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Sprachschulung und Sprachgesellschaften

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Zu den ‚politischen‘ Qualifikationen der Hofleute gehörte eine hoch entwickelte Sprachschulung. Wer im taktischen Spiel der Interessen seine eigenen Worte kontrollieren und wirkungsvoll einsetzen wollte und zugleich die Worte des Gegenübers danach abzusuchen gewohnt war, ob sich in ihnen auszunutzende Schwachstellen offenbarten, musste das sprachliche Handeln möglichst perfekt beherrschen. Und wenn sich Hofleute gar als Schauspieler auf der Bühne des politischen Welttheaters verstanden, das der Hof für sie bedeutete, so musste ihnen das Wort als das ihnen gemäße Medium erscheinen und seine Beherrschung als die entscheidende, sie selbst in ihrer Bedeutung bestätigende Fähigkeit. Die Notwendigkeit, diese Fähigkeit als Voraussetzung für persönlichen Erfolg zu erlangen, und die Aufwertung der Rhetorik als eines Mittels höfischer Politik hat eine Unmenge von deutschsprachigen Lehrbüchern der Rhetorik und ‚Briefstellern‘ entstehen lassen, die dann auch ihre Wirkung auf die Rhetorik als Bildungsdisziplin nicht verfehlt und im Übrigen natürlich auch die Dichtung beeinflusst haben, zumindest soweit diese an den Hof und die höfische Gesellschaft gebunden und damit öffentlich und repräsentativ war.24 Gerade die am Hofe und unter Hofleuten vorgetragenen Gelegenheitsdichtungen, zu denen sich auch viele der großen Autoren des 17. Jahrhunderts hergeben mussten, sind intentional bestimmt und bieten alle geeigneten rhetorischen Mittel auf, um einflussreiche Gönner zu gewinnen oder zu beeinflussen. Unter den vielen Rhetoriken war die bedeutendste der 1677 erschienene Politische Redner des Weißenfelser Rhetorikprofessors und Zittauer Gymnasialrektors Christian Weise, dem es mit seinem Buch gelang, die Dynamik der ‚politischen‘ Bewegung in die deutsche Rhetoriktheorie zu leiten. Er behandelt die humanistische Schulrede, das höfische Komplimentierwesen („Worinnen die Complimenten bestehen“), die höfische Gelegenheitsrhetorik („Was bey hohen Personen/sonderlich vor Hofe/vor Gelegenheit zu reden vorfällt“), die bürgerliche, die akademische Beredsamkeit u.a.m., fügt auch eine Übung im Briefschreiben hinzu. Was alle Kapitel verbindet, ist die ‚politische‘ Zielsetzung. „Das ist gewiß/wer ein gelehrter Politicus heissen wil/der muß bey guter Zeit auff sein Mund-Werck bedacht seyn“, lautet der Kernpunkt seines Programms, das sich vor allem an die neue breite Schicht der immer unentbehrlicher werdenden Beamtenaristokratie richtet, die zwischen feudalistischem Adelsbewusstsein und humanistischer Gelehrsamkeit Orientierung suchte25 und sie in der ‚politischen‘ Lebenslehre, in der Vorstellung des rhetorisch versierten Hofmanns fand. Genügend Gelegenheit rhetorisch in der Gesellschaft zu glänzen und bei Vorgesetzten oder Gönnern oder dem Regenten selbst eine ‚gute Opinion‘ zu wecken (alles Antriebe, die – wenn auch unter anderen Vorzeichen stehend – bis heute in der so genannten ‚guten Gesellschaft‘, zumal auch in akademischen Kreisen, eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen), fanden die ‚Politici‘ auf diplomatischen Empfängen, bei Verhandlungen, im Kabinett, auf Hoffesten, und bei diesen Gelegenheiten konnte sich auch ihr Konkurrenzwille entfalten. So wurde rhetorische Befähigung zu einem Hebel individuellen Erfolgs; was im Rahmen humanistischer Gelehrsamkeit weitgehend noch theoretisches Wissen und auch Selbstzweck geblieben war, fand am Hofe reale Anwendungsmöglichkeiten. Entsprechend verstand Weise seinen Politischen Redner auch ganz entschieden als Propädeutik, als Instrument persönlichen Erfolgsstrebens: Auf Knappheit, Klarheit und Fasslichkeit des Vortrags sollte es ankommen, auf das gut gewählte Beispiel, auf die Fülle der Wirklichkeitsbezüge, aber auch auf die Lockerheit und sogar den Humor des Vortrags u.a.m. Dass Weises Rhetorik so einflussreich und breitenwirksam wurde, lag nicht zuletzt daran, dass seine auf praktikable Vorschriften ausgerichtete Konzeption auch dem bürgerlichen Publikum verwendbar erschien, das sich – nachahmend – diejenigen rhetorischen Rezepte aneignete, die für das eigene Fortkommen zweckdienlich erschienen. Die zahlreichen rhetorischen Handbücher, die gerade in der zweiten Hälfte des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts publiziert wurden,26 sind sämtlich aus den Ansätzen des Politischen Redners hervorgewachsen. – Der rhetorische Stil, der bei Weise ‚politisch‘ hieß, fand in anderen Rhetoriken andere Epitheta. Nahezu bedeutungsgleich erscheint das Wort ‚galant‘, das auch in die literarische Gattungstheorie einging (vgl. u.); ‚galante‘ Rhetorik war ‚politische‘ Rhetorik – allerdings mit stark französisierendem Akzent, was sich besonders im Briefstil der Galanten bemerkbar machte. Die utilitaristische Zielsetzung hatte der galante mit dem politischen Stil gemeinsam, und die Beweglichkeit, die all die Rhetoriken dieser Zeit im Sprachlichen forderten, entsprach der Elastizität, die als Lebenshaltung des Hofmanns galt. Zu dieser Elastizität gehörte auch eine entsprechende Mimik und Gestik, die als Lehre von der ‚actio‘ in vielen Rhetoriken mitbehandelt wurde.27 Auch der Körper sollte ein Instrument der Konversation sein, das Wort durch das Mienenspiel des Sprechenden und durch sein ganzes Auftreten unterstützt, das Geistige möglichst auch visuell sichtbar werden. Dass gerade der genau kalkulierte und viel Aufmerksamkeit erfordernde Gebrauch rhetorischer (die non-verbale Kommunikation einschließender) Mittel zugleich in besonderem Maße auch der ‚Bändigung der Affekte‘ diente, von der die ganze Hofkultur bestimmt wurde,28 ist dabei nicht zu übersehen. Im Übrigen nahmen auch die weiblichen Angehörigen des Adels am ‚höfischen Stil‘ teil. Besonders einflussreiche rhetorische Anleitungen für Frauen wurden die 1596 in Straßburg erschienene Schatzkammer/Schöner/zierlicher Orationen/Sendbriefen/Gesprächen … und dergleichen und später Georg Philipp Harsdörffers Frauenzimmer-Gesprechspiele (1641–49).

Was in den rhetorischen Lehrbüchern niedergelegt wurde, das wurde in den pädagogischen Institutionen geübt. In ihnen allen, ob in den Ritterakademien, Jesuitengymnasien, protestantischen Gelehrtenschulen, an den Universitäten, war die Rhetorik Unterrichtsfach, wurde disputiert, deklamiert oder Theater gespielt, damit rhetorische Muster sich einprägten und die Geschicklichkeit im mündlichen Ausdruck sich steigerte. Welches Gewicht dem Rhetorik-Unterricht zukam, wird nicht zuletzt auch in der Kritik an ihm deutlich. Viele beklagten, dass neben dem ‚eloquentia‘-Betrieb die gründliche Denkschulung zu kurz komme oder dass über der Verbalbildung die Realdisziplinen vernachlässigt würden.29 Pädagogisch umstritten war zudem während des ganzen 17. Jahrhunderts die Rolle des Lateinischen gegenüber der deutschen Muttersprache. Von dieser Auseinandersetzung war die Rhetorik als Fach deswegen besonders betroffen, weil sie lateinisch tradiert worden war, und trotz des Durchbruchs der deutschsprachigen Gelehrtendichtung (vgl. u.) und des Eintretens bedeutender Reformpädagogen für einen muttersprachlichen Unterricht ist die Rhetorik im Wesentlichen lateinisch geblieben – ganz anders als ihre Schwesterkunst, die Poesie, die sich zunehmend das Deutsche eroberte, das sich allmählich auch auf dem Schultheater durchsetzte. Die rhetorische Ausbildung junger Adliger übernahmen vor dem Universitätsstudium in der Regel Hofmeister oder Ritterakademien. Als Hofmeister waren an katholischen Höfen meist Jesuiten tätig, wie überhaupt an katholischen Höfen Einfluss zu nehmen ein Hauptziel des Jesuitenordens gewesen ist, während an protestantischen Höfen viele bürgerliche Gelehrte und auch Schriftsteller zumindest zeitweilig die Stellung des Hofmeisters einnahmen – im 17. Jahrhundert unter vielen anderen Birken, Gerhardt, Gryphius, Klaj, Moscherosch, Neander, Opitz, Schupp, Weise und im 18. Jahrhundert Fichte, Gellert, Gottsched, Hamann, Hegel, Hölderlin, Jean Paul, Kant, Klopstock, Lenz, A. W. Schlegel, Schleiermacher, Wieland u.v.a. Während die Hofmeister sich im Wesentlichen um die Vermittlung grammatikalischer, rhetorischer, poetischer Kenntnisse bemühten und sich dabei, z.B. wenn sie ihre Zöglinge auf den Kavalierstouren begleiteten, auch selbst weiterbilden konnten (z.T. aber auch einfach als Lakaien ausgenutzt wurden – man vgl. etwa die Tragikomödie Der Hofmeister oder Vortheile der Privaterziehung (1774) von Jakob Michael Reinhold Lenz [vgl. II]), wollten die Ritterakademien den jungen Adligen darüber hinaus auch die traditionellen ritterlichen Umgangsformen anerziehen. Dazu gehörten Waffenübungen, Reiten, Tanzen, Fechten, und auch die gelehrten Studien waren stärker auf die Aufgaben künftiger politischer Führungskräfte zugeschnitten und schlossen Politik, Römisches Recht, Geschichte und moderne Sprachen als Lehrfächer ein. Schon die Angehörigen des niederen Adels aber konnten sich die Erziehung auf den kostspieligen Ritterakademien nicht leisten. Sie schickten ihre Kinder zusammen mit den Kindern des gehobenen Bürgertums auf die Gymnasien, je nach Konfessionszugehörigkeit auf die protestantische Gelehrtenschule oder auf das Jesuitengymnasium. Der Rhetorikunterricht auf den protestantischen Schulen war während des 17. Jahrhunderts im Wesentlichen durch Lehrbücher bestimmt, die in der Tradition Philipp Melanchthons und Johannes Sturms standen und die, wie die einflussreichen Bücher von Gerhard Johannes Vossius und Christian Weise, viel Wert auf praktische Übungen legten. Zu den Gedächtnisleistungen des freien Vortrags gehörte immer auch die überzeugende Darbietung, die actio, um deren Vervollkommnung man sich intensiv bemühte. Der Darbietung des Gelernten dienten u.a. besondere Schulveranstaltungen, die rhetorischen Schulactus, die der Öffentlichkeit zugleich Rechenschaft über die Fortschritte der Schüler geben sollten. Auf solchen Veranstaltungen, für die es genügend Anlässe gab (u.a. kirchliche Feste, Examina, Gedenktage für Gönner, auch politische Ereignisse), wurde nicht nur deklamiert, sondern eben auch Theater gespielt (vgl. P. N., 2012 a, V) – unter Christian Weises Einfluss immer häufiger in deutscher Sprache. Viele der gelehrten Autoren dieser Zeit und viele ihrer Kunstdramen sind aus der geschichtlichen Realität des Schultheaters hervorgegangen – dies gilt für Johann Rist ebenso wie für Andreas Gryphius, Caspar Lohenstein oder Johann Christian Hallmann (vgl. u.) – und diese Realität ist von ihnen auch nie verdrängt oder geleugnet worden. Auch auf den Jesuitengymnasien orientierte sich der Rhetorikunterricht am humanistischen Ideal der ‚eloquentia‘, und auch auf ihnen galt der rhetorischen Praxis große Aufmerksamkeit. Dabei war der Unterricht von vornherein stark instrumentalisiert, weil sich die rhetorischen Übungen im Sinne der Gegenreformation vornehmlich auf die Verbreitung des rechten Glaubens, die Widerlegung der Ketzer und die Rückeroberung der vom Katholizismus Abgefallenen bezogen.30 Diese Zielsetzungen verfolgten im Wesentlichen auch die an den Schulen gespielten Theaterstücke. In den Aufführungen, die gezielt die Affekte der Zuschauer anzusprechen suchten, kam der Mimik und Gestik besondere Bedeutung zu; die Ausdrucksmöglichkeiten der einzelnen Körperteile waren Gegenstand der Theatertheorie. Dass auch Musik und Ballett in die Aufführungen integriert wurden, dass die Pracht der Ausstattung, dass akustische und optische Effekte ein immer größeres Gewicht erhielten, entsprach nicht nur der propagandistischen Intention der Stücke, sondern unterstützte auch den nachdrücklich verfolgten Plan, das Schultheater auch als Hoftheater zu etablieren (vgl. u.).31

Was an den Gymnasien an Rhetorik gelernt worden war, kam schließlich an den Universitäten voll zur Geltung. Die an ihr (schon seit dem Mittelalter) geübte Praxis der Disputation, bei der eine bestimmte Anzahl von Thesen kontrovers diskutiert wurde, diente der Schulung sowohl des Denk- als auch des Redevermögens, förderte die Präsenz des Wissens ebenso wie die Schlagfertigkeit der Entgegnung, freilich auch die Streitsucht und abwegige Spitzfindigkeit und damit den akademischen Leerlauf. Ob aktiv teilnehmend oder nur zuhörend, kamen die Studenten ständig mit dieser Praxis in Berührung; sie konnten Rhetorik zudem gesondert als Studienfach belegen. Für die Wirkung der Rhetorik auf die Hofkultur ist es von Bedeutung, dass auch die Universitäten ihre Beziehungen ‚nach oben‘ zu kultivieren hatten. Sie waren finanziell vom Landesfürsten und von adligen Gönnern abhängig und waren gehalten, bei den unterschiedlichsten Gelegenheiten (bei besonderen Ereignissen im Herrscherhaus, bei Besuchen ausländischer Potentaten u.ä.) mitzuwirken und Festakten durch rhetorische und poetische Beiträge ein feierliches Gepräge zu geben.

Der Rhetorik im weitesten Sinne, vor allem aber poetischen Übungen, für die eine gelehrte philologische Vorbildung als unerlässlich galt, dienten auch die nach dem Vorbild italienischer Akademien organisierten Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts, zu deren bedeutsamsten die ‚Fruchtbringende Gesellschaft‘ (gegründet 1617), die ‚Deutschgesinnte Genossenschaft‘ (gegründet 1643), der ‚Pegnesische Blumenorden‘ (gegründet 1644) und der ‚Elbschwanenorden‘ (gegründet 1658) gehörten. In ihnen kamen wie schon auf den Gymnasien und Universitäten Adlige und Bürgerliche zusammen, schienen die Standesgrenzen, die in diesen Institutionen im gemeinsamen Lernen einerseits überbrückt wurden, andererseits aber durch die aufwändigere Lebenshaltung vieler junger Adliger sehr deutlich im Bewusstsein blieben, überschreitbar zu werden. Die Mitgliedschaft vieler Adliger in den Sprachgesellschaften erleichterte deren Anerkennung an den Höfen, an denen Festreden und poetische Produktionen, Panegyrik zumal (also der rhetorisch ausgeschmückte Preis hoher Persönlichkeiten, ihrer Taten, aber etwa auch neuer Institutionen), stets willkommen waren. Dass diese Gesellschaften auch literarhistorisch bedeutsam wurden,32 verdanken sie ihrem entschiedenen, zum Teil ausgesprochen kulturpatriotischen Eintreten für das Deutsche als Sprache der Literatur (was zugleich zu manchen sprachpuristischen Aktivitäten und einem bald lächerlich wirkenden Anti-Fremdwörter-Eifer führte) und zahlreichen Übersetzungen literarischer Texte ins besondere aus den romanischen Volkssprachen. Aber gerade die soziale Funktion der Sprachgesellschaften ist daneben nicht zu übersehen. Die in ihnen tätigen bürgerlichen Humanisten nutzten sie als Möglichkeit, sich gegenüber den insgesamt eher unproduktiven adligen Mitgliedern zu profilieren und sich durch den Aufbau der – sehr lange wirksam gebliebenen, auch Kompensationsfunktionen übernehmenden – Vorstellung eines alle Standesgrenzen überwindenden ‚geistigen Adels‘ gesellschaftlich aufzuwerten.

Die – unterschiedlich weit reichende – Erhebung einzelner, zumal gelehrter, Bürgerlicher in die gesellschaftlichen Eliten ist durch die zersplitterten Herrschaftsstrukturen in Deutschland sicherlich begünstigt worden. Anders etwa als im zentralistischen Frankreich, wo sich der Adel stärker einheitlich zusammenfügte, boten die vielen kleinen territorialen Hofgesellschaften (die sich im 19. und noch im 20. Jahrhundert in den ‚guten Gesellschaften‘ lokaler Gutsherren und der städtischen Aristokratie fortsetzten und im Offizierskorps oder in Studentenverbindungen nachgebildet wurden) dem bürgerlichen Aufstiegswillen vielfältige Chancen, förderten zugleich aber auch die Kontrolle des Verhaltens, das „gegenseitige Abschätzen des Status- und Prestigewertes der Zugehörigen“.33 Insgesamt aber waren die Hofgesellschaften und die späteren „guten Gesellschaften“ auch in Deutschland darum bemüht, möglichst ‚unter sich‘ zu bleiben. Das veräußerlichte Verständnis persönlicher Ehre, das in ihnen herrschte und das die Satisfaktionsfähigkeit (das Recht, sich nach Ehrverletzungen mit der Waffe im Duell zu schlagen) nur den Angehörigen der eigenen, nach unten hin zu nehmend durchlässigen, Schicht zubilligte, ist dafür ein beredtes Zeugnis.

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