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Bidermanns Cenodoxus und Josephus
ОглавлениеDer bedeutendste und erfolgreichste Verfasser von Jesuitendramen, der als Professor am Jesuitenkolleg in München tätige Jakob Bidermann, soll mit seinem 1609 in München aufgeführten Cenodoxus (die Uraufführung fand schon 1602 in Augsburg statt) 14 adlige Hofbeamte so erschüttert haben, dass sie sich zu geistlichen Übungen ins Kloster zurückzogen. Der Cenodoxus redet in der Tat nicht nur den Gymnasiasten (der Münchner Spieler der Titelrolle trat anschließend in den Jesuitenorden ein), sondern vor allem auch der elitär-gebildeten Gesellschaft des Hofes ins Gewissen. Denn das Laster, das der Held, Cenodoxus, vertritt, ist die ‚cenodoxia‘, das Laster der Elite, die geistige Überheblichkeit, die eine Form der ‚superbia‘ ist, der Sünde schlechthin, weil sie das eigensüchtige Ich gegen Gott erhebt. Cenodoxus in Bidermanns Stück ist ein berühmter Pariser Doktor, der sich als Leuchte der Wissenschaft und Muster an Tugend verehren lässt und in seinem Innern ganz der Selbstgefälligkeit verfallen ist. Verschiedene komische Einlagen verdeutlichen seine Ruhmsucht und Aufgeblasenheit. Dieser ganz im Glanz des Weltlebens stehende Mensch wird durch den nahenden Tod vor die Entscheidung zwischen Himmel und Hölle gestellt. Allein diese Entscheidung ist an ihm von Interesse, und an dieser Entscheidung sollen die Zuschauer teilhaben. Der Kampf in seiner Seele und um seine Seele wird von allegorisierten Mächten des Guten und des Bösen geführt. Erst später, z.B. bei Gryphius, vertreibt das Drama des Barock derartige Allegorien in eigene Zwischenspiele, in die ‚Reyen‘; bei Bidermann greifen sie, wie in den ‚Moralitäten‘ (vgl. P. N., 2012 a, V), noch unmittelbar in das dramatische Geschehen ein. So reden u.a. Cenodoxophylax und Conscientia als Personifikationen des Guten sowie Hypocrisis (Gleisnerei) und Philautia (Eigenliebe) als Personifikationen des Bösen auf Cenodoxus ein und suchen ihn für sich zu gewinnen; oder zwingt sein Schutzengel die Teufel, den Schlafenden im Traum die Qualen der Hölle – als Warnung – im Vorhinein spüren zu lassen. Im letzten Akt wird der diesseitige Schauplatz zeitweilig sogar ganz verlassen. Auf der himmlischen Ebene wird ein Verhör des Sünders vor dem Gericht Christi und auf der irdischen Ebene werden die Totenwache haltenden Freunde des Cenodoxus gezeigt, die mit tiefem Entsetzen erleben, wie der Tote sich dreimal von seinem Lager erhebt und schließlich mit dem Ruf „Damnatus sum“ zurücksinkt. Danach folgt, während der Körper des Toten in den Kot geworfen wird, die theaterwirksame Höllenfahrt seiner Seele. Seine Freunde aber, Bruno und seine Gefährten, nehmen nach dieser Erschütterung Abschied von der ‚Welt‘: „Valete, mundi disperite gaudia.“ (Dies spielt auf die Legende des heiligen Bruno von Köln an, der nach einem ähnlichen Erlebnis den Kartäuserorden gründete). So wird den Zuschauern, die anfangs zum Lachen gereizt worden sind und schließlich am Schrecken des Endes eines Sünders und an der Reaktion seiner Freunde teilhaben, drastisch vor Augen geführt, was ihnen selbst zu tun wohl anstünde, nämlich ein entsagungsvolles neues Leben zu beginnen.
Die didaktischen Intentionen der Jesuitendramatiker, für die Bidermann hier exemplarisch steht, sind deutlich. Sie wollten nicht Heilsgeschichte auf die Bühne bringen, sondern bemühten sich, ihrem Publikum die heilsgeschichtliche Dimension des endlichen menschlichen Lebens bewusst zu machen, indem sie das Diesseits als vorausweisendes Abbild des Jenseits ansahen. Solche Sichtweise erhebt den Menschen zu einer grundsätzlich positiven Größe, indem sie ihm die Möglichkeit der Erkenntnis und der eigenen Vervollkommnung zuspricht. Das Heil des Menschen beruht danach nicht allein auf dem Wirken Gottes, sondern ebenso auf der eigenen Mitwirkung – eine Vorstellung, die sich von der Calvinistischen Prädestination und Luthers ‚sola fide‘-Lehre abhebt.54 Anders als Luther und Calvin betonten die Jesuiten gerade die Bedeutung des menschlichen Willens und setzten konsequent alles daran, Einfluss auf ihn zu nehmen. Um dieser Einflussnahme willen sprach ihr Theater ganz bewusst gerade auch die Sinne des Publikums an, weil die Sinne von ihnen als Instrumente der Erkenntnis verstanden wurden und weil sinnliche Erfahrungen als Voraussetzung richtiger Entscheidungen galten. Das in drastischer Bildlichkeit vor Augen geführte Schicksal eines Cenodoxus und der so erzeugte Schrecken über seine Verdammung zielten darauf, im Betrachter den Entschluss zu einem auf die ‚cenodoxia‘ verzichtenden Leben herbeizuführen. Das Stück führt vor, dass diese Möglichkeit auch dem Protagonisten offen gestanden hätte. Insofern ist dessen Schicksal ganz untragisch.55 Denn Cenodoxus steht in keiner unausweichlichen Konfliktsituation, die allein durch seinen Untergang zu überwinden wäre, sondern versäumt lediglich, eine Entscheidung zu treffen, deren Richtigkeit außer Zweifel steht. Der Höllensturz, sofern ihm die Himmelfahrt (als geglaubte Alternative) gegenübersteht, kann gar nicht tragisch sein. So wie Cenodoxus aus freiem Willen der Sünde verfällt, hätte er ihr aus freiem Willen auch entsagen und damit dem Höllensturz entgehen können.
Inwiefern Bidermanns Stück in die Nähe der Fauststoffbearbeitungen zu stellen ist, etwa zu Christopher Marlowes vermutlich um 1592 entstandener, durch die Englischen Komödianten nach Deutschland gebrachter Tragödie The Tragicall History of the Life and Death of Doctor Faustus oder zu Jakob Gretsers Jesuitendrama Udo (1598) oder zu Johann Valentin Andreaes Turbo (1616), muss hier unerörtert bleiben – Max Wehrli hat hierzu interessante Hinweise gegeben.56
Dass der Jesuit Bidermann die Figur des großen, von der Gesellschaft bewunderten Gelehrten als Exempel menschlichen Untergangs wählte, zielte – wie schon angedeutet – durchaus auf das gesellschaftliche Umfeld, auf das sein Stück wirken wollte. Was Cenodoxus als Laster zur Anschauung bringt, trifft genau die Verhaltensweisen, die zur Schattenseite der beschriebenen Lebensform der höfischen Gesellschaft gehören – vor allem die sich aus dem Zwang der Repräsentation und des Rollenspiels ergebenden Prahlereien und Täuschungen, die auch in den Fürsten- und Sittenspiegeln dieser Zeit angeprangert werden.
„Simulare, dissimilare, fingere, tegere
Iactare sua, temnere aliena … –“57
(Übertünchen, täuschen, vertuschen, schwindeln, verheimlichen,
Mit dem Eignen prahlen, Fremdes unterdrücken …)
flüstert die Hypocrisis dem Cenodoxus ein. Der ist nicht mehr der echte humanistische, um Erkenntnis ringende und doch christlich gebundene Gelehrte, der Bidermann als Ideal vor Augen gestanden haben mag, sondern sein die menschliche Größe rhetorisch verherrlichendes, von ‚Ehrgeiz‘ und Eigensucht bestimmtes Zerrbild, derjenige, der das in der Renaissance erwachte ‚Selbstbewusstsein‘ des Menschen in den ‚Egoismus‘ pervertiert.
Die Jesuitendramen übten nicht nur Kritik an der höfischen Gesellschaft, sondern versuchten ihr umgekehrt auch Vorbilder vorzuführen. Auch in dieser Hinsicht war Bidermann wegweisend. Für ihn wie für den Jesuitenorden war beispielsweise der als Nachfolger des kinderlosen Kaisers Mathias designierte steirische Erzherzog Ferdinand, der vorbehaltlos für den Katholizismus eintrat, eine gleichsam heilsbringerische Gestalt. Zu seiner Erhebung als König von Böhmen im Jahre 1617 wurde ein die Josephsgeschichte auszugsweise verarbeitendes Stück von Bidermann aufgeführt (Josephus, Ägypti Prorex. Comoedia, 1615), das den von Gott geleiteten altägyptischen Joseph in Analogie zu dem im Verständnis des Ordens ebenfalls gottgeleiteten Ferdinand zu setzen erlaubte. Bidermann griff damit auf einen seit langem sehr beliebten Stoff zurück, der nicht nur im humanistischen Schuldrama verarbeitet worden war, sondern auch in Volksschauspielen, die sowohl Elemente des spätmittelalterlichen Passionsspiels als auch des Fastnachtspiels weitertrugen.58 An der biblischen Josephsgeschichte, die gerade in den Volksschauspielen eines Jakob Ruef oder Thiebolt Gart schon deswegen breit wiedergegeben worden war, um möglichst viele aktionistische und komische Einlagen unterzubringen, interessierte Bidermann in erster Linie die Tugendhaltung Josephs. Er zeigt (auf der Grundlage der bekannten Geschichte aus der Genesis, den Bibeltext aber eigenwillig akzentuierend) Joseph nicht nur in seiner Standhaftigkeit gegenüber dem Laster (der sexuellen Versuchung), sondern vor allem als ‚humanus princeps‘, der das verbrecherische, ihm nach dem Leben trachtende Verhalten seiner Brüder nach deren Schuldbekenntnis am Ende freundlich vergibt und auf diese Weise in allen eine Wandlung herbeiführt. Auch in diesem Stück haben allegorische Figuren eine entscheidende Funktion. Unter Leitung des Misurgus, des Widersachers schlechthin, versuchen Odium, Ira u.a., Joseph in ihrem Bann zu ziehen; der aber folgt dem Angelus Custos, seinem Engel, der gegen eine ganze Versammlung von Versuchern steht. Die Allegorien dürfen nicht allein als Veräußerungen seelischer Triebkräfte verstanden werden, die den freien Willen des Menschen beeinflussen, sie sind im Verständnis der Jesuiten zugleich auch die Repräsentanten eines überirdischen Kräftefelds, in das der Mensch eingebunden ist. Welchen der überirdischen Kräfte der Mensch folgt, liegt ganz in dessen Entscheidung. Das Theater erhält die Funktion, die Fähigkeit der Erkenntnis von Gut und Böse zu schärfen und den menschlichen Willen zu stärken, den Kräften des Guten zu folgen. Dazu zeigt es Selbsterkenntnis- und Selbstüberwindungsprozesse des Protagonisten, die prägend auf die Betrachter einwirken sollen. Joseph als Vorbild entscheidet sich für den Gnadenstand der Liebe, und die Zuschauer werden ermahnt, dieses Tugendexempel in ihrer Lebenswirklichkeit nachzuahmen. Die Zuschauer dieses Stückes waren nicht nur die Schüler des Münchner Jesuitenkollegs, die mit moraltheologischen Fragen konfrontiert werden sollten, sondern auch die Angehörigen der Hofgesellschaft, auf die Jesuiten als Beichtväter, Prinzenerzieher, Hofprediger und eben auch durch ihr Theater Einfluss zu nehmen suchten. Bidermann stellte daher in seinem Stück die in der Tradition liegende Vorgabe, Josephs Präfiguration als Christus, zurück und setzte Akzente, die eher in das Konzept der Fürstenspiegel gehören.59 Joseph als Fürst folgt bei ihm nicht nur der Richtschnur der Virtus; Joseph prüft seine Räte kritisch und achtet auf deren Wirken im Volk, er ist nachsichtig gegenüber Irrenden, sofern diese ihren Irrtum erkennen, er zeigt Bürgernähe und kümmert sich vor allem um die Armen. „Civem credite/Vestrum, non principem. Ego pater ero pauperum“ („Seht in mir euren Mitbürger, nicht euren Herrscher. Ich werde der Vater der Armen sein“), ruft er in IV,3 nach seinem Aufstieg dem jubelnden Volk zu. Auf diese Weise erhält der Text auch eine politische Dimension. Das Bild des Fürsten, das er zeichnet, sieht diesen als Regenten, der weiß, dass er sich nicht in seinem Wesen von seinen Untertanen unterscheidet, der sie deshalb als Brüder ansieht und der sich vor Augen hält, dass seine Macht etwas Zeitgebundenes und daher Hinfälliges ist.60 In einer Zeit des sich konsolidierenden Absolutismus, der gerade die Sonderstellung des Herrschers hervorhob und organisierte, war dies eine politische Aussage von herausfordernder Schärfe und musste auf das höfische Publikum zumindest irritierend wirken. Genau hierin aber lässt sich der Anspruch des Ordens erkennen. Zwar dachte er nicht ernstlich daran, die erblichen Monarchien durch Wahlmonarchien ersetzen zu wollen, sondern war, schon um sich die eigene Existenzgrundlage zu sichern, an der Kontinuität der Dynastien interessiert, doch versuchte er durch pädagogische Maßnahmen, zu denen das Theaterspiel ebenso wie die Prinzenerziehung gehörte, die Inhaber der Macht zu deren rechtem Gebrauch anzuleiten und ihnen zu verdeutlichen, dass sie sich gerade als Fürsten durch moralische und intellektuelle Qualitäten zu legitimieren hätten.
Auf andere Autoren des Jesuitentheaters muss hier nicht mehr eingegangen werden, weder auf Jakob Pontanus, den Lehrer Bidermanns, noch auf Jakob Masen, der vor allem durch seine für das Jesuitentheater maßgebliche, an die Tragödiendefinition des Aristoteles anknüpfende Poetik hervorgetreten ist (Palaestra eloquentiae ligatae, 1654), noch auf den schon erwähnten Jakob Gretser, um bedeutende zu nennen. Neben Bidermann hat Nikolaus von Avancini in seiner Stellung als Wiener Hofdramatiker einen besonders großen Einfluss auf die feudale Elite genommen. Sein bekanntestes Drama (Pietas victrix sive Flavius Constantinus Magnus de Maxentio tyranno victor), das den Sieg des christlichen Kaisers Konstantin über die Heiden vor Augen führt, wurde 1659 mit allem Prunk als eine Art ‚panegyrisches Gesamtkunstwerk‘61 vor Kaiser Leopold aufgeführt und gipfelte in einer Lobpreisung aller österreichischen Herrscher von Rudolf I. bis Leopold I. als Konstantins Nachfolgern.