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Die Lebensform der höfischen Gesellschaft
ОглавлениеDie den Absolutismus bestimmende Rationalität, die in der Geometrie der Schloss- und Gartenanlagen ein so ausgeprägtes Gesicht gewann, legte sich auch über das Zusammenleben der Hofgesellschaft, die sich in diesen Anlagen bewegte. Ihre Lebensweise war, wenn auch von Hof zu Hof im Einzelnen unterschiedlich, genau geregelt und unterlag einem strengen Zeremoniell, das nicht nur bei Staatsakten und besonderen Anlässen (Feiertagen, Besuchen, Ordensverleihungen, Jagden, Festen u.a.) befolgt wurde, sondern den höfischen Tagesverlauf überhaupt bestimmte (u.a. die Bedienung des Herrschers beim Aufstehen, Anziehen, bei den Mahlzeiten, beim Ausfahren, beim Schlafengehen). Norbert Elias hat das Zeremoniell des ‚Lever‘, des Aufstehens, Ludwigs XIV. bis ins Detail nachgezeichnet und dabei gezeigt, wie jeder Aktus im Gang der Zeremonie seinen bestimmten Prestigewert besaß und als „Anzeiger für die Position des Einzelnen innerhalb der Machtbalance zwischen den vielen Höflingen“ diente.14
Die Einhaltung des Zeremoniells (der ‚Etikette‘) verlangte nicht nur genaue Kenntnisse, die fast schon Berufsqualitäten nahe kamen, sondern sorgte vor allem auch dafür, dass die Hofgesellschaftsich in ständiger Bewegung und andauernder Spannung befand, zumal jeder jeden scharf überwachte und auf den Regelverstoß des anderen nur wartete. Spontaneität war verpönt und gefährlich. Wer sich dem Konformitätsdruck, der über der höfischen Gesellschaft lastete, dem Zwang, sich dem Zeremoniell anzupassen, nicht fügte, rührte damit zugleich an den „Grundfesten der eigenen sozialen Existenz“.15 – Abstrahiert man von den Regelungen im Einzelnen, so war ihre sich wiederholende Grundfigur die des Vortritts, der ‚Präzedenz‘, die den Vorrang der einen vor der anderen Person zu erkennen gab, wobei der direkte Kontakt mit dem – distanzierten, kultisch überhöhten – Fürsten als höchste Auszeichnung galt. Letztlich war das den Vortritt regelnde Zeremoniell auf Unterwerfung hin angelegt. Der eine unterwarf sich, indem er die Präzedenz zu gewähren hatte, dem anderen, und alle ‚beugten‘ sich dem Herrscher; die eigens dafür entwickelte Gestik, etwa der Bückling, verdeutlichte diese Haltung (die Verbeugung, der Diener, der Knicks haben sich bis heute als Zeichen des Respekts erhalten).16
Sich zu verbeugen, die Verbeugungen der anderen entgegenzunehmen, den eigenen Rang im Machtgefüge des Hofes ständig sinnfällig werden zu lassen, war unumgänglich, um eben diesen Rang zu unterstreichen und zu befestigen. – Auch die Architektur trug den sozialen Rangabstufungen und der Distanzierung des Fürsten auf anschauliche Weise Rechnung. Wer im Schloss zu ihm vordringen wollte, musste die Enfilade der Vorzimmer überwinden, die mit immer bedeutenderen Würdenträgern besetzt waren; in den Hoftheatern legten Logen und Ränge die Plätze fest und schufen die für nötig gehaltenen vertikalen und horizontalen Abgrenzungen. Die Kehrseite der Distanzierung des Herrschers lag in dessen nicht vorhersehbaren Zuwendungen und Gunsterweisungen. Infolge der Ungewissheit der Verteilung fürstlicher Gnaden blieb das Ranggefüge der Hofgesellschaft bei aller strukturellen Festigkeit relativ labil. So war jeder des anderen Konkurrent und bemühte sich um des Herrschers jeweilige Günstlinge. Schmeichelei, Verstellung, Berechnung, Neid, das Einfädeln von Intrigen gehörte zu den Verhaltensweisen, die sich in dieser Gesellschaft notwendigerweise etablierten, verbunden mit dem Bemühen, sich selbst keine Blöße zu geben, mit der Selbstbeherrschung der eigenen Affekte also und mit der genauen Beobachtung und Kalkulation des Benehmens der anderen. Eine Gesellschaft, die sich derartig mit sich selbst beschäftigte und dafür auch immer neue Anlässe suchte (Jagden, Bälle, Theater, Feste), war für eigentliche politische Fragen wenig empfänglich, ein Effekt, der durchaus im Interesse des jeweiligen Regenten lag – wie überhaupt die ewige Wiederkehr und die Gleichförmigkeit des Zeremoniells geeignet waren, die Einsicht der Untertanen in das Zeitbedingte und Vergängliche fürstlicher Macht zu verschleiern.17 Die Konkurrenzkämpfe um Prestige und ‚Ehre‘, die innerhalb eines einzelnen Hofes üblich waren, hatten ihre Bedeutung auch im Verhältnis der Höfe untereinander. Nicht nur versuchten diese sich in ihrem Aufwandsniveau zu übertrumpfen (und sich dabei gleichzeitig auch in ihrer finanziellen Kraft zu erschüttern), sie rangen um größeres Ansehen untereinander auch mit Hilfe ihrer Repräsentanten, ihrer Diplomaten, ihrer Künstler und Gelehrten und deren Leistungen. Dabei hatten die großen Höfe zunächst von Wien, später stärker von Versailles insbesondere im kulturellen Bereich Vorbildfunktionen – die Adaption der französischen Sprache in den deutschen Hofgesellschaften des 18. Jahrhunderts ist dafür der sprechende Beleg; überall wurden auch französische Tanz- und Fechtmeister eingestellt, kleidete man sich nach französischer Mode, beherrschte die französische Küche die Tafeln, die französische Literatur den literarischen Geschmack.