Читать книгу Deutsche Literatur - Peter Nusser - Страница 6
Einführung
ОглавлениеDie vorliegende Literaturgeschichte ist über einen langen Zeitraum hinweg geschrieben worden. Teile von ihr erschienen 1992 unter dem Titel Deutsche Literatur im Mittelalter. Lebensformen, Wertvorstellungen und literarische Entwicklungen und 2002 unter dem Titel Deutsche Literatur von 1500 bis 1800 – mit demselben Untertitel. Beide seit einigen Jahren vergriffenen Bände werden hier, durchgesehen und aktualisiert, unter neuem Titel wieder veröffentlicht – zusammen mit der abschließenden umfangreichen Darstellung der Literatur des 19. sowie des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts, so dass nun eine Geschichte der deutschen Literatur von ihren Anfängen bis zur Gegenwart aus einer Hand vorliegt.*
Die Vorteile einer solchen Darstellung liegen in der einheitlichen Konzeption, der beide Bücher folgen. In ihnen werden literarische Entwicklungen in ihren Wechselbeziehungen mit der Sozial- und Kulturgeschichte gesehen. Darüber hinaus folgt die Darstellung einem besonderen Erkenntnisinteresse, das der Frage nachgeht, inwieweit Literatur mit ihren Möglichkeiten des gedanklichen und künstlerischen Ausdrucks im Lauf der Geschichte stets daran beteiligt war, Wertvorstellungen weiterzugeben, zu verändern oder aufzubauen und damit die Weltsicht und die Verhaltensweisen ihrer Rezipienten mitzubestimmen. Dies beinhaltet die Frage, wo der historische Ort der gesellschaftlichen Orientierungsmaßstäbe liegt, die noch immer gelten oder umstritten sind, eine Frage, der – ohne Bezug auf die Literatur – vor allem Wilhelm Flitner in seinem wegweisenden Buch ‚Die Geschichte der abendländischen Lebensformen‘ (Gesammelte Schriften 7, 1990) nachgegangen ist. Einer Literaturgeschichtsschreibung, die sich in diese Fragestellung eingebunden weiß, geht es nicht vorrangig um Bestandsaufnahmen, sondern um Gestaltung, nicht um die von Spezialisten vorgenommene Ausbreitung von Details, sondern um Konzentration auf Wesentliches und um Orientierungsangebote. Sie ist kein bloßes Nachschlagewerk, sondern will ‚gelesen‘ werden und zur gedanklichen Vertiefung und zur Diskussion beitragen.
Mit der genannten Fragestellung umzugehen, erfordert eine vielseitige Betrachtung. Denn Wertvorstellungen, an denen Orientierung möglich und Handeln abgewogen wird, haben sich in unterschiedlichen Lebensformen bzw. Formen der Lebensführung konkretisiert, die es in ihren historischen Wurzeln zu verdeutlichen gilt. Literatur, die unter bestimmten sozialen, kulturellen und mentalen Bedingungen entstanden ist und in die jeweils geltenden Maßstäbe des Denkens und Handelns eingebunden war oder sich mit ihnen auseinandergesetzt hat, darf allerdings nicht nur mit diesen historischen Bedingungen, sondern muss immer auch um ihrer selbst willen in ihrem Kunstcharakter und in ihren literarischen Kontexten betrachtet werden. Dies erfordert Mut zur Auswahl, die sich daran orientiert, welche Texte sich für den Aufbau, die Entfaltung, die Veränderung und Überwindung von Wertvorstellungen und Verhaltensnormen als besonders bedeutsam erwiesen haben und entsprechend hervorzuheben sind.
Als Lebensformen bezeichnen Historiker und Soziologen Formen selbstverständlichen Handelns, in denen soziale Gruppen ihre Wertvorstellungen verwirklichten und zu Verhaltensnormen verfestigten. Getragen wurden die Konventionen des Zusammenlebens also von den – auch in Rechtsordnungen sich niederschlagenden – ethischen Überzeugungen, die eine Gemeinschaft für verbindlich hielt und die ein allgemeines sittliches Verhalten gewährleisten sollten. Im Mittelalter waren solche fest zu umreißenden und zugleich kulturtragenden Lebensformen die der Mönche und Geistlichen sowie die der Regenten, die jeweils auf antike Ursprünge zurückgingen, dann die der Ritter und der städtischen Patrizier und Zunftbürger, die sich aus den geschichtlichen Bedingungen des Mittelalters selbst entwickelten. Seit der frühen Neuzeit bezogen sich bei der Ausbildung weiterer Lebensformen die Humanisten auf monastische Traditionen und die höfische Gesellschaft des absolutistischen Staates auf die des mittelalterlichen Rittertums. Mit der Entstehung der staatsbürgerlichen Gesellschaft im 18. Jahrhundert beginnt der Begriff der Lebensform seine Angemessenheit zu verlieren, weil fest umrissene Normgefüge sich seit der Aufklärung aufzulösen beginnen. Deren Geschlossenheit geht vollends im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts verloren, weswegen für diese Zeitspanne nur noch der offenere Begriff der Lebensführung gewählt wird, der sich besser auf einzelne soziale Gruppen beziehen lässt, die immer durchlässiger werden und deren Wertvorstellungen sich vielfach überschneiden.
Literatur hat für die Orientierung von Menschen von jeher eine wichtige Rolle gespielt. Sie hilft, die Maßstäbe des Handelns überhaupt benennen, über sie kommunizieren und sie tradieren zu können. Vor allem vermag sie, den mit wertorientiertem Handeln verbundenen Sinn und die aus solchem Handeln erworbenen Erfahrungen ins Bild zu setzen, also mit den ihr eigenen ästhetischen Mitteln nachvollziehbar werden zu lassen. Indem sie Handlungen oder Haltungen in Konflikten als vorbildlich bzw. umgekehrt als abstoßend oder oft auch als widersprüchlich und problematisch vor Augen führt, nimmt sie über den Rezeptionsprozess auch auf das konkrete Handeln ihrer Leser (oder Hörer) Einfluss und kann dabei die gewohnten Orientierungsmaßstäbe entweder lediglich bestätigen oder aber kritisch unterlaufen und neuen Wertvorstellungen den Weg bereiten, also wirksam in gesellschaftliche Veränderungsprozesse eingreifen.
Mit dem Versuch, die Literatur in ihren Wechselbeziehungen zu den Orientierungsmustern ihrer Rezipienten zu sehen, gewinnt die vorliegende gesellschaftsbezogene Literaturgeschichte eine zusätzliche Dimension. Denn es geht nicht mehr nur darum, die Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Literatur zu beschreiben und ihre Geschichte neben die Wirtschaftsgeschichte oder die politische Geschichte zu stellen, sondern auch darum, die Texte auf die aus diesen historischen Bedingungen sich herleitenden Wertvorstellungen, Orientierungsmuster und Interessen sozialer Gruppen zu beziehen. Allerdings wird es, zumal im 20. Jahrhundert, immer schwieriger, dieses Konzept zu verwirklichen, weil, wie schon angemerkt, die mentalen Orientierungsmuster einzelner Gruppen sich zunehmend stärker überschneiden und dabei undeutlich werden oder sogar in sich selbst zerfallen. Insofern bleibt die Darstellung hier auch notgedrungen, von den Gegebenheiten her begründet, stärker ‚innerliterarisch‘ als in den früheren Jahrhunderten geltenden Kapiteln.
Aus der Zielsetzung dieser Literaturgeschichte ergeben sich Entscheidungen für ihre Darstellung. Es liegt nahe, von den Lebensformen bzw. von den Grundzügen der Lebensführung einzelner sozialer Gruppen auszugehen, denen Literatur sich anpasst oder mit denen sie sich auseinandersetzt. Da die kulturtragenden Lebensformen sich im Mittelalter nicht einfach ablösten, sondern innerhalb größerer Zeiträume nebeneinander bestanden und oft auch miteinander konkurrierten, stellt sich die Frage, wie dieses Nebeneinander im Nacheinander der Darstellung zu vermitteln ist. Im Gegensatz zum üblichen Prinzip, die Literatur im Bemühen um Vollständigkeit chronologisch, also dem Zeitablauf unterworfen, aufzuarbeiten, werden in der vorliegenden Literaturgeschichte die literarischen Entwicklungen, die an die Lebensformen der Geistlichen und Mönche, der Regenten, der Ritter und Bürger gebunden sind, in Längsschnitten behandelt, wodurch der beschriebenen Intention konzentrierter und auch anschaulicher nachgegangen werden kann. Dabei ist der Akzent der Beschreibung jeweils auf solche Zeitabschnitte gerichtet, in denen die Lebensformen und die Literatur dieser Gruppen in ihrer je wachsenden oder auch sich verlierenden Bedeutung besonders hervorgetreten sind. Dass die im Nebeneinander sich entwickelnden Lebensformen und literarischen Reihen dabei nicht voneinander isoliert sind, sondern stets auch aufeinander einwirken, versteht sich von selbst und ist besonders im Raum der spätmittelalterlichen Stadt, in dem verschiedene Lebensformen aufeinanderstießen, ganz offensichtlich. – Während die mittelalterlichen Lebensformen zum Teil über Jahrhunderte Bestand hatten, sind die Lebensformen der Humanisten und der Hofgesellschaft des Absolutismus sowie die Lebensführung der ‚staatsbürgerlichen‘ Gesellschaft im 18. Jahrhundert stärker an einzelne Zeitabschnitte gebunden. Entsprechend umfassen die ebenfalls in Längsschnitten angelegten Darstellungen der literarischen Entwicklungen zwischen 1500 und 1800 nicht mehr so weite Zeiträume wie etwa die Darstellung der Literatur der Geistlichen und Mönche oder der Bürger im Mittelalter, aber auch dieser Teil präsentiert die in Wechselwirkungen mit Lebensformen und Wertvorstellungen gesehene Literatur in größeren Einheiten. Ungewohnt ist dies zumal für die Beschreibung der Literatur des 18. Jahrhunderts (vgl. die erläuternde Vorbemerkung zum Kapitel über das 18. Jahrhundert). – Auch die Literaturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts wird in zwei großen Einheiten und nicht in der Abfolge einzelner literarischer ‚Epochen‘ (besser Strömungen) gesehen, was die leidige Diskussion über innerliterarische Abgrenzungen vermeiden hilft. Gleichwohl werden die üblichen Bezeichnungen, wenn sie sinnvoll sind, deswegen nicht aufgegeben. Und auch in diesem Teil wird am Prinzip der gattungsbezogenen Längsschnitte festgehalten, was für die Einschätzung der ästhetischen Qualitäten der Texte vorteilhaft ist. Wird mit Längsschnitten gearbeitet, sind gelegentliche Querverweise auf zeitlich parallel entstandene andere Gattungen unumgänglich – ebenso wie es angebracht ist, zuweilen Rückverweise auf Abschnitte der vorangegangenen Teile der Gesamtdarstellung einzufügen.
Jede anspruchsvolle Literaturgeschichte ist darauf ausgerichtet, dem Leser Orientierung zu geben. Dies schließt jedoch keineswegs aus, exemplarisch ausgewählte Schwerpunkte zu setzen. Nicht nur werden einzelne Autoren besonders hervorgehoben, während andere nur genannt oder übergangen werden; die Darstellung ist bei der Behandlung der Texte auch ein Wechselspiel von ‚Dehnungen‘ und ‚Raffungen‘, um die Begrifflichkeit der Erzähltheorie zu verwenden. Neben ausführlicheren Besprechungen einzelner, für die gewählte sozialgeschichtliche Fragestellung besonders bedeutsam erscheinender Texte, bei denen auch der Funktion der eingesetzten ästhetischen Mittel nachgegangen wird, stehen Zusammenfassungen, die der Übersicht dienen und die hervorgehobenen Texte in ihrem literarischen Umfeld zu sehen erlauben. Das Ziel, möglichst nah an den Texten zu bleiben, erfordert, dass Biographisches zurücktritt.
Mit der Hervorhebung einzelner Texte mischt sich diese Literaturgeschichte, die immer wieder auch die Literatur Österreichs und der Schweiz einbezieht und Hinweise auf die europäische Literatur enthält, bewusst in die Diskussion um die Kanonbildung ein. Wer den auch von der Literatur mitgetragenen oder unterlaufenen Orientierungsmustern gesellschaftlicher Gruppen nachgeht, fragt zugleich nach der späteren, oft sogar nach der gegenwärtigen Gültigkeit des geschichtlich ‚Gewordenen‘. Ohne diese Frage wären historische Aufarbeitungen reiner Selbstzweck. Dem zu entgehen, enthält die vorliegende Darstellung immer auch Brückenschläge von der Vergangenheit in die Gegenwart – jedenfalls in Ansätzen und in der Form von Ausblicken. Sie beziehen sich auf die Rezeptionsgeschichte einzelner Texte, viel mehr aber noch auf literarisch vermittelte, bis heute wirkende Vorstellungen und Denkformen. Das Wissen um Traditionen, in denen jeder Einzelne steht, und die Auseinandersetzung mit ihnen gehört zur Mündigkeit und Verantwortung des aufgeklärten Menschen. Diese Mündigkeit zu festigen, ist die vornehmliche Zielsetzung dieser Literaturgeschichte, und gerade hierin liegt auch ihre didaktische Relevanz.
* Rückverweise auf den chronologisch vorangehenden Band dieser Gesamtdarstellung werden im Folgenden mit „Vgl. P. N., 2012 a“ gekennzeichnet.