wurde gehimmelt und entkleidet, da wurde Seele gehaucht und in Zynismus gemacht, da wurde zur Andacht und zur Anekdote kommandiert. Immer hatten die Rotters einen Instinkt für das Durchschnittspublikum, einen Instinkt für das Geschmacksbedürfnis einer geistig uninteressierten, von nichts als der Zeit und der Mode geprägten und beeinflussten Schicht. Die Rotters sind Publikumsbarometer.“86

Indem Jhering den Zusammenhang zwischen „Sexus“ und Kultur als überwunden und als lediglich „psychologisch“ hinstellt, unterschätzt er jene ganze andere Revolution der Auffassungen und der Verhaltensmuster – jene im Verhältnis der Geschlechter, welche Fritz und Alfred Rotter auf ihren Theatern unablässig ansprechen.

Als 1922 in Frankreich der Roman Garçonne von Victor Margueritte erscheint und zu einem Welterfolg wird, liegt das auch daran, dass nach diesem französischen Wort der Haarschnitt genannt wird, der in Deutschland „Bubikopf“ heißt. Autor Margueritte beruft sich nicht nur auf das Buch Über Liebe und Ehe (1902) der schwedischen Frauenrechtlerin Ellen Key, sondern auch explizit auf den französischen Psychiater Édouard Toulouse, der seinem Werk La question sexuelle de la femme (1918) die These voranstellt: „Die sexuelle Frage ist für uns noch, was die religiöse Frage in den vergangenen Jahrhunderten war. Es ist leicht, zum Häretiker zu werden, im Urteil der geläufigen Moral.“87 Unter seinem literarischen Pseudonym Peter Panter beschreibt Kurt Tucholsky in einer Reportage einen Besuch bei Victor Margueritte und dessen Ehefrau an der Côte d’Azur – und kalauert: „Eine gute alte Freundin von mir hat einmal das Gebot geprägt: ‚Du sollst nicht alles mit der Sexu-Elle messen –!‘ Die Menschen scheinen anders zu messen, denn sonst wäre ein Welterfolg wie der der Garçonne […] nicht zu erklären. […] Victor Margueritte hat den Bubenkopf in die Literatur eingeführt.“88

Worin liegt also die Provokation der Rotters und ihrer Theaterarbeit? Ikonen der Berliner Zwanzigerjahre werden sie erst im Nachhinein. Nicht das Publikum ist es, das sie so nachhaltig ausgegrenzt. „Hierzulande muss man müssen, sonst darf man nicht“, schreibt Franz Hessel.89

Fritz und Alfred Rotter

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