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I. Die Lebensform der höfischen Gesellschaft im Zeitalter des Absolutismus und die Literatur des Barock 1. Die Hofkultur des Absolutismus Der Herrschaftsanspruch des absolutistischen Regenten
ОглавлениеDas 17. Jahrhundert war das Zeitalter einer Hofkultur, die sich mit zeitlichen Verschiebungen über ganz Europa ausbreitete. In Deutschland entfaltete sie sich erst nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges, der die kaiserliche Reichsgewalt geschwächt zurückließ und das Erstarken der vielen kleinen und größeren Territorien, in die Deutschland nach dem Westfälischen Frieden zerfiel, begünstigte. Überall in den Residenzen der deutschen Territorialfürstentümer wurden seit der Mitte des Jahrhunderts Schlösser teilweise ausgebaut, teilweise neu errichtet und weitläufige Gärten angelegt. Dahinter stand der Herrschaftsanspruch der Regenten und ihr Wille, Macht zu demonstrieren. Denn der Hof wurde – in Anlehnung vor allem an den Versailler Hof Ludwigs XIV. und den Hof der österreichischen Habsburger in Wien, von denen die größte Ausstrahlungskraft ausging –, nicht nur als ein kulturelles Zentrum, sondern auch als politische Institution verstanden. Als eine solche repräsentierte er die nach den Erschütterungen der Glaubenskriege in ganz Europa sich durchsetzende Staatsform des Absolutismus, die dem Gedanken folgte, dass nur ein starker, unbeschränkter Wille die zerstörerische Selbstsucht des Einzelnen überwinden könne. Dieser Wille wurde dem Fürsten zugesprochen. Da die Frühe Neuzeit in ihren Sozialformen noch weitgehend vom Prinzip des ‚ganzen Hauses‘ geprägt war,1 dessen wesentliche Strukturmerkmale nach Max Weber Befehl und Gehorsam waren, wurde der Fürst immer auch als ‚Landesvater‘ gesehen und so bezeichnet. Theoretisch untermauert wurde diese patriarchalische Herrscherideologie nicht nur von der Souveränitätslehre Jean Bodins (Les six livres de la république, 1576) und Thomas Hobbes (De cive, 1642; Leviathan, 1651), sondern auch von einem Humanisten wie Erasmus, der dem Fürsten den von den römischen Kaisern seit dem 1. Jahrhundert geführten Beinamen ‚pater patriae‘ zuerkannte, und in Deutschland vor allem durch die katechetischen Arbeiten Martin Luthers, der sämtliche Herrschaftspositionen aus der elterlichen Würde ableitete und die ‚weltliche oberkeit‘ ‚ynn den vater stand‘ rückte. Gerade der in den protestantischen Ländern verbreitete, mehr oder weniger verbindliche Katechismusunterricht dürfte die Vorstellung, dass man der Obrigkeit für deren väterliche Fürsorge Gehorsam schulde, fest in der Mentalität breiter, zum größeren Teil noch nicht alphabetisierter Bevölkerungsschichten verankert und dem Absolutismus damit auch eine sichere Grundlage gegeben haben. Aber auch literarisch ist diese Vorstellung weitergetragen und verfestigt worden, sei es in der frühneuzeitlichen Ökonomieliteratur, der so genannten Hausväterliteratur,2 in der Gottvater, Landesvater, Hausvater parallelisiert werden, oder beispielsweise in einem Vorläufer politikwissenschaftlich-theoretischen Schrifttums wie dem viel gelesenen Teutschen Fürstenstaat Veit Ludwig von Seckendorffs.3 Bis heute übrigens setzt die deutsche Bevölkerung den Begriff ‚Staat‘ überwiegend mit ‚Regierung‘ gleich und nicht (wie in Frankreich) mit der Gemeinschaft der Bürger4 – und spricht auch immer noch, mit dem Blick auf erfolgreiche Ministerpräsidenten, von Landesvätern – Belege für das lange Fortwirken eines jedenfalls den Bedingungen der modernen Demokratie nicht mehr entsprechenden Bewusstseins.
Das politische Ziel des höfischen Absolutismus, der sich in Deutschland anders als in Frankreich als Territorialabsolutismus verwirklichte, lag in der Zurückdrängung des ständisch-adligen Mitbestimmungsanspruchs und in der Vereinigung aller herrschaftlichen Gewalt in der Hand der Fürsten. Dabei sollte der mittlere und niedere Adel keineswegs beseitigt, sondern lediglich domestiziert, dem Herrscherwillen dienstbar gemacht werden. Überall tendierten die deutschen Territorien zum Aufbau stehender Heere, zur Einrichtung von Zentralbehörden (für Finanzen, für Justizangelegenheiten, für die Militärverwaltung usw.), überall wurden von den fürstlichen Landesherren ständische Privilegien aufgehoben, willkürliche Steuern eingefordert, auch Befugnisse in Glaubensfragen beansprucht. Von staatlichen Eingriffen war auch die merkantilistische Wirtschaftspolitik bestimmt, die u.a. den Außenhandel so steuerte, dass möglichst viel Geld und Edelmetalle ins eigene Land strömten, wozu gezielt diejenigen Wirtschaftszweige entwickelt wurden, deren Produkte auf ausländischen Märkten gute Absatzchancen hatten. Obrigkeitliche Planung führte in den verschiedensten Lebensbereichen zu einer derartigen Fülle von Regulierungen und Reglementierungen, dass man mit Recht von einer ‚Sozialdisziplinierung‘ der Untertanen gesprochen hat.5
Der Mittelpunkt der politischen Willensbildung, der fürstliche Hof, der, wie Friedrich III. anlässlich des Neubaus des Berliner Schlosses formulierte, „nicht aus Lust, sondern aus Necessität“ geführt wurde,6 war neben dem stehenden Heer, dem bürokratischen Beamtentum und dem rational ausgeklügelten Finanzsystem ein eigenes Herrschaftsinstrument, das die fürstliche Macht wesentlich unterstützte.7 Mit seiner Prachtentfaltung wurde der Hof zu einem an oströmische Traditionen erinnernden Raum des Herrscherkults,8 der den Untertanen verdeutlichen sollte, welch unüberwindliche Distanz sie vom Herrscher trennte. Dazu dienten nicht nur die zu den verschiedensten Anlässen arrangierten Festlichkeiten (vgl. u.), die mit großem materiellen Aufwand betrieben wurden und durch demonstrativen Konsum das soziale Prestige des Herrschers erhöhten, sondern auch die eingeschränkten und genau organisierten, ältere und offenere Formen patriarchalischer Verbundenheit ablösenden Auftritte des Herrschers vor der applaudierenden Staffage seiner Untertanen sowie das Zeremoniell des Hofes selbst, auf das noch genauer einzugehen sein wird. Mentalitätsgeschichtlich ist in diesem Zusammenhang nicht ohne Interesse, dass beide im Absolutismus gängigen Formen der Prestigegewinnung – sowohl der zur Schau gestellte Konsum als auch die Distanzierung des Machtträgers durch ritualisierte Handlungen – ihre suggestive Wirkung ganz offensichtlich noch in den nivellierten Industriegesellschaften der Gegenwart auszuüben vermögen. Indem der Hof des Absolutismus durch Festlichkeiten und Zeremoniell die Würde des Herrschers unterstrich, radikalisierte er zugleich dessen Anspruch auf ‚Herrschaft von Gottes Gnaden‘, wobei ihm jegliche Erinnerung daran verloren ging, dass mit dieser Formel auch einmal die Demut vor Gott gemeint war.