Читать книгу Deutsche Literatur - Peter Nusser - Страница 11

Erziehungs- und Lebenslehren (Castiglione und Gracián)

Оглавление

Die Verhaltensweisen der Hofgesellschaft sind durch die Art und Weise der Erziehung ihrer Mitglieder nachhaltig stabilisiert worden. Die Erziehung des Adels zielte im Prinzip auf die Vermittlung einer Gesinnung, die einerseits noch an die Wertvorstellungen und Verhaltensnormen der höfischen Gesellschaft des Mittelalters gebunden war (vgl. dazu P. N., 2012 a, III) und sich andererseits an der an den italienischen Höfen der Renaissance ausgebildeten Lebensform des Hofmanns, des ‚cortegiano‘, des ‚Mannes von Welt‘, orientierte – wobei freilich das Vorbild dieser Lebensform gerade an den absolutistischen Höfen durch den dort praktizierten Zwang zur ‚Höflichkeit‘ (zur Etikette) in seinem Sinn auch verfälscht und letztlich zerstört worden ist. Das Ideal der Lebensform des italienischen Hofmanns ist im 17. und 18. Jahrhundert in zahlreichen sog. ‚Hof-Schulen‘ auch in Deutschland verbreitet worden, einer literarischen Gattung, die das Regelwerk des richtigen Benehmens in der Hofgesellschaft zu vermitteln suchte (und die ihr Leben bis in die Gegenwart in populären ‚Anstandsbüchern‘ fristet, die sich am Vorbild des berühmt gewordenen, 1788 erschienenen Leitfadens des Adolph Freiherrn von Knigge Über den Umgang mit Menschen orientieren, allerdings dessen aufklärerische Absicht, auch den Bürgern etwas von der Weitläufigkeit des Adels zu vermitteln, nicht mehr vor Augen haben, sondern nur noch Etikette-Vorschriften weitergeben, die möglichst auch den gesellschaftlichen Aufstieg erleichtern sollen).

Der Ausgangspunkt für diese Art von Literatur und zugleich für das positive Bild des Hofmanns ist Baldassare Castigliones Libro del Cortegiano (1528), das die Lebensführung der sich als gesellschaftliche Elite verstehenden höfischen Gesellschaft gleichsam theoretisch fundiert und einen gar nicht zu überschätzenden Einfluss auf die Adelserziehung in ganz Europa gehabt hat (es lag zu Beginn des 20. Jahrhunderts in 78 italienischen Ausgaben und in 18 spanischen, 16 französischen, 17 lateinischen und 3 deutschen Übersetzungen vor). Castiglione, der im Laufe seines Lebens selbst im Dienst verschiedener Höfe stand, lässt in seinem Buch Mitglieder einer Hofgesellschaft sich an mehreren Abenden über die Frage unterhalten, was man unter einem vollendeten Hofmann und einer vollendeten Hofdame zu verstehen habe. In geistreichen Dialogen wird ein Idealbild der Erziehung des Hofmanns, seiner Tugenden, seiner Funktion am Hofe, guter Manieren und geselligen Betragens entwickelt, und auch die vorbildlichen Verhaltensweisen einer Hofdame werden in die Betrachtungen einbezogen. Grundlage der Lebensführung des Hofmanns ist für Castiglione die ritterliche Haltung, die durch das Waffenhandwerk, durch Erfahrungen im Krieg, im Turnier, im Duell, durch geschultes Reiten, Fechten und Jagen, auch durch den Tanz geübt wird. Der Hofmann soll ‚in allen Sätteln gerecht‘ sein. Zu diesen alten ritterlichen Künsten tritt die literarisch-musische Bildung im Zeichen der ‚studia humanitatis‘ (vgl. P. N., 2012 a, V). Der Hofmann soll sich Sprachkenntnisse verschaffen, soll sich in die antiken Autoren vertiefen, sich sogar – in erster Linie in der Volkssprache – als Schriftsteller versuchen, soll sich auch musikalisch betätigen und – Castiglione war mit Raffael befreundet – im Zeichnen üben. – All diese Studien aber sollen nicht der bloßen Wissensvermittlung gelten; sie gewinnen ihren Sinn vielmehr erst dadurch, dass sie – entsprechend den Vorstellungen der Humanisten – Tugenden stärken. Neben der Tapferkeit (‚fortitudo‘) und dem Gerechtigkeitssinn (‚iustitia‘) ist besonders die ‚temperantia‘, die Selbstbeherrschung, erstrebenswert, die Fähigkeit, das rechte Maß einzuhalten, sich harmonisch mit den anderen abzustimmen. Im Grunde werden damit Tugenden der mittelalterlichen Ritterethik (‚ere‘, ‚maze‘, ‚zuht‘, ‚staete‘, ‚triuwe‘) ins Gedächtnis gerufen, nur dass ihre Benennungen nun die Lektüre der antiken Moralphilosophen bezeugen. Der besondere Akzent, der das Ethos des Hofmanns von dem des Ritters abhebt, liegt in der Bedeutung, die Castiglione der ‚sapientia‘ zuspricht. Er begreift sie als ‚prudentia‘, als Weltklugkeit, als das Wissen um das richtige Handeln (wozu durchaus auch die Fähigkeit gehört, sich selbst ins rechte Licht zu setzen, eigene Vorzüge herauszustellen, eigene Schwächen zu verbergen). Wer, wie der Hofmann, den Fürsten gut beraten will, gar sein Mentor bei der Regierung des Staates sein möchte (ein Aspekt, den Castiglione ausführlich im 4. Teil seines Buches darlegt), muss weltorientiert sein, Menschenkenntnis besitzen, die Realität sachangemessen beurteilen und über Gesellschaft, Staat und Politik praktisch nachdenken können. Diese Art von Klugheit ist ein Zug, der die Hofleute nicht nur von den in ihrer Mehrzahl illiteraten und allein dem geistigen Horizont des höfischen Lebens verhafteten Rittern des Mittelalters abgrenzt, sondern sie auch von der scholastischen Gelehrsamkeit der Mönche und Kleriker trennt und sie von der eher meditativen Lebens- und Sichtweise der Humanisten zumindest distanziert. Flitner hat betont, dass im Kreis der Hofleute zum ersten Mal in Europa „die Form ‚realistischer‘ Geistesbildung“ entstanden sei.18 Dies heißt nicht, dass in ihm nur an das Nützliche und Verwertbare gedacht wurde. Auch spekulative Interessen kamen zu ihrem Recht, was sich nicht zuletzt in den Korrespondenzen und Gesprächskreisen des Hofadels erweist, an denen Köpfe wie Ficino, Leibniz, Voltaire ebenso beteiligt waren wie Pico della Mirandola oder Shaftesbury, und allein schon durch den engen Kontakt gefördert wurde, den adlige Hofleute mit bürgerlichen Künstlern und Gelehrten pflegten, die der kontemplativen Lebensform der Humanisten zuneigten, aber ihre Arbeit in den Dienst der Gesellschaft und des Staates und das hieß zugleich auch des geselligen Lebens an den Machtzentren der Höfe stellten. Dennoch gewann die Beschäftigung mit Problemen, die für Regierungs- und Verwaltungsgeschäfte eine unmittelbare Bedeutung besaßen und nicht nur historische, juristische und wirtschaftliche Kenntnisse, sondern auch diplomatische Geschicklichkeit verlangten, für die Hofleute zunehmend an Gewicht. Um die eigene Weltkenntnis zu erweitern, wurde es unter den jungen Adligen üblich, die so genannte Kavalierstour zu unternehmen, die sie an die bedeutendsten Höfe Europas führte, zumal an die italienischen, um dort das theoretisch Gelernte durch praktische Anschauung zu vertiefen (die bürgerliche Bildungsreise nach Italien imitiert später diese Kavalierstour des Adels).

Für die Faszination, die Castigliones Entwurf eines Idealbilds des Hofmanns auf den europäischen Adel ausübte, sprechen nicht nur die vielen, schon erwähnten, Auflagen und Übersetzungen seines Buches, sondern auch die von ihm beeinflusste Hof-Literatur (u.a. Della Casas Galateo [1558] und Du Refuges Traité de la Cour [1616]) sowie Betrachtungen in politischen Biographien, ferner Aphorismenbücher, Apophthegmatasammlungen, Konversationstraktate u.a.m.

Einen besonderen Akzent erhielt das Bild des Hofmanns in den Schriften des spanischen Jesuiten Baltasar Gracián, der während der Regierungszeit Philipps IV. zeitweilig selbst am Hofe lebte. Für ihn war der Hof nicht als solcher, sondern als Spiegel der Welt und des Lebens von Interesse, als ein Abbild des großen ‚Welttheaters‘.19 Insofern ist all das, was er über das Benehmen am Hof schrieb, zugleich auch als allgemeine Lebenslehre zu verstehen. Vor allem in seinem Traktat über den Weltmann (El Discreto, 1646) und in seiner Spruchsammlung Oráculo manual y arte de prudencia von 1647, die in Deutschland starke Verbreitung erfuhr und als ‚Hofschule‘ rezipiert wurde, schließlich in seinem dreiteiligen Hauptwerk, dem philosophisch-satirischen Roman El criticón (1651–57), das 1698, 1710 und 1721 ins Deutsche übersetzt wurde,20 entwickelt Gracián, der durchaus nicht an Hofkritik und an Ausfällen gegen aufgeblasene Höflinge und Schmeichler sparte, das positive Gegenbild des Mannes von Welt, der den Hof als geeignete Schule betrachtet, um all das zu lernen, was er an Lebensklugheit, an aufmerksamem, berechnendem, die Schwächen des jeweiligen Gegenübers einkalkulierendem, an ‚politischem‘ Verhalten zu seiner individuellen Selbstbehauptung und zur Selbstbewahrung in der Gesellschaft braucht. Nicht also der in der Anpassung seine Identität verlierende Höfling schwebt Gracián vor, sondern die durch kluge und taktische Anpassung ihre Identität gerade stärkende Persönlichkeit, die sich selbst kultivierende ‚persona‘. Der Hof erscheint nicht mehr, wie bei Castiglione, als Stätte der Ausbildung von Tugenden und sittlicher Läuterung, sondern als ein Wirkungsfeld, auf dem sich der Durchsetzungswille des Einzelnen kämpferisch üben und entfalten kann. Insofern wandelt sich das bei Gracián entworfene Bild des Hof- und Weltmanns von einem gesellschaftlichen in ein individuelles Ideal.

Die letztlich von tiefem Pessimismus getragene, „nüchterne Analyse der menschlichen Szene“,21 die Gracián mit seiner Hof- bzw. Lebenslehre verbindet, und seine praktischen Ratschläge, wie der Hofmann als Schauspieler auf der säkularen Bühne zum Erfolg kommen könne, haben auch in Deutschland die so genannte „politische Bewegung“22 nachhaltig unterstützt. Diese hatte sich unter dem Einfluss Machiavellis, insbesondere seines Il Principe (1513), ausgebreitet, einer Schrift, in der Politik nicht länger – in Anlehnung an Platon und Aristoteles – als Lehre von den Staatsformen und Institutionen verstanden, sondern als ‚techné‘ untersucht wurde. Im Zentrum der Fragestellung Machiavellis standen die politische Persönlichkeit und die Gesetze des politischen Handelns, das Zusammenspiel von politischer Erkenntnis, politischer Praxis, politischer Manipulation und politischer Ethik.23 Dass sich diese anthropologische Auffassung von Politik auf der einen und die Reflexionen über das Verhalten des Hofmanns auf der anderen Seite berührten, erscheint evident; gerade die Lehren Graciáns, die stets die Folgen des Handelns klug vorauszubedenken empfahlen, sind nur vor dem Hintergrund der auf dem Prinzip der ‚prudentia‘ basierenden Moral Machiavellis richtig einzuschätzen. Dass Machiavellis und Graciáns von der ‚politischen Bewegung‘ aufgegriffene Gedanken auch auf tiefes Misstrauen stießen, besonders bei überzeugten Christen, verwundert nicht. Sie sahen das Prinzip der Redlichkeit im menschlichen Miteinander grundsätzlich verletzt, wenn sich individueller Utilitarismus ohne Skrupel auf die ‚prudentia‘ berief oder wenn zweifelhafte politische Entscheidungen leichtfertig mit Machiavellis Überzeugung begründet wurden, dass aus Gründen der Staatsnotwendigkeit auch Rechtsverletzungen in Kauf zu nehmen seien. Gerade auch in der Literatur hat die ‚politische Bewegung‘ heftige, sich als ‚Hofkritik‘ äußernde Gegenreaktionen ausgelöst. Dennoch hat diese Kritik nicht verhindern können, dass im Zusammenhang der ‚politischen Bewegung‘ die Gestalt des ‚Politicus‘ zunehmend positiv beurteilt wurde und dass die Begriffe ‚Cavalier‘ und ‚Politicus‘ austauschbar wurden, wenn man die Vertreter der Lebensform des Hofmanns meinte.

Deutsche Literatur

Подняться наверх