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IM SPIEL BLEIBEN – KULTUR DER HYPERINFLATION
ОглавлениеZu Beginn der Spielzeit 1921/22 arbeitet auch Alfred Rotter eine Weile nicht mehr selbst als Regisseur, als ob er sich aus der Schusslinie nehmen möchte. Doch die Theaterkritik zielt nach wie vor direkt auf sie beide, auch wenn sie nur die Leitung ausüben. Als der Schauspieler und Regisseur Paul Wegener am 22. August 1921 im Residenz-Theater den Totentanz von Strindberg zur Aufführung bringt, heißt es in einer Kritik: „Man ahnte schon längst, dass die Rotters Pessimisten sind und sich eines Tages zu einer Weltanschaung, die der Grieche mit amphimelas, ‚ringsumschwarz‘, bezeichnete, bekennen würden. So nahm es nicht Wunder, dass sie mit diesem ‚Totentanz‘ […] auch ihrerseits einen Beitrag zu der allgemeinen Verdüsterung des Weltalls leisten wollten. […] Der Russe Tschechow hat gezeigt, dass man bereits lächeln kann, wo Strindberg noch errötet […].“90
Ein kleines Lob gibt es von Herbert Jhering für Georg Altmann, als der am 9. September 1921 mit Fräulein Josette – meine Frau die Saison am Kleinen Theater eröffnet: „In ihrem Bemühen, die Kritik mattzusetzen, verfielen die Rotters jetzt auf das gefährlichste Mittel: eine bessere Aufführung zu geben.“ Jhering fährt fort: „Wenn dieses Niveau festgehalten wird, ist das Kleine Theater wenigstens keine Gefahr mehr.“91 Fritz Engel sekundiert im Berliner Tageblatt: „Wie gut geht’s uns, dass wir so totchick [sic] auftreten können.“92 Im Stück spielt wieder Hans Albers mit.
Der Immer-noch-Revolutionär Oskar Kanehl folgt im Residenz-Theater mit Der König – und trifft wider Erwarten eine Ader bei Jhering, der im Stück eine „hinreißende Mischung von politischer Satire und erotischem Schwank“ sieht. „Dieses einzige Beispiel einer Operette ohne Musik, die wirkt, als ob Offenbach komponiert hätte. […] Im ganzen: die französischen Stücke bekommen den Rotters besser als die deutschen. Oder haben sie es nur noch nicht heraus, wie sie sie völlig verkitschen können?“93
Elsa Herzog, die Spezialistin für „Mode auf der Bühne“ beim Berliner Lokal-Anzeiger, nimmt diese Aufführung zum Anlass, um eine Verbindung zwischen der Ausstattung „bei den Rotters“ und der Inflation herzustellen:
„Unsere modischen Kostümdichterinnen haben in dieser Saison schon recht viel zu tun bekommen. […] [D]enn das Publikum, das diese Theater mit den unerhörten Eintrittspreisen besucht, hat ja auch ein Anrecht, für sein Geld etwas zu verlangen. Augenblicklich macht dort Flers-Caillavets König antimonarchische Propaganda. […] Da ist zunächst Olga Limburgs Ausstattung. Eine Bourgeoise […]. Sie stellt sich uns zunächst in einem blau-roten Mantelkleid in den französischen Farben aus Wollvelours vor, das über die drollige Mode dieses Winters aufklärt. […] Von besonderer Eleganz ist ihre ‚Courtoilette‘, in der sie beim König von Cerdanien vorgestellt wird. Sie ist aus zitronengelbem Chiffonsamt mit reich paillettierten Silberspitzen […]. Der Rock ist lang, weit und reifengestützt; die Stoffüberbleibsel sind für das Leibchen verwendet. Aber allzu viel ist leider nicht übriggeblieben […].“94
Das Rotter’sche Theater erreicht die Gesellschaftsspalten und macht, wenn nicht Kunst, so doch Mode zum Gespräch. Es wird für die Brüder Rotter die bis dahin vielleicht erfolgreichste Spielzeit. Anerkennung gibt es auch für Altmanns „satirisch überpuderten, leicht karikaturistisch eingefärbten“ Kammersänger von Frank Wedekind im Trianon-Theater, obwohl – oder gerade weil – an einer Stelle das Saallicht angeht – „Regiefeinheit“ – und die Titelfigur an der Rampe ins Publikum spricht: „Wir Künstler sind ein Luxusartikel der Bourgeoisie.“95 Ergänzend wird im Programm des Abends noch Tod und Teufel desselben Autors gespielt.
Das weite Land von Arthur Schnitzler im Residenz-Theater96 lassen die Rotters, zumindest auf dem Papier, Arnold Korff inszenieren, der selber den Friedrich Hofreiter spielt. Es ist, als wollen sie der Kritik keinerlei Angriffsfläche mehr bieten. Und Alfred Kerr schreibt: „Der Rotter wächst mit seinen größeren Zwecken.“ Er spricht von einer „hoffnungsvolle[n] Wiederaufnahme des vor einem Jahrzehnt erschienenen Werks“, um zum Schluss zu kommen, dass es heute, zehn Jahre später, „noch immer seinen Wert“ hat.97
Die hoffnungsvollen Frauengestalten in Das weite Land – Friedrich Hofreiters Frau Genia und dessen letzte flüchtige Geliebte – merken zu spät, das die Befreiung von Konventionen sie nicht davor schützt, getäuscht zu werden. „Man gleitet. Man gleitet immer weiter, wer weiß wohin. […] Ich lüge, ich heuchle. Vor allen Leuten spiel ich Komödie“, sagt die betrogene Genia. „Der Freiheit, die sich hier brüstet, der fehlt es am Glauben an sich selbst“, heißt es im Stück.
Fritz und Alfred Rotter setzen zwar deutlich weniger auf Lustspiele, doch als sie im Januar 1922 durch Georg Altmann Elga von Gerhart Hauptmann inszenieren lassen,98 spürt Emil Faktor vom Berliner Börsen-Courier auch dahinter eine Absicht und nutzt das für eine Generalabrechnung: „Bedenklicher ist das Rottertum an und für sich geworden, das auch in anderen Bühnenhäusern Berlins herumspekuliert […]. Die schlauen Rotters wissen […] Bescheid, und mag sein, dass sie sich sogar eines Tages entschließen, ihr ganzes Denken und Wollen nur der puren Kunst zu verschreiben. Es kann allmählich wieder das beste Geschäft werden. Vorläufig freilich sind sie nicht so weit.“99
Zielstrebig bringen die beiden Brüder auch 1922 weiterhin Stücke mit unkonventionellen Frauenrollen, als hätten sie sich den Satz aus Ludwigs Fuldas Der Lebensschüler (1915) ganz zu eigen gemacht: „Sprich vom Mann, und dir antwortet ein Gähnen; sprich vom Weib, und die ganze Welt horcht auf. Ja, glaube mir, Gert, dies ist ein weiblich gewordenes Jahrhundert.“100
Oscar Wildes bereits ältere Komödie Eine Frau ohne Bedeutung101 charakterisiert Emil Faktor als „Roman vom schuftigen Lord und seiner verlassenen Geliebten“ – doch es „riss das Publikum unaufhaltsam hin“. Ironisch fügt der Kritiker hinzu: „Man verging vor Spannung und Wonne. […] Die Regie des Herrn Kanehl, der als Lyriker ein Radikalinski ist, war pflaumenweich.“102
Im Kleinen Theater führt Altmann Das Weib auf dem Tiere auf103, ein neues Drama von Bruno Frank, in dem eine „vielbegehrte, dem Mittelstand entstammende Stadtkokotte eines Tages den Geliebten“ erschießt. „Das für alle anderen Männer käufliche Weib fühlte sich von dem einen, dem zuliebe sie Geld zusammenraffte, schmählich hintergangen. […] Der Hinrichtung entzieht sie sich durch Gift […].“104
In der Nachwirkung bedeutsam ist Das kleine Schokoladenmädchen von Paul Gavault105, wiederum ist Oskar Kanehl der Regisseur. Ralph Benatzky macht aus dem Stück 1932/33 für die Rotters eine Operette, Bezauberndes Fräulein, die dann aber – der noch zu schildernden Ereignisse wegen – nicht mehr aufgeführt wird: Die Uraufführung wird am 24. Mai 1933 in Wien sein, am Deutschen Volkstheater. Zu dem Zeitpunkt haben die Rotters keine Bühne mehr; Alfred ist tot und Fritz inkognito im Exil in Frankreich.
Über Das kleine Schokoladenmädchen schreibt die Vossische Zeitung, sie sei „die Tochter des Schokoladenkönigs, Millionenerbin, launisch, verwöhnt“. Hans Albers tritt in der Rolle eines armen Malers auf, „der mit allen Prachtgewändern der Rotter’schen Kleiderschränke garniert“ ist. Dass er sich „neckisch mit Lieblingsallüren vor seinem Publikum aufgebläht“ habe, missfällt dem Kritiker. „Wie er versucht, durch Exzentrikbeine Laune zu erzwingen, das ist schon nicht mehr Auflösung des Ensembles. Das ist schon mehr Untergang des Abendlandes.“106 Jhering dagegen ist milder gestimmt und versteht auch die Komik des Schauspielers Albers besser, die er vom Film beeinflusst sieht: „Und Hans Albers? Die Reklame hat ihn zum deutschen Chaplin gemacht. Man sieht bei jeder Bewegung, wie der Regisseur ihm auf den Proben zugerufen hat: ‚Mehr Chaplin! […] Sie müssen an Chaplin denken.‘“107 Jhering weiter:
„Also gegen die Rotters ist diesmal nichts zu sagen, nur gegen die allgemeine Berliner Theatersituation. Die Rotters haben eine gewisse Geschlossenheit des (kitschigen) Repertoires. Aber soll es an den anderen Theatern auf diesem Wege weitergehen? […] man ruiniert sich die Zukunft. Nicht nur dadurch, dass man mit der Jagd nach dem Erfolge die Zugkraft der Reißer erschöpft und sich der Gefahr aussetzt, plötzlich vor dem Nichts zu stehen […]. Das Repertoire der Berliner Bühnen beschäftigt im Übermaß den Konversationsschauspieler, den Pointenbringer, den Nuancenjäger und legt den großen heroischen Schauspieler lahm. […] Ich weiß, dass die Theater schwer zu kämpfen haben. […] Heute aber, wo das Theater nur auf den Erfolg gestellt wird, reißt es in den Taumel auch die Künstler hinein, die in sich den Drang zum Kampf und zur Kompromisslosigkeit tragen.“
Ist es das, was den Rotters vorgeworfen wird: die Abwesenheit heroischer Stoffe auf ihren Bühnen? Angekreidet werden kann ihnen vieles – doch nicht, dass sie keine Gegenwartsthemen aufgreifen würden. Noch bevor es Tonfilm oder gar das Fernsehen gibt, sind sie auf Breitenwirksamkeit bedacht. Nicht zum Film zu gehen, sondern mit filmischen Mitteln Theater zu machen, das ist im Grunde der Kernvorwurf, den Jhering ihnen macht, und es ist ein Paradox, dass erst Brecht das von Jhering vermisste heroische Theater erneuert, im Spiel der Brechungen und der Distanzierung. Die Rotters stehen für Antiheroismus, der ganz rechts verpönt war, und auch ganz links – trotz Kanehl, der über seine Bühnenarbeit gesagt haben soll, er gehe „wie ein Fabriksklave in den Betrieb“, „um das nackte Leben zu fristen“, „seinen revolutionären Geist“ verkaufe er nicht mit, und er stelle „sein ganzes Denken in den Dienst der sozialen Revolution“.108
In der Spielzeit 1922/23, als die Inflation in die Hyperinflation übergeht und es auch im übertragenen Sinn nur noch wenig gibt, das wertbeständig ist, wagen die Rotters noch mehr. Gleich zum Auftakt erregen sie größeres Aufsehen mit der Erstaufführung von Lissi des Autors Siegfried Geyer,109 wieder mit Hans Albers.
Selbst der sonst zu Lob gern bereite Berliner Lokal-Anzeiger wettert: „[…] eine widerliche Häufung von Zoten, und die Erinnerung müsste schon in die schlüpfrigen Niederungen der Linienstraße herabsteigen, um im Berliner Theaterspielplan letzter Jahre ein Stück ähnlich starken Kalibers zu finden. Also verbietet es sich von selbst, auf den Inhalt näher einzugehen. Es genügt, dass besagte Lissi eine ‚Dame‘ ist, die in mehr oder weniger unbekleidetem Zustand allerlei dufte Abenteuer erlebt, und der Neid muss es Herrn Siegfried Geyer lassen, dass er die Welt, in der sich solche ‚Damen‘ bewegen, recht intim zu kennen scheint: […] Ein Schritt weiter, und die Bühne wird … na, lassen wir das!“110 „Es war ein platter Abend, ausgezeichnet durch Eindeutigkeit, veredelt durch darstellerischen Schmiss – die Qualität lag in der Durchsichtigkeit der Seidengewebe. […] Lissi ist eine Kokotte, die unglücklich liebt […]. Erika Gläßner gab jene Lissi, mauzend, mit Weibchentönen, mit Quatschtönen, mit Hüftenspiel und kallipygischem [schön geformten] Überschlag über das Messingbettchen. […] Hans Albers war Jonny, ein Frackmann mit moralischem Kater und schlaksigen Bewegungen. Beide gut im Zusammenspiel.“111
Die Rotters sind nicht die Einzigen, die solche Stücke auf die Bühne bringen – im Lustspielhaus, das ihnen erst ab 1929 gehört, wird am 1. September 1922 Die Schule der Kokotten von Paul Armont und Marcel Gerbidon gegeben. Die Figur der Kokotte, das heißt einer Dame der Halbwelt, die sich selbst in ganz bürgerlichem und zugleich ganz unbürgerlichem Sinn als Kapital einsetzt – ist die Obsession einer Gesellschaft, die noch nicht wirklich von ihren Konventionen lassen will und den Frauen die berufliche Gleichstellung überwiegend verweigert. Zur selben Zeit beschreibt Proust in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit den Aufstieg von Odette, die trotz oder vielleicht wegen einer solchen Vergangenheit als stets auf große Selbstständigkeit bedachte Frau von Monsieur Swann einen liberalen Salon erhält und nach Swanns Tod durch erneute Heirat zu einem Adelstitel kommt.
Doch die Rotterbühnen geben auch immer noch Hermann Sudermann. Sein Stück Es lebe das Leben112 aus dem Jahre 1902 um „Parteipolitik und Gesellschaft“113 wird von Oskar Kanehl im Januar 1923 inszeniert. Es geht um zwei alte kompromittierende Briefe einer Gräfin, die einem Baron mit Reichstagsmandat gefährlich werden könnten. Dieser hält im Parlament eine begeistert aufgenommene Rede „über die Unverletzlichkeit der Ehe“, während sein Sekretär aufgrund der Briefe zu der Erkenntnis gelangt, „dass in der Politik eine völlig weiße Weste unmöglich ist“.114
Die Theaterkritiken zu dieser Aufführung zeigen auf verblüffende Art, wie weit Berlin sich innerlich schon von der Kaiserzeit entfernt wähnt – eine schwerwiegende Selbsttäuschung, wie spätestens mit der Wahl Hindenburgs 1925 als Reichskanzler deutlich wird, und der in gewisser Weise auch die Morgenpost unterliegt: „Derweilen ist einiges vorgegangen in der Weltgeschichte, und es hat sich vielleicht in den Proben ergeben, dass man diesen Stützen der konservativen Gesellschaft, diesen Prinzen, Baronen und Landjunkern […], kein neues Leben einzuhauchen vermag. Sie zeigten die Symptome der Leichenstarre schon zu Lebzeiten; heute sind sie ein Stück Mittelalter auf dem Eis; Petrefakten [Versteinerungen], Stalaktiten aus dem wilhelminischen Zeitalter.“115
Der Regisseur Kanehl wird dafür getadelt, lediglich „das alles in eine schrecklich feines, echt gräfliches Milieu mit goldenen Möbeln“ gesetzt zu haben.116 Es gibt aber auch Stimmen, die „dieses Drama aus der deutschkonservativen Reichstagsfraktion“ von Hermann Sudermann verteidigen, da „niemand mehr in gleichem Grade Spannendes geschrieben hat, Effektvolles, Pointiertes.“117 Herbert Jhering spricht jedoch vom „Museumsstil“:
„Soll man gegen Sudermann schreiben? Die Sprache hat sich auf andere Erlebnisse eingestellt […]. Vorbei, vorbei. Man hört eine Sprache, man sieht Dinge, die in der Ferne der Zeit versinken. Man sieht Zuschauer, die dem Gespenst ihrer selbst applaudieren. Und hat nur die Hoffnung für die Berliner Theater, dass, selbst wenn sie alle den Rotters überliefert werden sollten, es gar nicht so viele Schauspieler gibt, die in diesem Museumsstil spielen können, dass dann die Zeit gekommen sein wird, wo die Rotters zwar die Bühnenhäuser besitzen, die besten Schauspieler und jungen Dramatiker aber längst in Vorstadtsälen und Bötzowbrauereien ihre Kunst machen.“118
Wenig später führt derselbe Kanehl am 27. Februar 1923 im Residenz-Theater die aus der Vorkriegszeit stammende ernste Komödie Professor Bernardi (1912) Arthur Schnitzlers auf. Die BZ am Mittag erkennt die Aktualität: „Das Jahrzehnt hat genügt, dieses Drama historisch werden zu lassen. […] Und doch: diese Komödie ist noch immer lebendig.“119 Und Alfred Kerr befindet sogar: „Es wird noch immer nicht ganz schlecht Komödie bei uns gespielt.“120 Vier Wochen später inszeniert Kanehl Die Wildente von Henrik Ibsen.121 „Mit dem launig untermalten Resignationsstück gegen die Lebenslüge“ werde „der Rotter’sche Ibsen-Zyklus fortgesetzt“, kommentiert Emil Faktor im Börsen-Courier.122 Der Vielarbeiter Kanehl ist für Fritz und Alfred Rotter unersetzlich geworden.
Als Ende August 1923 die nächste Spielzeit beginnt, scheint „eine politische Explosion bevorzustehen“123. Zwar erklärt die Regierung, die das Inflationsdesaster so lange ignoriert hat, am 12. August 1923 ihren Rücktritt, und Gustav Stresemann wird am folgenden Tag neuer Reichskanzler. Doch das Ende des Währungsspuks kommt erst am 15. November 1923 durch die Einführung der Rentenmark.
Vorher müssen die Kassiererinnen der Rotters gleich frühmorgens, mit Koffern voller Geld, zur Bank eilen, um die Abendeinnahmen rasch in Aktien oder Goldanleihen zu wechseln, ehe die dicken Bündel von Geldscheinen am Mittag bei Ausrufung der neuen Kurse schon wieder an Wert verlieren. Im August 1923 kostet eine Theaterkarte noch Hunderttausende, bald schon Millionen und im November 1923 Milliarden – für die besten Plätze wird vermutlich eine Billion gezahlt, wenn die Vossische Zeitung zuletzt, bei Drucklegung Stunden vor dem Währungsschnitt, schon 50 Milliarden gekostet hat.124
Es ist eine fiebrige Zeit in jeder Hinsicht. Nichts ist, im Abstand betrachtet, so typisch für diese frühen Zwanzigerjahre wie die Rotter-Produktionen. Noch bevor der Tonfilm Ähnliches wagt, ist auf den Bühnen der Rotters alles schon zu sehen – in Farbe. Dem Publikum gefällt es, ein Teil der Presse giftet, doch insgesamt werden die Kritiken besser.
Die Nerven blank aber legt schließlich Joujou, ein Stück von Max Kempner-Hochstaedt und Franz Cornelius, mit Erika Gläßner als Hauptdarstellerin. Regie führt wieder einmal Oskar Kanehl, Premiere ist am 17. Oktober 1923 im Trianon-Theater. „Zweideutigkeiten werden als überflüssig vermieden. Missverständnisse sind ausgeschlossen“125, heißt es in einer Zeitung, und Alfred Kerr dichtet: „Kanehls Regie […] tut, was man bei den Rotters soll […] ‚O’ krabble nicht da vorn!‘ […] So sieht der Mensch im Zeitenstrom / ein liebliches Kultursymptom.“126 In der Vossischen Zeitung erinnert man daran, dass „Rotters Regisseur“ Oskar Kanehl „immer noch Verfasser kommunistischer Streitgesänge für das kämpfende Proletariat“ sei. Lissi, die Kokotte, werde von Erika Gläßner gespielt, die „ihren Text im Tonfall jener freundlichen Puppen“ spreche, „die Papa und Mama sagen, wenn man auf ihren Bauch drückt. […] Deutsche Schwankmacher, spielt meinetwegen mit Tod und Teufel Kegel, seid frivol, seid toll und trunken! Aber wenn euch nichts einfällt als die zotige Eindeutigkeit, als Späße ohne Laune und ohne Witz, dann ist’s an der Zeit, mit den Kohlen des Trianontheaters die Heimstätten verarmter Kulturmenschen zu heizen.“127 Die BZ am Mittag spottet: „Die Gläßner […] liegt […] im Bett unter dem Baldachin. Als Scheintote. […] Ein paar Momente, wo sie noch ein bisschen drollig ist. Wenn sie huschelt und nuschelt mit ihrem flinken Berliner Sprechapparat. Doch ach, das graziöse Püppchen ist eine deftige Puppe geworden. Adieu, Rokoko-Nippesfigur!“128 Die Berliner Morgenpost sieht es ähnlich: „Dieser Schlussakt hat Situationswitz und versöhnt ein wenig mit den plumpen Eindeutigkeiten wie mit den […] gehäuften Albernheiten. […] Wenn die trauernden Hinterbliebenen die ‚Leiche‘ aus dem Bett schleppen, um Wiederbelebungsversuche mit ihr anzustellen, das ist von grotesker Komik […].“129