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5 Fischerhude und Olga Bontjes van Beek: Kunst, Musik und Politik

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»Fischerhude ist für mich als jungen Heranwachsenden die einzige Oase in der Nazizeit gewesen. Der Krieg und die Zeitläufe haben später den persönlichen Kontakt unterbrochen. Aber ich meinte immer zu wissen: Da hinten ist Fischerhude, dahin kannst du immer gehen, wenn es dir einmal ganz dreckig gehen sollte.«[98] (Helmut Schmidt, 1985)

Im Hause des Malers Heinrich Breling im Künstlerdorf Fischerhude, nicht weit von Bremen entfernt, steht seit mehr als einem Jahrhundert ein eindrucksvoller Bechstein-Flügel. Nachdem ich Kontakt mit der heutigen Bewohnerin des Hauses, Heinrich Brelings Urenkelin Saskia Bontjes van Beek, aufgenommen hatte, schickte sie mir ein Foto und fügte den Satz an: »Der Flügel steht seit 1916 genau an dieser Stelle, unter dem Heinrich-Breling-Selbstporträt – auf ihm hat Helmut Schmidt, wenn er hier war, gespielt.«[99]

Für Schmidts Kunst- und Musikliebe sind seine Verbindungen zu dem Künstlerdorf Fischerhude, und hier vor allem zu Olga Bontjes van Beek, der jüngsten Tochter Heinrich Brelings und seiner Frau, der Pianistin Amalie Breling, ein tragendes Fundament. Es scheint, als hätte sich hier seine Affinität zu den Künsten als wesentlicher Teil seiner Persönlichkeit gefestigt und durch die lebenslangen Verbindungen zu Künstlern dieses Ortes auch immer wieder erneuern können. Hier hat er Einblick in den Schaffensprozess von Künstlern nehmen können, er hat sich mit ihnen über ihre Kunst unterhalten und viel von ihren Intentionen, den eingesetzten künstlerischen Mitteln und verschiedenen Materialien in Erfahrung gebracht. Hier festigte sich seine Liebe zu den Motiven seiner norddeutschen Heimat, und nicht zuletzt hat er in Fischerhude auch sein Klavier- und Orgelspiel weiterentwickeln können.

Mitte der dreißiger Jahre kam Schmidt zum ersten Male in dieses Künstlerdorf und das Haus des seit 1914 verstorbenen Malers Heinrich Breling. Zu diesem Zeitpunkt lebten Olga Bontjes van Beek mit ihren drei Kindern und ihre älteste Schwester, die unverheiratet gebliebene Bildhauerin Amelie Breling. Nach dem Krieg gab es eine längere Pause in den Verbindungen Schmidts zu den Fischerhudern, Mitte der sechziger Jahre nahm er sie wieder auf. Fortan hielten diese Verbindungen bis zu seinem Tode, der letzte Kontakt mit Saskia Bontjes van Beek datiert vom Sommer 2015. Sie hatte ihm eine Postkarte aus dem Jahr 1940 zugesandt, die er am 23.3.1940 als Ostergruß an die »Fischerhüder« geschickt hatte. Erfreut schrieb der 96-Jährige zurück: »Ihr Brief war eine Überraschung und Freude zugleich. Ich fühle mich Olga Bontjes van Beek immer noch sehr verbunden – vielleicht sollten wir die Verbindung jetzt auf uns übertragen.«[100]

Die Postkarte, die Helmut Schmidt zu Ostern 1940 verschickt hatte, war eine Kunstpostkarte mit einer Reproduktion des Ölgemäldes Walchensee, Serpentine von Lovis Corinth. Das Bild, datiert von 1920, ist Teil seines expressionistischen Alterswerks, das die Nazis als »entartet« deklariert hatten.

Fast 300 seiner Bilder aus dieser Periode waren beschlagnahmt und viele davon ins Ausland verkauft worden. Bilder von Corinth wurden auch 1937 in München auf der Propagandaausstellung »Entartete Kunst« gezeigt, die nach München noch in zwölf anderen Städten präsentiert worden war. Es ist bemerkenswert und war damals sicher auch nicht ungefährlich, eine solche Karte zu verschicken. Vor allem ist diese Karte ein Beleg für das Fortbestehen seiner Nähe zur Kunst des Expressionismus, eine Nähe, die er an der Lichtwarkschule und unter dem Einfluss seiner späteren Frau Loki entwickelt hatte.[101]


© Saskia Bontjes van Beek

Postkarte von Helmut Schmidt an die »Fischerhüder« aus 1940. Lovis Corinth galt den Nazis als »entartet«.

Fischerhude ist seit je ein Zentrum der bildenden Künste, für Schmidts Beziehung dorthin war jedoch auch die Musik ein wichtiges Element, wie der oben zitierte Hinweis von Saskia Bontjes van Beek bereits andeutet. Darauf wird noch zu kommen sein. Im Hinblick auf Fischerhude und Helmut Schmidt drängen sich zunächst einmal andere Themen auf: sein Eintauchen in die Welt und in das Leben von bildenden Künstlerinnen und Künstlern, das Kennenlernen dreier weitverzweigter und miteinander verwandter Künstlerfamilien, den Brelings, den Bontjes van Beeks und den Modersohns, die intensive Beziehung zu der zwanzig Jahre älteren Breling-Tochter, der Tänzerin und Malerin Olga Bontjes van Beek, und schließlich das Schicksal ihrer Tochter, Cato Bontjes van Beek. Schmidt hatte sie im Hause der Mutter kennengelernt, im September 1942 wurde sie von der Gestapo in Berlin wegen ihrer Verbindung zur Widerstandsgruppe um Harro Schulze Boysen, der sogenannten Roten Kapelle, verhaftet, im Januar 1943 zum Tode verurteilt und am 5. August 1943 in Plötzensee hingerichtet.[102] Helmut Schmidt hatte Cato vermutlich 1941[103] zunächst rein zufällig in Berlin auf der Straße getroffen und war ihrer Einladung zu einem Hausfest in die Wohnung ihres Onkels Hans Schultze-Ritter gefolgt.[104] Seinen späteren Berichten zufolge war Schmidt besorgt über die dort so offen geäußerte Ablehnung des NS-Systems in einem für ihn unübersichtlich großen Kreis von Eingeladenen. Tage später hatte er versucht zu warnen, war aber von Catos Vater, Jan Bontjes van Beek, an der Wohnungstür abgewiesen worden. Dieser kannte Schmidt nicht und hatte sich an dessen Uniform gestört. Es nicht noch einmal versucht zu haben, Cato vor den drohenden Gefahren zu warnen, verband Helmut Schmidt, als er nach dem Krieg von ihrer Ermordung hörte, mit einem Gefühl der Scham.[105]

Während seiner Kanzlerschaft ließ Helmut Schmidt Kunstwerke aus Fischerhude in den Räumen des Bundeskanzleramts ausstellen, er selbst erstand eine Vielzahl an Bildern von Künstlern aus der Region. Nach seiner Amtszeit bemühte er sich um eine stärkere öffentliche Wahrnehmung der Arbeiten von Olga Bontjes van Beek, sprach zur Eröffnung ihrer Ausstellungen, nahm Einladungen zu diversen Veranstaltungen in und um Fischerhude an. Olga Bontjes van Beek war seine erste Wahl für die Erstellung seines offiziellen Porträts im Auftrag des Hamburger Senats, sie lehnte aber aus Altersgründen ab.[106] Als 1991 das örtliche Gymnasium in Achim unweit von Fischerhude sich in Cato-Bontjes-van-Beek-Gymnasium umbenannte, war er zugegen und hielt eine Ansprache.

Fischerhude nimmt in der Biographie Helmut Schmidts eine zentrale Stellung ein, und ja – auch das Klavier- und Orgelspiel gehören dazu. Selbst in seinem letzten Buch mit dem vielsagenden Titel Was ich noch sagen wollte erweist sich Fischerhude in all den oben benannten Facetten als ein für ihn »letztes« Thema.

Helmut Schmidt am Klavier

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