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Die Kochs

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Helmut Schmidts Großvater mütterlicherseits, der gelernte Drucker und Setzer Heinrich Koch, war nach seiner Lehre in Hamburg bei unterschiedlichen renommierten Zeitungen angestellt, zuletzt beim Hamburgischen Correspondenten, einer damals weit über Hamburgs Grenzen hinaus angesehenen bürgerlichen Zeitung.[23] Als Drucker gehörte Heinrich Koch im gesellschaftlichen Spektrum zur Arbeiterintelligenz oder, wie Helmut Schmidt formulierte, zur »Arbeiter-Aristokratie«. In seinem Handwerk wurden Arbeiter nicht nur praktisch hervorragend ausgebildet, sondern waren auch gebildet – heute würde man sie wohl als »bildungsnahe« soziale Schicht bezeichnen. Oft standen Drucker und Setzer der Sozialdemokratie nahe oder waren gewerkschaftlich aktiv, was für den Vater von Ludovika Schmidt allerdings nicht belegt ist. Seine Frau Amalie betrieb mit ihren zwei erwachsenen Kindern ein eigenes Geschäft für Kurzwaren und Wäsche. Bei der Geschäftstätigkeit von Ehefrau und Kindern sowie dem eigenen beruflichen Hintergrund ist nachvollziehbar, dass sich Schmidts Großvater politisch eher der bürgerlichen Mitte zugehörig fühlte. Trotz der gelegentlichen finanziellen Sorgen um das Geschäft der Amalie Koch gab es bei den Großeltern von Helmut Schmidt nie eine ernsthafte wirtschaftliche Notlage, der Familie Koch ging es gut.

Die Wohnung von Schmidts Großeltern am Mundsburger Damm war das gern besuchte, lebhafte Zentrum der Großfamilie. Kam die Familie von Mutter Ludovika dort zusammen, wurde stets musiziert und gesungen. Großvater Heinrich und Großmutter Amalie hatten im Gesangsverein »Dreieinigkeit« zunächst zusammen gesungen, sich dann näher kennengelernt und schließlich geheiratet. Der Tochter Ludovika, ihrem ersten Kind, war das Singen so bereits in die Wiege gelegt, und tatsächlich gehörte sie vor dem Ersten Weltkrieg einem Chor an, der unter der Leitung von Alfred Sittard im Hamburger Michel probte und vor Publikum Konzerte gab.[24] Alfred Sittard war durchaus nicht irgendein Chorleiter unter vielen, sondern er zählte auch zu den herausragenden Organisten seiner Zeit. Zudem war es seiner außerordentlichen Initiative zu verdanken, dass nach dem zerstörerischen Brand von St. Michaelis im Jahr 1906 und nach der Wiedereröffnung vom Oktober 1912 erneut ein Chor in dieser bedeutendsten Kirche der Hansestadt gegründet wurde.[25] Dort mitzusingen war zweifelsohne eine musikalische Auszeichnung, und Helmut Schmidt erzählte mit einigem Stolz auf seine Mutter Ludovika Schmidt davon.[26] »Sangesfreudig« und »musikbegabt« seien die Kochs gewesen, berichtet Helmut Schmidt in einem autobiographischen Text aus dem Jahr 1992, also fünf Jahre nach der endgültigen Beendigung seiner politischen Laufbahn, als die Reflexion der eigenen Biographie immer größere Bedeutung für ihn gewann.[27]

In der Familie Koch gab es außer den Chorsängern auch zwei ausgebildete Musiker, den Musik- und Volksschullehrer Ottomar Heinz Otto, ein Cousin von Schmidts Mutter, und zum anderen ihre Schwester, Marianne Koch, die als ausgebildete Sängerin den Lebensunterhalt überwiegend durch das Erteilen von Klavierstunden verdienen musste. In der Familie wurde später erzählt, dass sie 1914 kurz vor einer Verpflichtung in Bayreuth bei Cosima Wagner gestanden habe, das Engagement aber durch den Beginn des Ersten Weltkriegs verhindert worden sei.[28] Für Helmut Schmidt spielte seine Tante Marianne auch deshalb eine besondere Rolle, da sie in den zwanziger Jahren in die USA emigriert, aber vor 1933 zurückgekehrt war. Von ihr erfuhr er aus erster Hand einiges über die Verhältnisse in Amerika, und sie weckte vielleicht sogar seine erste Neugier, welche sich später als ein lebenslanges, tiefes Interesse für die USA manifestierte. Immerhin war die Sängerin und Klavierlehrerin Marianne Koch für ihn und Ehefrau Loki so beeindruckend, dass sie als Patentante für ihre im Mai 1947 geborene Tochter ausgewählt wurde und Susanne als zweiten Vornamen Marianne erhielt.[29]

In der Großfamilie Koch konnte sich der heranwachsende Helmut Schmidt rundherum angenommen fühlen. Er traf dort auf den belesenen und politisch interessierten Großvater, konnte die Sangesfreude der gesamten Familie genießen und sein erstes Musikverständnis mit der Expertise des ausgebildeten Musikers Ottomar und der Sängerin und Pianistin Marianne heranbilden. Ein Glücksfall war zudem, dass er Geborgenheit und Vertrauen bei seinem Onkel Heinz Koch, einem Bruder der Mutter, und dessen Frau Rosalie fand. Dem Onkel konnte er seine Nöte mit dem eigenen Vater anvertrauen, seine Tante Rosi umsorgte und verwöhnte ihn gern. So konnte er manches kompensieren, was ihm beim eigenen Vater vorenthalten blieb.

Als Erstgeborener von Ludovika Schmidt und gleichzeitig erster Enkel und Neffe in der Familie Koch nahm er ohnehin eine Sonderstellung ein, sodass seine Begeisterung für das gemeinsame Singen, seine Wissbegierde und sein Talent zum Redenschwingen ihn zu einer Art Kronprinzen in der Familie machte. Wenn er wegen seines ausgeprägten Rededrangs bei den Kochs manchmal »Helmut, das Schnackfass«, gerufen wurde, so war das durchaus liebevoll und anerkennend gemeint.

Die Musikliebe der Familie Koch sollte für Helmut Schmidt ein ganz besonderer Schatz werden, auf den er im Laufe seines Lebens immer wieder zurückgreifen konnte. Auch Jahrzehnte später konnte er noch genau beschreiben, in welcher Weise sein Onkel Ottomar, der Musiklehrer, die Familie zum gemeinsamen Musizieren anregte und zusammenbrachte. So verabredeten sich einige Familienmitglieder der Kochs zu einem regelmäßigen Singkreis im Elternhaus von Helmut Schmidt. Am Klavier fungierte der Onkel gleichzeitig als Dirigent dieses kleinen Familienchors. Er brachte Noten und Texte mit, man sang vierstimmig und bei Neueinstudierungen direkt vom Blatt. Zu den vielen Geburtstagen der Familie steuerte Onkel Ottomar kleine eigene Kompositionen bei.[30] Während Mutter Ludovika und Sohn Helmut – den man im Übrigen nie zum Singen auffordern musste – stets beim Singkreis dabei waren, blieb Vater Gustav Schmidt der Sangesrunde fern und zog sich mit Schularbeiten in sein Arbeitszimmer zurück. Mit einigem Stolz berichtet Helmut Schmidt noch Jahrzehnte später: »In diesem häuslichen Rahmen habe ich einige Jahre lang Madrigale, Motetten und Kantaten gesungen. Einen vierstimmigen Satz vom Blatt zu singen, ist nicht leicht – das beherrschen heute nicht mehr viele[31]

Helmut Schmidt am Klavier

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