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Das Orgelspiel
ОглавлениеDurch den Musikunterricht an der Lichtwarkschule wurde Schmidts Freude am Klavierspiel geweckt. »Sehr bald entdeckte ich jedoch, dass mich auch die Orgel faszinierte«, hält er in der Rückschau fest und fährt fort: »Die Schule verfügte über eine von Hans Henny Jahnn, dem Reformator des Orgelbaus in Norddeutschland, überarbeitete Orgel, auf der noch heute gespielt wird.«[64]
Nun gehörte eine Orgel zur Standardausstattung aller höheren Schulen in jenen Jahren, die Reformorgel an der Lichtwarkschule blieb jedoch eine Besonderheit im Hamburger Schulwesen. Vor allem der Musiklehrer Hermann Schütt hatte sich für die Anschaffung des Instrumentes eingesetzt und mit dem Orgelbauer und Schriftsteller Hans Henny Jahnn einen profilierten Vertreter der Orgelreformbewegung gewinnen können. Bereits 1906 hatten sich Albert Schweitzer und der Straßburger Organist Émile Rupp für eine Rückkehr zur »wahren Orgel« des Barocks ausgesprochen. 1925 hatte Jahnn mit der von ihm einberufenen »Organisten-Tagung in Hamburg-Lübeck« die Diskussion um die Orgelreform mit der Forderung nach einer Abkehr von der Fabrikorgel, dem Einsatz hochwertiger Materialien und einer soliden handwerklichen Verarbeitung der Instrumente, sowie der Orientierung an den Klang- und Bauprinzipien der klassischen Orgel des Barocks weiter angefacht.
Hans Henny Jahnn hatte an der Barockorgel Arp Schnitgers in der Hamburger Hauptkirche St. Jacobi genaue Studien betrieben und im Übrigen dafür Sorge getragen, dass diese Orgel erhalten und restauriert werden konnte. Für die Orgel der Lichtwarkschule konzipierte Jahnn die Baupläne, gebaut wurde sie in den Werkstätten der Lübecker Firma Karl Kemper & Sohn.[65]
Als Helmut Schmidt kurz nach Ostern 1929 in einer kleinen Aufnahmefeier in der Aula der Lichtwarkschule eingeschult wurde, war die neue Schulorgel inzwischen zwar verbaut und hatte den Zehnjährigen wie auch seine Mitschülerin Loki Glaser schon allein angesichts der schieren Ausmaße des Prospekts stark beeindruckt, auf ihr spielen konnte man jedoch erst im Schuljahr 1931/32. Die Baugeschichte hatte sich zu einem mittleren Desaster entwickelt: Immer wieder wurde die Fertigstellung verschoben, zum vollen Einsatz kam sie erst sechs Jahre nach Einzug der Schule in das neue Gebäude am Stadtpark, und die Kosten hatten sich inzwischen verdoppelt.[66]
Von alldem wusste der Schüler Helmut Schmidt sicher nicht allzu viel. Die Bedeutung dieser Orgel war für ihn rückblickend jedoch kaum zu unterschätzen. In der Regel wurde der Musikunterricht im Musikraum abgehalten, manchmal ging es aber für die Klasse von Helmut Schmidt in die Aula und an die Orgel. Jeweils ein Schüler durfte sich dann neben den Musiklehrer und Organisten Ludwig Moormann setzen und die Register ziehen. Loki Schmidt berichtet: »Wie habe ich ihn dann bewundert, wenn er mit den Füßen auf den Pedalen herumtanzte. Mir schien immer, als ob die Orgelbank, auf der wir saßen, ein bißchen mitdröhnte und mitzitterte.«[67] Ihrem damaligen Klassenkameraden Helmut wird es nicht anders ergangen sein.
Als Klavierschüler durfte er sogar gelegentlich selbst an die Orgel. Die Technik beherrschte er inzwischen sehr gut. Nur auf der Basis einer am Klavier erlernten soliden Fingertechnik kann sich der Orgelschüler auf die neuen Herausforderungen an diesem Instrument konzentrieren: dem Spiel auf zwei Manualen bei gleichzeitigem Einbezug der Pedale.[68]
Die größte Herausforderung an der Orgel, und das galt auch für Helmut Schmidt, ist wohl das Pedalspiel, das zusätzliche Spiel mit den Füßen, das der Musik durch die tiefen Basstöne Gravität und vor allem eine Fundierung gibt. Unabhängigkeit und Eigenständigkeit der Denk- und Bewegungsabläufe sind auch hierfür die Voraussetzung. Da Helmut Schmidt noch Jahre später beim Orgelspiel in der Dorfkirche von Fischerhude mit dem Pedalspiel Schwierigkeiten hatte, darf man annehmen, dass er an der Lichtwarkschule mit dem Orgelspiel über die Anfänge nicht hinausgekommen war, was seiner Begeisterung für das Instrument jedoch keinen Abbruch tat.
Die Lichtwarkschul-Orgel hatte für die gesamte Schulzeit Helmut und Loki Schmidts eine zentrale Bedeutung. »Mir scheint«, sagt Loki Schmidt Mitte der achtziger Jahre, also gut fünfzig Jahre nach ihrem Abitur, »daß dieser Raum [gemeint ist die Aula, R.L.] mit der Orgel im Mittelpunkt mehr als alles andere, mehr als die jährlichen Klassenreisen und die engen Klassengemeinschaften uns das Gefühl vermittelte: Wir sind ein Ganzes, wir sind die Lichtwarkschule. (…) Hier in diesem Raum da waren wir die eine große Schulgemeinde. Und die Orgel, die war immer dabei als Mittelpunkt, ob sie gespielt wurde oder ob sie stumm blieb – immer lenkte sie den Blick auf sich.«[69]