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Arbeitstag

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Das war gestern ein schöner Sonntagsausflug mit Laura. Wir konnten so gut reden, und das Projekt hat sie sehr beeindruckt. Ich sehe sie noch vor mir, in ihrem schwarzbraunen Kleid, das ich so sehr mag. Ich sehe ihre dunkelblonden, gelockten und schulterlangen Haare, ihre grünen Augen in ihrem Gesicht mit den weichen Zügen. Alles an ihr liebe ich.

Meine Augen wandern über die Bucht. Die Fähre legt im Hafen von Fisherman’s Wharf an. Alle Fahrgäste sind Mitarbeiter von Biophysical Implants. Aus Sicherheitsgründen wird bei jedem Passagier ein Irisscan und ein biometrischer Abgleich des Gesichts vorgenommen. Ich bin schnell an der Reihe und setze mich dann auf einen der Plätze unter der Glaskuppel der Fähre. In der Ferne erkenne ich die kleine Insel in der Bucht im morgendlichen Nebel nur schemenhaft.

Früher war auf ihr ein Hochsicherheitsgefängnis. Im ersten Sezessionskrieg diente sie als Lager für die Kriegsgefangenen der Nordstaaten. Vor nahezu hundert Jahren wurde das Gefängnis aufgegeben und die Häuser standen seither leer. Biophysical Implants erschien der Ort mit seinen rauen Felsen und den hohen Mauern vor zehn Jahren hinreichend sicher für seine Forschungslaboratorien und besiedelte Alcatraz neu. Niemand kann die Insel unbemerkt betreten oder verlassen. Der Leuchtturm ist eines der wenigen Gebäude, die unverändert blieben. Die anderen Gebäude stehen nur noch mit ihrer Außenhülle. Sie wurden innen vollkommen entkernt und nach den Bedürfnissen von Biophysical Implants neu gestaltet. Wir Mitarbeiter nennen die Insel Biophysical Island.

Es ist heute seltsam still. Ich beobachte, wie Frauen und Männer schweigend nach mir an Bord gehen. Für mich stehen heute zahlreiche Funktionsuntersuchungen im hochauflösenden Positronen-Emissions-Tomograph an. Ein bisschen aufgeregt bin ich schon, heute in die Röhre zu kommen.

Die Fähre legt ab. Sie fährt ruhig, gemächlich bahnt sie sich ihren Weg über die Bucht.

Hohe Wände schließen den Hafen von Biophysical Island ein. Am gläsernen Eingangstunnel der Insel schließen zwei Schleusentüren den Tunnel ab. Niemand darf etwas auf die Insel mitbringen. Keine Aktentasche. Kein Schreibzeug. Keine technischen Geräte. Erst nach einem weiteren Bodyscan öffnet sich die hintere Tür der Schleuse.

Fast feierlich betritt man die Empfangshalle. Über den großen Hof gehe ich hinüber zum Diagnosezentrum. Ich betrete das Gebäude und treffe auf Michael, den Chefradiologen und Leiter des Projekts. Der Mann in seinen 60ern trägt einen weißen Kittel über seiner übergewichtigen Figur. Sein sympathisches Gesicht mit der hohen Stirn und dem kurzen Haar ist wie immer akkurat glatt rasiert.

„Guten Morgen, John. Alles OK?“

„Ja, alles OK“. Schon lange haben wir auf diesen Tag hin gearbeitet. Ich lege meinen Mantel ab und folge Michael in den Raum mit dem Tomographen. Gedämpftes Licht erfüllt diesen Raum. Ein blauer Lichtkranz umgibt den Tomographen. Die Szenerie wirkt beinahe übernatürlich. Ich kann kaum glauben, dass es jetzt schon losgeht.

„Bitte lege dich auf die Liege und mache den linken Arm frei“, ordnet Michael an.

Ich folge seinen Anweisungen und Michael desinfiziert die Haut in meiner Ellenbeuge. Dann gibt es einen kleinen Stich und kurz darauf liegt der Katheter in meiner Armvene. Über diesen Katheter wird die radioaktive Substanz, mit der mein Gehirn vermessen wird, infundiert. Kurz darauf bewegt sich meine Liege und fährt sanft in den Tomographen hinein. Die radioaktive Substanz wird sich in meinem Körper anreichern und Stoffwechselvorgänge in meinem Gehirn abbilden. Der Prozess ist mir bereits aus der Theorie vertraut: die Aktivität in den einzelnen Bestandteilen meines Gehirns wird während des Lösens verschiedener Aufgaben gemessen.

Es geht los, Michael stellt mir zuerst ein paar einfache Rechenaufgaben: „Was ist das Quadrat von zwölf?“

„Einhundertvierundvierzig.“

Frage um Frage, so geht es immer weiter: „Wer war die erste Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika?“

„Michelle Obama.“

Und: „In welchem Jahr endete der zweite amerikanische Bürgerkrieg?“

„2036.“

Dann: „Wie lauten die binomischen Formeln?“

„A plus B in Klammern mal C plus D in Klammern ergibt AC plus AD plus BC plus BD“.

Mehr und mehr muss ich mich konzentrieren. Die Fragerunde dauert über vier Stunden. Jetzt wird ein Monitor über mein Gesicht gefahren. Auf dem Monitor werden Bilder und Symbole angezeigt, und ich muss benennen, was ich sehe: „Ein grünes Dreieck.“, „Ein roter Kreis.“ Kurz darauf werden mir Filmsequenzen mit Bewegungsabläufen vorgespielt, die ich mit den Augen verfolgen soll: „Die Sequenz zeigt eine Kugel, die eine schiefe Ebene hinabrollt.“ Ich beschreibe, was ich sehe: „Ich sehe einen Reiter auf einem Pferd. Sie überwinden ein Hindernis.“

Während der Funktionsuntersuchung werden die stoffwechselaktiven Areale in meinem Thalamus vom Tomographen abgebildet. Die Untersuchungen gehen ohne Mittagessen bis zum frühen Abend. Ich bin total müde und erschöpft. Ununterbrochen tropft die radioaktive Flüssigkeit über den Katheter in meinen Arm. Dann wird es eine Weile still im Untersuchungsraum. Der Radiologe kontrolliert nochmals sämtliche Schnittbilder und dreidimensionalen Rekonstruktionen unserer heutigen Untersuchung. Ich hebe meinen Kopf und erkenne, wie auf dem Monitor mit leuchtenden Signalen die unterschiedlichen Areale meines Gehirns im Zeitverlauf dargestellt werden. Fließende Bewegungen bunter Farben wandern durch die Schnittbilder.

Michaels Bürostuhl knarzt leise, als er sich behäbig nach hinten schiebt und dann aufsteht: „Wir sind so weit. Alles ist im Kasten. Mit diesen Daten werden wir einen individuellen XEQ-Chip für dich fertigen und mit den Messergebnissen der heutigen Untersuchung kalibrieren.“

– Ich atme tief aus: „Bist du zufrieden?“

Michael lächelt freundlich: „Ja. Sehr.“

Ich begegne seinem Blick und ergänze: „Dann bin ich es auch.“

Die Liege fährt ruhig aus dem Tomographen wieder heraus. Michael entfernt den Katheter aus meinem Arm und klebt ein kleines Pflaster auf die Einstichstelle. Ein bisschen schwindelig ist mir, als ich nach so vielen Stunden wieder aufstehe. Ich krempele meinen Hemdsärmel wieder nach unten, ziehe meinen Mantel an und verabschiede mich. Ich schaue auf meine Armbanduhr, es ist kurz vor 18.00 Uhr. Ich kann die erste Abendfähre zurück auf das Festland bekommen, wenn ich mich jetzt beeile.

Mit raschen Schritten gehe ich über den Hof zur Glasschleuse. Die Fähre hat bereits angelegt. Wieder ein Bodyscan. Nichts dürfen die Mitarbeiter von Biophysical Implants bei ihrer Abreise von der Insel mitnehmen. Ich setze mich unter die Glaskuppel der Fähre. Die Sonne steht schon tief an einem wolkenlosen Himmel. Ich schaue auf der Fahrt zufrieden auf die Skyline der Großstadt. Wir sind kurz vor dem Ziel unserer Arbeit. Die jahrelangen Vorbereitungen kommen zum Ende und schon bald werden wir Neuland betreten. Ich fühle mich als Pionier. Das Projekt fühlt sich gut an. Ich bin wie ein Abenteurer. Ich bin der erste Sternenreisende, ich bin der Alan Shepard von Biophysical Implants. Wir werden der Menschheit neue Horizonte aufreißen. Gemächlich läuft die Fähre in den Hafen von Fisherman’s Wharf ein.

Deep Dream

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