Читать книгу Helmut Schmidt am Klavier - Reiner Lehberger - Страница 16
Die Postkarte
ОглавлениеDoch noch einmal zurück zu der eingangs erwähnten Postkarte. Ende Februar oder Anfang März 1952 liest Lilli Sington-Rosdal in der Tageszeitung Die Welt einen Bericht über ihren ehemaligen Klavierschüler Helmut Schmidt. Die Zeitung berichtet über seine Ernennung zum Leiter des Amtes für Verkehr in der Hamburger Wirtschaftsbehörde.
Helmut Schmidt hatte in der Tat eine bemerkenswert rasche und steile Karriere in der Hamburger Verwaltung gemacht. Im Frühsommer 1949 hatte er sein Studium der Volkswirtschaftslehre an der Universität Hamburg abgeschlossen. Karl Schiller, einer seiner Professoren, war zu diesem Zeitpunkt zum Hamburger Wirtschaftssenator aufgestiegen und stellte den frisch examinierten Helmut Schmidt als persönlichen Referenten ein. Schmidt war ihm als leistungsfähiger, kompetenter und debattentauglicher Student aufgefallen, Karl Schiller wurde von Schmidt wiederum als einer der wenigen Professoren geschätzt, die ihr Fach auch auf der Basis ausländischer, insbesondere angelsächsischer Wirtschaftstheorien vertreten konnten. Eine Zusammenarbeit schien da fast die logische Folge zu sein, zumal da beide Mitglied der SPD waren. Nur wenige Monate nach seiner Einstellung erfolgte im Frühjahr 1950 bereits seine Beförderung zum Abteilungsleiter in der von Schiller geleiteten Behörde für Wirtschaft und im Februar 1952 gar zum Leiter des Amtes für Verkehr. Nicht nur in der Hierarchie, sondern auch in der Gehaltsstufe war dies ein bedeutender Karrieresprung.[93]
Über diese Beförderung berichtete nun die Hamburger Welt, es könnte vielleicht sogar der erste Bericht über Helmut Schmidt überhaupt in einer Zeitung gewesen sein. Noch war er sich nicht sicher, dass sein weiteres Leben einmal von öffentlichem Interesse sein könnte, der Bericht der Welt zumindest wurde vom Ehepaar Schmidt nicht aufbewahrt. Die vielen sorgsam geführten Bände mit Presseausschnitten im Privatarchiv am Neubergerweg setzen erst mit dem Beginn der politischen Laufbahn Helmut Schmidts ein, dem nachfolgenden Jahr 1953 also.
Postkarte aus dem März 1952 von Lilli Sington-Rosdal an Helmut Schmidt. Trotz falscher Adresse konnte sie zugestellt werden.
In klarer Schrift, gewähltem Ausdruck und unter Nutzung des sogenannten »Hamburger Sie« beglückwünschte die inzwischen 74-jährige Lilli Sington-Rosdal Helmut Schmidt, wie sie schreibt, zu seiner »Ehrung« durch die oben angeführte Beförderung:
»Lieber Helmut, in der ›Welt‹ las ich von Ihrer neuen Ehrung, über die ich mich sehr gefreut habe. Meine allerherzlichsten Glückwünsche, möge auch Ihr neues Arbeitsfeld Ihnen viel Freude und innere Befriedigung verleihen.«[94]
Die wenigen Sätze der Lilli Sington-Rosdal sind voller Respekt geschrieben, sie schmückt die einfache Postkarte mit einer von ihr gemalten Frühlingsblume. Es gibt keinerlei Anzeichen von Ressentiments, die aus den Jahren ihrer Ausgrenzung und der Verfolgung ihrer Schwester durch die Nazis hätten entstanden sein können.
Darüber hinaus könnten die Begriffe »neue Ehrung« und »neues Arbeitsfeld« nahelegen, dass diese Postkarte nicht der erste Kontakt nach dem Kriege zwischen der Klavierlehrerin und ihrem ehemaligen Schüler gewesen sein kann. Andererseits kannte sie ganz offensichtlich die Adresse der Familie Schmidt in der Lindenallee 23 nicht und gab mit der Griegstraße 23 eine falsche, aus der Zeitung erschlossene Anschrift an, allerdings im selben Stadtteil Hamburg-Othmarschen und tatsächlich nur unweit von den Schmidts in der Lindenallee. Es ist wohl nur einem findigen Postbeamten zu verdanken, dass die Postkarte, die schon mit einem Stempel »Zurück« versehen war, schließlich doch im Briefkasten der Schmidts landete und damit für uns in deren späterem privatem Archiv als kleine Spur dieser besonderen Bekanntschaft von Helmut Schmidt zu seiner Klavierlehrerin überliefert und zugänglich wurde.
Es bleibt ein Blick auf die letzten Sätze der Lilli Sington-Rosdal auf ihrer Postkarte an Helmut Schmidt vom 4. März 1952: »Herzliche Grüße an Sie und all’ Ihre Lieben, besonders auch an Ihre Eltern von Ihrer alten Lilli Sington-Rosdal.«
Was so bemerkenswert und gar nicht floskelhaft erscheint, sind die besonderen Grüße an die »lieben Eltern«. Zumindest belegen diese Grüße, dass es offenbar auch ein besonderes Verhältnis von Lilli Sington-Rosdal zu Ludovika und Gustav Schmidt gegeben haben muss. Schließlich hatten diese mit ihr die Klavierstunden für die Söhne vereinbart und ihre Arbeit wertgeschätzt, denn ansonsten wäre es sicher kaum zu einer langjährigen Verbindung zu beiden Schmidt-Söhnen gekommen. Besonders dankbar wird Lilli Sington-Rosdal den »lieben Eltern« der Söhne Helmut und Wolfgang vor allem auch deshalb gewesen sein, da diese der Klavierlehrerin auch in den Jahren der NS-Zeit die Treue gehalten hatten, ihr sogar ab 1937 die Möglichkeit gaben, den Unterricht für den jüngeren Sohn Wolfgang bei ihnen in der Schellingstraße zu erteilen. Die Ausübung ihres Berufs war ihr aufgrund ihrer Einstufung als »Mischling ersten Grades« an alter Stelle nicht mehr möglich gewesen. Nicht alle Familien ihrer Schülerinnen oder Schüler werden sich so verhalten haben. Bei nicht vielen wird sie sich auch getraut haben, überhaupt darum zu bitten.
Spätestens hier wird allerdings deutlich, dass die Beschreibung Helmut Schmidts, man habe über die »nicht-arische« Herkunft von »Fräulein Sington« nichts gewusst und in der Familie nicht darüber gesprochen, schwer nachvollziehbar ist. Bereits der Name »Sington« dürfte den Eltern, vor allem aber Gustav Schmidt, Hinweise auf eine jüdische Verwandtschaft von »Fräulein Sington« gegeben haben. Der Name Singer und Variationen wie Singmann, Singbaum, Singermann oder auch – zugegebenermaßen seltener – Sington waren und sind als jüdische Namen und dem möglichen Verweis auf Vorfahren, die als (Vor-)Sänger in der Synagoge gewirkt haben, nicht unbekannt. Zudem mussten Gustav und Ludovika Schmidt nicht nur um den Grund für den notwendigen Ortswechsel der Klavierstunden des Sohnes Wolfgang in ihre eigene Wohnung gewusst haben, denn dieser war ja auf jeden Fall erklärungsbedürftig, sie zeigten an dieser Stelle auch eine bemerkenswert mutige Haltung. Eine Denunziation hätte in dieser Angelegenheit sicher unangenehme Folgen und vielleicht sogar weitere Nachforschungen für die Schmidts bewirkt.
Auch will dieser Sachverhalt nicht so ganz in Helmut Schmidts Charakterisierung seines Vaters in den Jahren der NS-Zeit passen. Mehrfach hat er beschrieben, dass Gustav Schmidt wegen seines jüdischen Vaters seit der Machtübernahme der Nazis in großer Sorge um die eigene Zukunft gewesen sei. Zwar war der Name Ludwig Gumpel wegen der unehelichen Geburt des Sohnes Gustav auf dessen Geburtsanzeige nicht registriert und mit »Vater unbekannt« ersetzt worden, die Angst um die Entdeckung der jüdischen Herkunft und damit seine Einstufung als »Mischling ersten Grades« habe ihn aber geradezu besessen gemacht. Als eine Art Familiengeheimnis hat Helmut Schmidt diesen Sachverhalt um den jüdischen Großvater und die daraus resultierenden Folgen beschrieben.[95]
Doch wenn dem so war, bleibt die Frage offen, warum sich Gustav Schmidt mit der Weiterbeschäftigung der Klavierlehrerin seiner Söhne nach 1933, vor allem aber nach deren Berufseinschränkung Mitte der dreißiger Jahre, einer zusätzlichen Gefährdung ausgesetzt hat. Man sieht, die langjährige Bekanntschaft von Helmut Schmidt zu seiner Klavierlehrerin Lilli Sington-Rosdal wirft bis heute Fragen auf.
Das Gleiche gilt auch für seine Haltung zu der Thematik des »jüdischen Großvaters«. Öffentlich spricht er über Ludwig Gumpel zum ersten Mal Ende der siebziger Jahre. Spätestens seit der Publikation Gumpel, Wenzel, Schmidt der Autoren Gerrit Aust und Irmgard Stein aus dem Jahre 1994 wusste er auch Genaueres über das Leben und Schicksal Ludwig Gumpels und seiner Familie.[96] Dieser hatte mit seiner 1894 geehelichten Frau Hedwig Gumpel eine Tochter und drei Söhne und war mit der Familie 1896 zurück in seinen Geburtsort Bernburg an der Saale gezogen. Im Juli 1935 verstarb Ludwig Gumpel, er hatte aber noch die bereits gleich nach der Machtübernahme der Nationalsozialsten vom 30. Januar 1933 einsetzende Hetze, Verfolgung und zeitweise Verhaftung seines Sohnes Max, der das Bankgeschäft des Vaters fortgeführt hatte, miterleben müssen. 1937 war die Familie Max Gumpel nach England emigriert, Mutter Hedwig war in Deutschland zurückgeblieben und entzog sich, als die Deportationen der Juden begannen, den Verfolgungen durch wechselnde Verstecke. Im Sommer 1944 wählt sie den Freitod und vergiftet sich, offenbar erschöpft und verzweifelt, an der Grabstelle ihres Mannes auf dem jüdischen Friedhof zu Bernburg. Es ist bemerkenswert und schwer verständlich, dass Helmut Schmidt über diese tragischen Schicksale in seiner eigenen Verwandtschaft zumindest öffentlich nicht gesprochen hat.[97] Die Grabstelle der Familie ist bis heute erhalten, der eingemeißelte Schriftzug »Familie Ludwig Gumpel« ist für den Besucher gut lesbar. Um die Tragödie, die daruntersteckt, weiß jedoch nur der, dem sie berichtet wird.
© Joachim Grossert
Grabmal der Familie Ludwig Gumpel in Bernburg. Das Foto zeigt den aktuellen Zustand.