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Die »Halbjüdin«

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Als sogenannter Mischling ersten Grades war Lilli Sington-Rosdal nicht allen Schikanen der zunehmenden Entrechtung der Juden in Deutschland unterworfen, so musste sie zum Beispiel den gelben Stern nicht tragen und konnte, solange es finanziell möglich war, in der eigenen Wohnung bleiben. »Mischlinge ersten Grades«, die in kaufmännischen und technischen Berufen arbeiteten, durften ihre Tätigkeiten bis Ende 1944 ausüben, und sie waren letztendlich auch wegen dieses Status vor den Deportationen und der Ermordung geschützt gewesen.

Natürlich hat Lilli Sington-Rosdal aber als »Mischling ersten Grades« alles andere als ein normales oder geschütztes Leben führen können. Im Gegensatz zu den Technikern oder Kaufleuten durfte sie ihren Beruf nur nach ausdrücklicher Genehmigung durch die Reichskulturkammer ausüben. Dafür hatte sie eine Mitgliedschaft in der Kammer beantragen müssen, ist aber wohl spätestens 1936/37 wieder ausgeschlossen worden.[84] 1938 erscheint ihr Name in einem Verzeichnis mit dem Titel »Judentum und Musik mit dem ABC jüdischer und nichtarischer Musikbeflissener«,[85] später dann auch in dem parteioffiziellen »Lexikon der Juden in der Musik«, das ausdrücklich als »Handhabe zur schnellsten Ausmerzung aller irrtümlich verbliebenen Reste [jüdischer Musiker, R.L.] aus unserem Kultur- und Geistesleben«, und zwar »im Auftrag der Reichsleitung der NSDAP« zusammengestellt worden war. In dieser Schrift waren alle Musiker, die die Nazis als »Juden oder Halbjuden« klassifiziert hatten, registriert.[86]


© Ulrich Sington-Rosdal

Konfirmationsurkunde der christlich getauften Lilli Sington-Rosdal.

Da Lilli Sington-Rosdal ab 1936/37 ihren Beruf nicht mehr ausüben durfte, musste sie die Wohnung in der Moltkestraße wohl aus wirtschaftlichen Gründen aufgeben, fand aber Unterkunft als Untermieterin in der Tornquiststraße 46 in ihrem Stadtteil Eimsbüttel. Dort teilte sie sich die Wohnung offenbar mit mehreren anderen alleinstehenden Frauen.[87] Für die im Sinne der Nazigesetze sogenannten volljüdischen Bürger war die Wohnsituation noch schwieriger. Erst wurden sie aus ihren Wohnungen verdrängt und mussten sich kleinere Unterkünfte suchen oder mit anderen zusammenziehen. Seit 1942 begannen die Nazis, jüdische Bürger in Hamburg in sogenannte Judenhäuser zwangseinzuweisen, von dort ging der Weg für fast alle weiter zur Deportation.

Dieses Schicksal blieb der »Halbjüdin« Lilli Sington-Rosdal erspart. Seit 1942 konnten die sogenannten Mischlinge ersten Grades nach den Gesetzen der Nazis zu Zwangsarbeiten verpflichtet werden; Frauen, vor allem ältere, blieben jedoch meist davon ausgenommen. Dies traf auch auf Lilli Sington-Rosdal zu, denn die nach 1945 sonst üblichen Entschädigungen für eine solche Zwangsarbeit können im Dokumentenbestand des Hamburger Staatsarchivs für die Klavierlehrerin Lilli Sington-Rosdal nicht belegt werden.

Interessanterweise findet sich im Hamburger Adressbuch von 1939 für Lilli Sington-Rosdals neue Wohnanschrift Tornquiststraße 46 auch der Hinweis auf die Diakonisseneinrichtung »Siloah« als Mietpartei in dieser Immobilie. Siloah war eine 1907 von der Baptistin Albertine Assor (1863–1953) gegründete wohltätige Einrichtung von Diakonissen, zunächst zur Unterstützung von jungen, alleinstehenden berufstätigen Frauen, in den zwanziger Jahren kamen Kranken- und Alterseinrichtungen hinzu.[88]

1940 musste auf Druck der Nationalsozialisten der hebräische Name Siloah[89] aufgegeben werden. Als Würdigung der Gründerin Albertine Assor wählte man fortan den Namen Albertinenhaus, später Albertinen-Krankenhaus, heute fortgeführt in der Unternehmensgruppe »Immanuel Albertinen Diakonie«.

Dass Lilli Sington-Rosdal Unterkunft bei den Albertinen-Schwestern in der Tornquiststraße 46 gefunden haben könnte, ist aus zweierlei Gründen plausibel. Zum einen ist bekannt, dass die Albertinengemeinschaft sich um eine fürsorgliche Haltung gegenüber den bedrängten Juden in der NS-Zeit bemühte, zum anderen lässt auch Lilli Sington-Rosdals Wohnanschrift Mittelweg 111, die sie 1952 auf der Postkarte an Helmut Schmidt als Absenderadresse angibt, darauf schließen, dass sie auch nach dem Krieg in einer Einrichtung des Albertinenhauses unterkam. Seit 1935 war die Immobilie Mittelweg 111 im Besitz des Albertinenhauses und wurde bis ins Jahr 1956 als sogenanntes Leichtkrankenhaus für Männer geführt. Gestorben ist Lilli Sington-Rosdal in Bruchhausen/Kreis Neuwied am 27.11.1956.[90] Dorthin war sie laut Melderegister im August 1952 verzogen. Und auch der Meldebogen der Gemeinde gibt als letzte Adresse das »Leichtkrankenhaus, Hamburg Mittelweg 111« an.

Relativ unbeschadet kam Lillis Bruder Cäsar Sington-Rosdal durch die Nazijahre. Als Kaufmann konnte er seinem Beruf weiter nachgehen. Auch die Ehe mit seiner »arischen« Frau Anna gab ihm als »Mischling ersten Grades« einen gewissen Schutz.

Für Lillis jüngere Schwester Elsa Niny Theodora Elias, geborene Sington-Rosdal, war die Lebenssituation eine andere.[91] Elsa hatte mit Dr. Bernhard Elias einen jüdischen Zahnarzt geheiratet und galt als »Mischling ersten Grades« durch diese Heirat nach den Rassegesetzen der Nazis selbst als »jüdisch«. Jüdisch galt Bernhard Elias den NS-Behörden wegen seiner Vorfahren, wiewohl er selbst Christ war. Die Zulassung seiner Kassenpraxis hatte Dr. Elias bereits am 1.7.1933 verloren, am 30.9.1938 wurde ihm die Approbation entzogen und die Praxis stillgelegt.

Dies alles vollzieht sich in der Familie der Lilli Sington-Rosdal in einem Zeitraum, in welchem Lilli den Brüdern Helmut und Wolfgang Schmidt Klavierunterricht erteilt. Die Geschehnisse im Hause ihrer Schwester, der Verlust ihrer bürgerlichen Existenz, dürfte Lilli Sington-Rosdal bedrückt haben. Bis in die dreißiger Jahre hatte im Hause des Dr. Elias auch ein Klavierflügel gestanden. Man kann annehmen, dass Lilli auf diesem Flügel für die Familie ihrer jüngeren Schwester musiziert hat.

Dem weiteren Zugriff der NS-Behörden konnten sich Elsa und Dr. Bernhard Elias in nahezu letzter Minute vor Kriegsbeginn durch die Emigration nach England entziehen. Das Schicksal aber meinte es nicht gut mit ihnen. Bereits im Dezember 1939 verstirbt Dr. Bernhard Elias im Londoner Exil, das Leben seiner Frau endet zwei Jahre später.[92]

Lilli Sington-Rosdal, ihr Bruder und dessen Frau Anna haben den Krieg und die Nazizeit überlebt. Im Mittelweg 111 konnte Lilli eine neue Unterkunft finden, ob sie im fortgeschrittenen Alter noch einmal Klavierunterricht erteilt hat, wissen wir nicht. In den ersten Jahren nach dem Kriege wird die Nachfrage nach privatem Klavierunterricht ohnehin gering gewesen sein. Ein eigenes Klavier hatte sie gewiss nicht mehr, spätestens seit dem Auszug aus der Moltkestraße war das Ende des Musizierens am eigenen Klavier gekommen. Mit dem Bruder Cäsar und seiner Frau pflegte sie weiter einen engen Kontakt, hier konnte sie auch Klavier spielen, denn der Bechstein-Flügel des Bruders hatte den Krieg überstanden.

Helmut Schmidt am Klavier

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