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Yosemite

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Es geht mir heute Morgen noch immer nicht besser. Ich fühle mich komplett verkatert. Aus meinem Appartement schaue ich in Richtung Bucht und sehe die Skyline. Ich werde Michael um ein Schmerzmittel bitten müssen. Ich esse noch ein Stück trockenes Brot. Mein Mund fühlt sich trocken an. Wieder hatte ich Durchfall. Ich muss trinken. Da entdecke ich einen kleinen Medikamentenschrank in der Küche. Nurofen. Lange bewährt. Ich nehme gleich zwei Tabletten ein. Ich setze mich nochmals auf einen Sessel im großzügigen Wohnraum. Man soll ja eine halbe Stunde Ruhe halten, wenn man Tabletten genommen hat. Außerdem hämmert mein Kopf ohnehin bei jeder Bewegung. Ich schließe meine Augen und reibe mit der rechten Hand über die Augenlider. Ich denke an Laura. Das Stillsitzen tut mir gut. Und allmählich gehen tatsächlich die Kopfschmerzen vorbei. Es geht besser. Ich stecke die Medikamentenschachtel mit dem Nurofen in meine Manteltasche. Dann gehe ich hinüber zum Diagnosezentrum. Michael ist schon da. Dabei ist es erst 7.00 Uhr. Manchmal denke ich, er schläft nie.

„Du bekommst bis einschließlich Donnerstag Urlaub“, ruft mir der Radiologe heiter schon beim Betreten des Kontrollraums vor dem Tomographen zu, „wir haben jetzt alle Daten. Es ist perfekt.“

„Du, Michael, wie kann ich das verstehen, dass der andere Arzt gestern sagte ‚Bei ihm muss das Implantat perfekt passen.‘?“

„Es ist doch klar, dass das neuronale Implantat perfekt passen muss. Mache dir keine Gedanken“, beschwichtigt Michael.

Schnell bin ich überzeugt. „Das heißt, ich kann jetzt gehen?“, versichere ich mich.

„Ja, auf, mach dich auf den Weg. Zwei freie Tage. Das hattest du zuletzt zu Weihnachten. Mach‘ etwas draus, genieß‘ die Zeit!“

„OK. Dann nehme ich jetzt die Fähre zurück aufs Festland.“ Ich verabschiede mich und gehe. Schleuse. Fähre. Fisherman’s Wharf. Wenn ich schnell genug bin, dann treffe ich Laura noch zuhause an, bevor sie zur Arbeit geht. Mein Chrysler fährt mich sicher und schnell nach Sausalito. Laura wird sich über zwei freie Tage freuen. Vielleicht kann sie sich ja auch kurzfristig freinehmen.

Ich entdecke Laura in der Küche. Sie freut sich, als ich sage, dass ich frei bekommen habe und denkt gleich laut nach: „Shannon wollte diese Woche ursprünglich Urlaub nehmen. Dann kam bei ihr etwas dazwischen. Jetzt ist sie diese Woche doch da. Und ich könnte mir frei nehmen. Shannon kann meine Arbeit auch tun. Jack wird das so ohnehin viel lieber sein.“

„Laura, ruf doch einfach deinen Chef an. Es ist jetzt 8.00 Uhr. Vielleicht triffst du ihn schon an.“

„Ganz sicher. Er ist morgens immer der Erste im Haus. Er fängt deutlich früher an als ich.“ – Laura greift zum Mobiltelefon, das vor ihr auf dem Esstisch liegt. – Gleich hat sie ihn am Apparat: „Hi, Jack, guten Morgen. Wäre es OK, wenn ich mir diese Woche frei nehme? … Ja. Shannon ist da … OK. Danke.“ – Sie beendet das Gespräch. Mit einem Lächeln legt sie das Mobiltelefon wieder auf den Tisch. Dann steht sie auf und umarmt mich lange. Ich genieße ihre sanfte Wärme und ihr duftendes Haar.

– „Ich liebe dich so sehr. Du weißt gar nicht, wie sehr, John.“

Ich tippe sanft auf ihre Stirn und gebe lächelnd zurück: „Doch. Das weiß ich. So sehr. Und ich liebe dich auch.“ – Es ist ein wundervoller Moment.

„Was hältst du davon, wir fahren raus in die Natur?“, fragt mich Laura vergnügt.

„Wäre perfekt.“

„Zum Yosemite-Nationalpark?“, schlägt sie vor.

„Yosemite? Phantastische Idee. Da waren wir schon so lange nicht mehr.“

„OK, ich packe sofort Kleidung und Proviant. Bringst du das Zelt und die Schlafsäcke in den Wagen?“

„Klar.“

– Schnell ist unser Automobil bepackt. Der Chrysler nimmt den Weg über die Brücke des Golden Gate, er fährt uns quer durch San Francisco und überquert die Oaklandbridge. Wir halten wie frisch verliebt unsere Hände, als uns der Wagen viele Meilen an dem riesigen Windkraftpark vorbeiführt. Wir lassen ihn erst nach einer halben Stunde hinter uns. Weitläufige Plantagen mit Obstbäumen grenzen von links und rechts an den Highway. Nach den Plantagen folgt eine Landschaft mit karger Vegetation, gelben Feldern, kaum einem Baum, hier und da einem Strauch. Unser Chrysler entscheidet, nun Strom zu tanken. Mein Kopfschmerz meldet sich zurück. Ich sage nichts zu Laura. Ich will nicht, dass sie sich beunruhigt. Aber die Tankpause kommt mir gerade recht. Im Kofferraum suche ich nach meinem Mantel mit dem Nurofen, während unser Fahrzeug über der Kontaktschleife binnen Sekunden auftankt. Nein. Ich habe den Mantel zuhause liegen lassen. Kein Problem. Ich gehe zum Zahlen ins Geschäft. Sie haben Nurofen. Ich kaufe eine große Packung. Sofort nehme ich zwei Tabletten im Laden. Laura soll nichts merken. Dann gehe ich kurz auf die Kundentoilette. Durchfall. Wieder. Ich kehre zu Laura zurück.

– „Alles OK?“

„Alles OK“, erwidere ich. Wir fahren weiter. Nach insgesamt vier Stunden Fahrzeit mündet unsere Straße in einem dichten Wald. Yosemite steht auf einer Tafel am Eingang zum Nationalpark. Meine Kopfschmerzen habe ich mit dem Nurofen gut im Griff. „Ich übernehme“, teile ich dem Bordcomputer mit. – „Sie übernehmen“, bestätigt das System und gibt mir die Steuerung frei, nachdem Lenkrad, Gas- und Bremspedal ausgefahren sind. Ich fahre uns durch das Yosemite Valley.

„Hier ist es einfach total wunderschön“, schwärmt Laura, „lass uns anhalten.“

Ein Gebirgsfluss geht durch das Valley. Wir steigen aus und lassen den Wagen einparken. Durch die Klimaanlage haben wir nicht bemerkt, wie warm es heute ist.

„Ja, es ist herrlich heute“, gebe ich zurück. Neben einer Brücke stehen drei Umkleidekabinen. Spontan öffne ich unsere Reisetasche und greife nach den Badesachen: „Ich gehe baden!“

Laura lacht mich ausgelassen an. – Während ich meine Badehose anziehe und dann zum Fluss renne, macht Laura mit ihrem Mobiltelefon ein paar Fotos von mir und feuert mich an. Ich merke sofort, dass das Wasser sehr kalt ist und wie Nadelstiche schmerzt. Ein paar Züge schwimme ich durch den Fluss. Dann kehre ich schnell zum Ufer zurück. Doch ich fühle mich beim Verlassen des Wassers herrlich erfrischt.

Laura bringt mir schon das Badetuch: „Wollen wir noch ein Stück mit dem Auto fahren und dann unser Zelt aufschlagen?“

„Ja, das ist eine gute Idee. Ich trockne mich nur ab und zieh mich wieder um.“

Wir fahren an das Ende des Valleys. Ich hole das Zelt aus dem Kofferraum. Es entfaltet sich selbständig und steht in einer Minute fertig da. Ich finde, dass das immer total spannend aussieht, wie die kleinen Motoren die Heringe des Zeltes automatisch in den Boden treiben und der Anteil, der aus der Erde schaut, kontinuierlich kürzer wird. Nach dem Schauspiel des Zeltaufbaus hole ich den Rucksack mit dem Proviant, befestige an ihm einen Karabinerhaken und ziehe ihn mit einem Seil zur Spitze eines der vielen Holzmasten, die hier stehen, hoch. – „Nur für den Fall, dass heute Bären unterwegs sind“, bemerke ich kurz und zwinkere Laura zu.

„Lass uns zum Diner gehen, und wir essen dort zu Mittag“, schlägt Laura vor.

Ich stimme sofort zu. Jetzt, glaube ich, kann ich wieder etwas essen. Das Rumoren in meinem Bauch ist schon weniger. Und trinken muss ich auch. Ich habe unendlich Durst. Wir gehen zurück in Richtung Valley und kommen zu einem der großen Blockhäuser mit großzügiger Holzterrasse. Hier sitzen schon einige Gäste draußen in der Sonne und nehmen eine Mahlzeit ein. Wir setzen uns an einen der letzten freien Tische des Restaurants und bestellen zwei Steaks. Die Frühlingssonne scheint warm auf uns herab, aber es ist nicht so warm, dass wir den Schatten suchen müssten. Wir sitzen, und ich blinzele gerade in die Sonne, als Laura mich unvermittelt fragt: „Ist Peter eigentlich zurück aus seinem Urlaub?“

– Mein Freund ist schon seit drei Wochen weg. – „Nein, ich habe ihn nicht mehr gesehen. Er wollte eigentlich nach zwei Wochen wieder da sein. Vielleicht ist er krank?“, mutmaße ich.

„Du könntest dich doch einmal bei ihm melden“, schlägt Laura vor.

„Ja, das werde ich tun.“

– Ich denke kurz nach. Dann sage ich: „Du, ich rufe ihn sofort an.“ – Mit einer Handbewegung ziehe ich mein Mobiltelefon aus der Hosentasche und wähle Peters Nummer. Es läutet lange. Keine Reaktion. Niemand hebt ab. – „Vielleicht ist er heute wieder auf Biophysical Island? Ich werde am Freitag im Betrieb nach ihm fragen.“

„Gut.“

Unser Essen kommt. Ich gedulde mich, während Laura ein kurzes Gebet spricht. Mir ist nicht klar, was ihr das bringt. Sie schaut mich dann immer an wie ein Kind. Während wir essen, legt Laura das Besteck auf einmal zur Seite: „John, ich hatte wieder diesen Traum. Das Wasser kam wieder aus einer gemauerten Wand. So wie das letzte Mal. Doch diesmal ging ich tiefer in den Strom. Das Wasser ging mir diesmal bis zu den Knien. Wieder wurde ich mitten im Traum wach und konnte mich an jedes Detail erinnern. Was hat das nur zu bedeuten?“

„Keine Ahnung. Wahrscheinlich hat das gar nichts zu bedeuten.“ – Noch immer bin ich sehr durstig. Ich trinke ja wirklich ausreichend. Ich bestelle mir einen zweiten Liter Mineralwasser mit Gas. Ich fühle mit der Zunge die wunde Stelle an meinem Gaumen. Sie ist nicht größer geworden.

Laura bemerkt mein Pausieren und runzelt die Stirn. Sie vergewissert sich: „Ist alles in Ordnung?“

Ich nicke und setze das Essen fort. Schon bald sind wir fertig und legen Messer und Gabel satt zur Seite: „Das war gut“, stellt Laura fest.

„Ja, das Essen war gut.“

Laura schlägt vor: „Wir könnten weiter wandern. Auf der Karte habe ich einen Wasserfall gesehen.“

„Laura, das ist eine gute Idee. Das machen wir.“

Auf der Wanderung ist Laura dann sehr still. Hängt sie irgendwelchen Gedanken nach? Mein Bauch meldet sich wieder. Ich hätte im Restaurant die Toilette aufsuchen sollen. Na, es wird schon gehen.

Dann wird die Gesprächspause jäh unterbrochen. Laura spricht ganz aufgeregt, wie gehetzt: „Bitte mache nicht mit. Ich habe vor der Operation Angst. Ich habe Angst, dass du danach nicht mehr derselbe bist.“

Ich kann ihre Sorgen nicht wirklich verstehen: „Du musst die Chancen sehen, die sich mit diesem XEQ-Implantat auftun. Und schau einmal, die Absatzmärkte betreffen ja nicht nur Chirurgen. Wir können auch die besten Musiker erschaffen, wenn wir das motorische Geschick von Pianisten, Violinisten, Flötisten und Trompetern in den XEQ-Chip einspielen. Jeder Beruf, der motorisches Geschick verlangt, wird von unserer Technik profitieren.“ – Ich schaue Laura an. Ich setze hinzu: „Habe keine Angst. Vertraue. Und gern kannst du auch für die Sache beten.“

– Laura antwortet nichts darauf. Sie schaut mich nur lange an und wendet ihren Blick dann ab. Schließlich treffen wir bei den Wasserfällen ein. Der Wind treibt Tropfen des Wasserfalls zu uns. Ich ziehe meine Schuhe und Socken aus, setze mich auf einen Stein und lasse meine Füße in den brausenden Fluss baumeln. An dem warmen Frühlingstag tut das kühle Wasser gut, das meine Beine umfließt.

Ich sehe, dass Laura noch immer intensiv nachdenkt. Sie bleibt schweigsam. Und ich auch. Was könnte ich noch sagen?

Deep Dream

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