Читать книгу Deep Dream - Rüdiger Marmulla - Страница 3
Sonntagsausflug
Оглавление„Möchtest du darüber reden?“ – Nervös fahre ich mir mit der Hand durchs Haar. Wir stehen beide mit Blick auf den Pazifik und schweigen lange Minuten, die Brandung ist deutlich zu hören. Diese ersten Frühlingstage haben uns zum Picknick geladen. Alles scheint neu und verheißungsvoll. Heute ist der erste freie Sonntag seit Wochen. Unsere Terminkalender sind wie immer übervoll, doch heute haben wir endlich Zeit für einander. Ich habe diesen Moment mit John so ersehnt, doch jetzt ist die Stimmung wie beklommen. Ich versuche es noch einmal: „John, du wirkst zurzeit, als wärst du nicht richtig hier. Was ist los?“ – Ich blicke besorgt in seine tiefbraunen Augen. Er ist so schweigsam die letzte Zeit, und doch spüre ich eine Unruhe in ihm, die ich ergründen möchte. Ich vermisse so sehr sein sorgloses jungenhaftes Lachen.
John räuspert sich, nach einer Pause sagt er: „In der Firma steht eine große Sache an.“ – Mehr nicht.
Langsam werde ich ungeduldig: „John, für mich und uns ist es sehr wichtig, dass du mir jetzt endlich sagst, was los ist.“
John schaut mich mit ernster Miene an: „Kannst du mir garantieren, mit niemandem darüber zu sprechen?“
Ich wende mich ab und schaue zu einer Ansammlung massiger Monterey-Zypressen, meine Stimme wirkt auf einmal brüchig: „Das kann ich dir nicht garantieren. Beziehungen beruhen auf Vertrauen.“
Fast kleinlaut setzt John an: „Laura, ich weiß, dass ich dich bisher zu wenig in meine beruflichen Dinge einbezogen habe.“
Ich stelle mich vor ihn und schaue ihm direkt in die Augen: „Dann tue es jetzt!“
John ist groß und stattlich, doch jetzt wirkt er wie ein kleiner Junge: „Ich kann nicht … streng geheim. Wir dürfen mit niemandem darüber sprechen.“
Ich kann nicht anders, als ihn herausfordernd anzuschauen: „Auch nicht mit Tim? Als Pastor hat er doch Schweigepflicht.“
John macht eine Abwehrbewegung und gibt fast brutal zurück: „Lass mich bloß mit diesem Pastor Tim in Ruhe.“ Und dann sichtlich verzweifelt: „Ich habe tatsächlich niemanden, mit dem ich sprechen kann. Noch nicht einmal Peter ist da.“ – John schaut mich liebevoll an, und ich sehe Bewunderung in seinen Augen.
Ich fühle mit ihm, ich fühle mit dem Mann, den ich so sehr liebe: „Weißt du, John, ich verstehe dich. Ich bin doch immer für dich da.“
John sieht mich lange an und dann sagt er vorsichtig: „OK, Laura. Ich habe die Möglichkeit, mich beruflich zu verbessern.“ Er schaut sich um: „Biophysical Implants will, dass ich in Zukunft meine eigene Arbeitsgruppe leite. Und ich werde sehr gut verdienen. Wir werden so viel Geld haben, dass wir uns ein größeres Haus leisten können und eines Tages werden wir auch Kinder haben, so wie du es dir wünschst.“
– Ich zucke zusammen – eines Tages?
John wendet sich mir zu: „Wir werden das Leben führen können, das wir immer führen wollten. Du wirst auch nicht mehr für FedEx arbeiten müssen, es wird uns richtig gut gehen.“
Jetzt will ich es wirklich wissen: „An was arbeitet ihr denn in eurem jetzigen Projekt genau?“
John kommt langsam in Fahrt: „Laura, du kennst doch die Cochlea-Implantate. Menschen, die ein krankes Innenohr haben und eigentlich taub sind, können mit ihrer Hilfe wieder hören. Ein Mikrofon wird mit dem Hörnerv verbunden, und die Signale des Mikrofons werden direkt ans Gehirn weitergeleitet.“ Fast feierlich fährt er nach einer Pause fort: „Biophysical Implants hat nach dem Cochlea-Implantat das Opticus-Implantat entwickelt. Es geht also nicht mehr um den Hörnerv, sondern um den Sehnerv. Chirurgen, die dieses Implantat tragen, können beispielsweise das Gehirn unter der geschlossenen Schädeldecke sehen. Sie können durch Haut und Knochen hindurchschauen. Und sehen genau, wo sie schneiden müssen und wo nicht…“
„Erstaunlich“, unterbreche ich ihn, „wirklich interessant, dass es das schon gibt.“
John ist in seinem Element: „Ja. Man nennt es Erweiterte Realität. Wir forschen daran, wie die Implantate die Nervenenden richtig ansprechen.“
Interessiert frage ich nach: „Sind Implantate, die eine Erweiterte Realität herstellen, wirklich eine gute Entwicklung?“
John ist sich sicher: „Das sind sie. Oder willst du lieber von einem Chirurgen operiert werden, der kein Opticus-Implantat trägt?“
Ich bin verunsichert, John scheint keine Zweifel zuzulassen. Mein Blick wandert aufs offene Meer.
Und ich höre immer nur Fachliches. Immer nur Medizintechnik. Kein Wort über das Team oder seinen Chef. Ich weiß nur von seinem Kollegen Peter. Es fühlt sich so unpersönlich an, was John mir da erzählt. Ich verstehe es nicht. Warum ist er in letzter Zeit nicht richtig bei mir, wenn wir zusammen sind? Es geht immer nur um Technik, manchmal kommt er selbst mir schon wie ein Roboter vor. Ich habe doch etwas viel wichtigeres auf dem Herzen, ich würde es ihm so gerne erzählen. Ich versuche, das Thema zu wechseln: „John, wollen wir zur niederländischen Mühle gehen? Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit sie abgebrannt ist. Ich will schauen, was von ihr noch steht.“
John steht auf und lässt sich in seinem Gedankenfluss nicht unterbrechen: „Laura, wir haben in den letzten zwei Jahren, seit ich bei Biophysical Implants bin, erhebliche Fortschritte mit einer neuen Produktentwicklung gemacht. Das neuronale Implantat XEQ ist etwas ganz Neues, es ist eine Verbindung zwischen Mensch und Technik.“
Ich unterbreche ihn und lache: „XEQ? Das ist ein komischer Zungenbrecher. Wofür steht das?“
Ohne die Miene zu verziehen erklärt mir John: „XEQ steht für den Befehl ‚execute‘, das heißt ‚Führe aus‘. Der Chip ist dafür entwickelt worden, direkt in den Thalamus implantiert zu werden. Die Neuroanatomen haben herausgefunden, dass der Thalamus das Tor zum Bewusstsein ist. Von hier aus werden im Gehirn Entscheidungen gebahnt. Die Vernetzung ist hier natürlich sehr viel komplexer als bei einem Cochlea- oder Opticus-Implantat.“ Fast erschrocken schaut sich John um, um sicher zu sein, dass niemand mithört. Dann fährt er mit leiser Stimme fort: „Das XEQ-Implantat wirkt direkt bewusstseinserweiternd. Wissen muss nicht mehr angelesen oder antrainiert werden. Sämtliches Wissen steht dem Implantat-Träger sofort nach Implantation aktiv zur Verfügung. Und der Clou ist, XEQ besitzt ein neuronales Netzwerk mit künstlicher Intelligenz.“ John richtet sich merklich auf, sein Blick sucht den Horizont. „Zusätzlich wird bei Chirurgen motorisches Geschick mittransplantiert. Dadurch werden alle XEQ-Implantat-Träger talentierte Spitzenchirurgen.“
Wir überqueren den John F. Kennedy Drive. Während wir weiter laufen, rollt ein Auto langsam und fast geräuschlos an uns vorbei.
Jetzt werde ich sehr, sehr still. Was soll ich denn auch sagen? Nie hätte ich geahnt, dass Biophysical Implants schon so weit in der Innovationsentwicklung ist. Was mir John da erzählt, klingt für mich unheimlich. Seine Begeisterung wirkt auf mich, als sei er im Rausch.
Nur wenige Schritte weiter und wir bleiben schlagartig stehen. Zwischen den Bäumen öffnet sich der leere Raum, wo einmal die historische Mühle stand: „Oh, nein!“, rufe ich aus. Über ein gemauertes Backsteinfundament ragen noch ein paar wenige schwarz verbrannte Balken hinaus. Der Platz um die ehemalige Mühle ist mit einem Metallzaun abgesperrt. Daran hängt ein Schild:
„Hier stand bis zur Nacht vom
11. auf den 12. Oktober 2042
die niederländische Mühle,
die dem Feuer zum Opfer fiel.“
So traurig. So viele Kindheitserinnerungen habe ich an die Mühle. Hier habe ich an der Hand meines Vaters das Laufen gelernt. Sommerliche Geburtstagsfeste feierten wir mit meinen Freunden hier. Auch die Geburtstage unserer ungeborenen Kinder wollte ich hier feiern.
Recht unbeeindruckt meint John: „Man kann die Mühle neu wieder aufbauen.“ Erst als er mein Gesicht sieht, ergänzt er: „Natürlich … es wird nicht mehr dasselbe sein.“
Zwischen den immergrünen Bäumen mit ihrer aschgrauen dicken Rinde sehe ich im Westen das Meer. Wie sehr liebe ich diese sonnigen Frühlingstage, die Brandung des Pazifiks und unseren Picknickplatz. Ich hatte mir so gewünscht, dass wir hierher kommen, weil ich John die Neuigkeit hier im Park am Golden Gate sagen wollte. Doch jetzt fühlt sich alles anders, irgendwie schal an.
Wir laufen weiter und leise sagt John nach einer Weile fast zu sich selbst: „Ich bin bereit. Jetzt.“ Sein Satz klingt in meinen Ohren nach. In der Erinnerung wird mir das bewusst. Aber ich verstehe nicht, was er damit meint.
Beiläufig erwidere ich „Bereit? Wozu?“ und schaue durch die Gitter des Maschendrahtes. Ich stelle mich auf meine Zehenspitzen, um besser über die verbrannten Balken hinweg sehen zu können.
„Ich bin bereit, der erste XEQ-Implantat-Träger zu werden.“ John zieht die Augenbrauen nach oben und setzt nach: „Wenn man von einer guten Sache überzeugt ist, dann muss man auch bereit sein, so weit zu gehen.“
– Ich erschrecke. Mir wird heiß und kalt. Habe ich richtig verstanden?
Jetzt kommt eine kühle Brise von Westen über das Meer. Es fröstelt mich. Und mir fehlen die Worte. Mein Magen krampft sich zusammen. Gleich muss ich mich übergeben.
John bittet mich: „Laura, die ganze Sache ist streng vertraulich. Bitte behalte alles für dich.“
– Ich möchte nachhause: „Bitte lass uns unsere Picknicksachen holen und nach Sausalito heimfahren.“ Ich bin fassungslos. Was bekomme ich hier zu hören? Erster XEQ-Implantat-Träger. Er bezieht mich überhaupt nicht in seine Entscheidungen ein. Bin ich wütend oder enttäuscht? Vielleicht beides. Mein Geheimnis sage ich ihm nicht. Nicht jetzt. Nicht heute. Nicht nach dieser Nachricht.