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Die Schmidts

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Gustav und Ludovika Schmidt wohnten mit ihren beiden Söhnen bis 1931 in der Richardstraße 65 in Barmbek, danach im benachbarten Stadtteil Eilbek in der Schellingstraße 9. Das Klavier der Schmidts stand zwar in beiden Wohnungen im Wohnzimmer, es war jedoch eindeutig das »Klavier der Mutter«.[32] Als Helmut seine Klassenkameradin Loki Glaser als einziges Mädchen zu seinem zehnten Geburtstag 1929 in die Richardstraße eingeladen hatte, stellte er ihr auch das schöne schwarze Klavier mit ebendiesen Worten vor: »Das Klavier meiner Mutter.« Dass Helmut Schmidt auch acht Jahrzehnte später noch vom »Klavier der Mutter« spricht, zeigt einerseits, wie tiefgehend sich die eigene Liebe zum Klavierspiel mit der Mutter verbindet. Andererseits verweist diese Kennzeichnung aber auch auf die Fremdheit, die er zeitlebens seinem Vater gegenüber empfindet. Zwar hatte er, wie jeder Volksschullehrer damals, auf dem Lehrerseminar ein Instrument erlernen müssen, eigenes Musizieren hatte er nach Abschluss der Ausbildung jedoch nicht verfolgt, und so erlebte ihn Helmut Schmidt – noch im späten Rückblick auf die eigene Biographie – als einen Vater, der sich nicht für das inspirierende musikalische Treiben in der Familie interessierte und sich die Musik, die ihn selbst bereicherte, nicht erschließen konnte.

Gustav hatte sich seine Bildung ohne familiäre Unterstützung selbst erkämpfen müssen. Im Jahr 1888 unehelich geboren, wurde Gustav Ludwig Schmidt als drei Monate alter Säugling vom Ehepaar Johann Gustav und Catharina Schmidt adoptiert. Mit diesen Zieheltern und ihren später geborenen eigenen Kindern wuchs Gustav in äußerst einfachen Verhältnissen auf. Seine leibliche Mutter war die Hamburgerin Friederike Wenzel. Sie arbeitete als Kellnerin und hatte sich mit ihrer ungewollten Schwangerschaft und den Nöten, die ihr daraus erwuchsen, ihrer befreundeten Arbeitskollegin Catharina Schmidt anvertraut. Für Friederike Wenzel war klar, dass nach der kurzen Beziehung zum Erzeuger des Kindes eine Heirat mit ihm nicht in Betracht kam. So kam man schon vor der Niederkunft überein, dass das noch kinderlose Ehepaar Schmidt das Kind adoptieren würde. Der Vater Ludwig Gumpel, ein Bankkaufmann, leistete seinen Beitrag zur Adoption, indem er die zukünftigen Eltern seines Kindes finanziell unterstützte.[33] Die ledige Friederike Wenzel, die für ihren eigenen Lebensunterhalt durch wechselnde, schlecht bezahlte Tätigkeiten in der Gastronomie allein zu sorgen hatte, hätte das Aufziehen und die Versorgung eines unehelichen Kindes in den gesellschaftlichen Bedingungen der damaligen Zeit ganz sicher nicht leisten können. Der Verdienst von Dienstmädchen und Kellnerinnen war in jenen Jahren miserabel, die Arbeit hart und die Arbeitszeiten ungeregelt.

Gustav Schmidt erfuhr im Laufe der Jahre von seinen Zieheltern, wer seine leiblichen Eltern waren, und er lernte seine Mutter Friederike Wenzel, die im Hause seiner Zieheltern verkehrte, auch kennen.[34] Seine spätere eigene Ehefrau Ludovika wusste um seine Familiengeschichte, aber alle zusammen, das Ehepaar Gustav und Ludovika, das Ehepaar Johann Gustav und Catharina Schmidt wie auch Gustavs leibliche Mutter Friederike Wenzel, hatten entschieden, nicht offen über diese familiären Hintergründe zu sprechen. Als Gustav Schmidt selbst eine Familie gegründet hatte, war die leibliche Mutter bei Festtagen zugegen, wie Helmut Schmidt berichtet; über die wirkliche Familienzugehörigkeit der Friederike Wenzel habe er aber erst als Jugendlicher erfahren. Für die beiden Söhne der Schmidts waren und blieben Johann Gustav und Catharina Schmidt die »richtigen« Eltern des Vaters; »Opa Schmidt« nannten Helmut und sein Bruder Wolfgang den Großvater väterlicherseits.

Diese Großeltern lebten unter ärmlichen Verhältnissen in einer Kate in der Barmbeker Hufnerstraße. Erst 1929 bezogen sie eine etwas bessere Wohnung in der zweiten Reihe am Winterhuder Weg, bei den Hamburgern hießen so gelegene Wohnhäuser »Terrassen«. Großvater Johann Gustav Schmidt, der mit einfachen Tätigkeiten als Hauswart oder Straßenfeger den Familienunterhalt verdiente, war als Kind ohne viel Schulbildung aufgewachsen. Helmut Schmidt erinnerte sich, dass dem Großvater sowohl das Schreiben als auch das Lesen schwerfiel und er nur mit Mühe eine Zeitung habe lesen können.

Für den Vater von Helmut Schmidt gab es also weder von der leiblichen Mutter noch in der Familie der Zieheltern Impulse zu höheren Bildungszielen. Seinen erfolgreichen Bildungsweg und Aufstieg vom Volksschüler zum Studienrat und schließlich zum Schulleiter einer Berufsschule hatte Gustav Schmidt nur mit eigener Zielstrebigkeit, mit Disziplin, Leistungswillen und dem Verzicht auf alle Ablenkungen leisten können. Die Schule hatte er mit dem Besuch der sogenannten Selekta, einem zusätzlichen neunten Schuljahr für begabte Volksschüler, abgeschlossen.[35] Die Selekta war eine Hamburger Besonderheit, der Abschluss entsprach in etwa der mittleren Reife im preußischen Schulwesen, also einem heutigen Realschulabschluss. Schülerinnen und Schüler, die in Hamburg die Selekta besuchten, galten als begabt und genossen eine besondere Beachtung in der anschließenden Berufsausbildung. Gustav Schmidt absolvierte nach seinem Schulabschluss eine Ausbildung als Anwaltsgehilfe und ging im Anschluss daran an das Lehrerseminar. Nach einer dreijährigen Lehrerausbildung legte er 1911 das erste und 1914 erfolgreich das zweite Examen als Volksschullehrer ab. Kurz darauf, im August 1914, heirateten Gustav Schmidt und Ludovika Koch. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs kam im Dezember 1918 der erste Sohn Helmut und im Juni 1921 dann der zweite Sohn Wolfgang zur Welt.

Nach der Demobilisierung des deutschen Heeres Anfang 1919 konnte Gustav Schmidt seinen Dienst als Volksschullehrer wieder aufnehmen. Bald entschied er sich jedoch, neben seiner Lehrertätigkeit ein Universitätsstudium für das Lehramt an Berufsschulen aufzunehmen. Nach dessen erfolgreichem Abschluss wurde der Volksschullehrer Gustav Schmidt zum Studienrat und damit in den höheren Dienst befördert. Bereits zwei Jahre später, 1927, wurde der offenbar sehr tüchtige und anerkannte Berufsschullehrer Gustav Schmidt von seinem Kollegium zum Schulleiter gewählt.[36] Es war eine in der Tat erstaunliche Berufskarriere.

Der schulische und berufliche Werdegang sowie der gesellschaftliche Aufstieg von Gustav Schmidt verweisen – insbesondere im Hinblick auf die prekäre soziale Ausgangssituation – auf den außergewöhnlichen Leistungswillen und die Zielstrebigkeit des Vaters von Helmut Schmidt. Man kann nachvollziehen, dass dieser Vater dem Ziel des beruflichen und gesellschaftlichen Aufstiegs alle Unternehmungen, die »nur« der Unterhaltung oder womöglich der Ablenkung dienten, strikt unterordnete und aus seinem Leben fernhielt.

Seine Strenge mit sich selbst legte den Maßstab für seine Vorstellung von Erziehung, und seine Söhne mussten sie in ihrem täglichen Leben am eigenen Leib erfahren. Sie erlebten ihn als unnahbar, es gab Verbote und Ermahnungen, an Zuwendung und Ermunterung fehlte es. Wurde in der Familie über ernste Dinge, wie zum Beispiel Politik gesprochen, hatten die Kinder den Raum zu verlassen. Misslang den Jungen etwas oder ging etwas zu Bruch, fürchteten sie die Reaktion des Vaters, denn oft blieb es nicht bei Zurechtweisungen. Auch die körperliche Züchtigung – von Backpfeifen bis zum Einsatz des Rohrstocks – gehörte zu seinen und auch im Schulwesen unhinterfragten Erziehungsmaßnahmen. Ein liebevoller Umgang mit den Kindern war ihm wohl auch vom Wesen her nicht gegeben. Keiner der beiden Söhne konnte sich erinnern, dass der Vater ihn jemals in den Arm genommen hätte. Als »Brachialpädagogik« bezeichnete der spätere Lehrer und Pädagoge Wolfgang Schmidt den Erziehungsstil seines Vaters.[37]

Und dennoch war es der Vater, der den ersten Klavierunterricht für Sohn Helmut befürwortete und die Klavierstunden bezahlte. Gustav Schmidts Verständnis von bürgerlicher Erziehung beinhaltete eben auch, dass zur Bildung seiner beiden Söhne unabdingbar Klavierstunden gehörten. Wohl auch in seiner Rolle als Schulleiter war dieser Klavierunterricht ein wichtiges Bekenntnis zu klassischen Bildungsidealen. Das Geld für die Klavierstunden war bei den Haushaltsausgaben also fest eingeplant, eine Klavierlehrerin bald gefunden, und so stand der Musikerziehung des kleinen Helmut nichts mehr entgegen. Wenige Jahre später durfte auch der jüngere Wolfgang den Klavierunterricht besuchen, und über einige Jahre verband das Klavierspiel die Brüder.

Helmut Schmidt am Klavier

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