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Helmut Schmidt und die Künstlerfamilie Breling

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Mit diesen weitverzweigten und für Außenstehende nicht leicht zu durchschauenden Familienverhältnissen kam Helmut Schmidt – zusammen mit seinem jüngeren Bruder Wolfgang – erstmals in den Sommerferien 1935 in Verbindung.[110] Die Brüder waren auf einer Radtour zum Rhein und an die Mosel und hatten in Fischerhude Station gemacht. Allerdings blieb dieser erste Ausflug in das Künstlerdorf noch ohne großen Einfluss auf die beiden Jungen aus Hamburg-Barmbek. Anlaufpunkt war das Haus von Fritz Schmidt, Kriegskamerad und enger Freund von Helmuts Lieblingsonkel Heinz Koch. Beide waren am Ende des Ersten Weltkriegs an den Aufständen der Matrosen beteiligt gewesen. Dieser Fritz Schmidt war Ende 1918 zusammen mit seinem Kameraden Jan Bontjes van Beek auf den Barkenhoff des damals schon berühmten Künstlers und Sozialisten Heinrich Vogeler nach Worpswede gekommen. Beide wurden in Fischerhude sesshaft, denn beide hatten eine Breling-Tochter geheiratet: Fritz Schmidt Henriette, oder auch Haina genannt, Jan Bontjes van Beek die jüngste Breling-Tochter Olga. Das Haus von Haina und Fritz Schmidt lag wie das des Heinrich Breling und seiner Familie an der sich langziehenden Straße »In der Bredenau«. Beide Häuser befinden sich bis heute im Familienbesitz und sind nur wenige hundert Meter voneinander entfernt. Von Beruf war Fritz Elektriker, natürlich aber wurde auch er in die Kunstproduktion der Breling-Töchter einbezogen. Das von Haina und Fritz Schmidt auch Gästen offenstehende Haus wurde für den von Ende 1937 bis 1940 in Grohne bei Bremen stationierten Soldaten Helmut Schmidt zu einem wichtigen Anlaufpunkt. Hier konnte er übernachten und wurde verköstigt. Das einzige Foto von Helmut Schmidts zahlreichen Besuchen in Fischerhude stammt aus dem Garten von Haina und Fritz mit deren junger Tochter Olgi auf seiner Schulter.

Fischerhude war für Schmidt eine besonders intensive Erfahrung, seine Beschreibungen wirken manchmal schwärmerisch; folgt man seinen Einschätzungen, waren die Impulse, die er hier erfahren hat, bedeutender als die des Elternhauses. Zumindest für die Vertiefung seines Kunst- und Musikverständnisses muss dies auch so gewesen sein.


© Saskia Bontjes van Beek

Helmut Schmidt mit Olgi, im Garten seiner Gastgeber um 1940. Dies ist das einzige überlieferte Foto von seinen vielen Besuchen in Fischerhude während der Soldatenzeit.

Besonders eindrücklich – und öffentlich wohl auch zum ersten Mal – beschreibt er sein Verhältnis zu Fischerhude in einer Ansprache zur Eröffnung des Erweiterungsbaus des Modersohn-Museums vom Oktober 1985. Ihm selbst muss diese Rede wichtig gewesen sein, denn er ließ sie in dem Band Vom deutschen Stolz. Bekenntnisse zur Erfahrung von Kunst abdrucken und machte sie so auch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich.

Christian Modersohn, der jüngste Sohn Otto und Louise Modersohns und Begründer des seit 1974 bestehenden Otto-Modersohn-Museums in Fischerhude, hatte den Altkanzler um eine Ansprache gebeten, eine Bitte, der dieser bereitwillig nachgekommen war. Es war eine sehr persönliche Rede, die Schmidt hier hielt, die anwesenden Künstlerfamilien Modersohn und Bontjes van Beek, die nur allzu gut um Helmut Schmidts enge Verbindung zu ihrem Künstlerdorf wussten, wird das nicht verwundert haben. Auch die damals fast 90-jährige Olga Bontjes van Beek war anwesend.

»Drei Jahre bin ich als wehrpflichtiger Soldat so jedes zweite oder dritte Wochenende in Fischerhude gewesen. (…) Damals wie heute brauchte man in Fischerhude um Gastfreundschaft nicht zu bitten. Man wurde gleichsam wie selbstverständlich zugehörig einbezogen. So war das im Hause von Hainas Schwestern Amalie Breling und Olga Bontjes van Beek oder im Hause Clara Rilke-Westhoff oder in dem Otto Modersohns. Man durfte die Bilder ansehen, mittun in der keramischen Werkstatt, Musik hören und selbst musizieren. Und vor allem: Man traf Menschen sowohl aus Fischerhude als auch Gäste aus jenen Teilen Deutschlands, die offen waren. Sie waren alles andere als Nazis. Aber sie waren wirklich alles andere: Ich denke, die Palette reichte von weit links bis rechts. In einem zentralen Punkt stimmten sie überein: Aus ihrem Künstler-Sein entsprang ihr unbedingter Wille zur Unabhängigkeit und Freiheit der Person.«[111]

Nicht allein seine enge Bindung an diesen Ort hatte Schmidt bewegt, diese Eröffnungsrede zu halten, nach eigenen Schilderungen lag der Grund auch in seiner hohen Wertschätzung des Malers Otto Modersohn. 1936 wohl war er das erste Mal in dessen Haus und Atelier gewesen, Modersohns Bilder wie die seiner zweiten Frau Paula Modersohn-Becker hatte er aber bereits seit seiner Lichtwarkschulzeit gekannt. Vor allem Modersohns Landschaftsbilder berührten Schmidt. Otto Modersohn sei einer der Maler gewesen, »die mein eigenes, mein ganz subjektives Landschaftsgefühl zum Ausdruck brachten und die meine Heimat in Stimmungen darstellten, wie ich sie selbst empfand – unter dem großen Himmel des norddeutschen Tieflandes«. Und dann spricht Schmidt vom Tagebuch der Paula Modersohn-Becker. »Das Tagebuch und die Briefe Paula Modersohn-Beckers sind nach meiner Erinnerung meine erste Begegnung mit dem Denken eines Künstlers gewesen. Als ich (…) zum ersten Mal an der Straße nach Quelkhorn zu Gast bei Otto Modersohn war, war das für mich in zweierlei Hinsicht eine Sensation: Er war der Mann, an den die mich so bewegenden Briefe gerichtet waren. Und er war der Maler jener Bilder der Hamme- und Moorlandschaft, deren Reproduktionen mich so sehr begeistert hatten.«[112]

Weiß man von diesen frühen Vorlieben und Prägungen, so ist man nicht erstaunt, dass sich zahlreiche Bilder von Paula Modersohn-Becker und Otto Modersohn, aber auch von deren Sohn Christian Modersohn, ebenfalls Maler, in der späteren Kunstsammlung der Schmidts am Neubergerweg in Langenhorn finden.

In seiner Rede vom Oktober 1985 spricht Helmut Schmidt aber nicht nur von Otto Modersohn, er widmete sich auch seiner engen Freundschaft zu der Malerin Olga Bontjes van Beek und ihrer Kunst. Als diese in den dreißiger Jahren begann, sich ernsthaft der Malerei zu widmen, zeichnete sie zuerst Porträts ihrer Kinder und Landschaften. »Behutsam« habe sie gemalt, »genau und zart«, »ich glaubte damals die gewesene Tänzerin in ihren Bildern zu spüren«, beschreibt Schmidt seine Eindrücke aus dieser Zeit. Nach dem Krieg sollte sich ihre Malerei deutlich verändern, ihr neuer Stil beeindruckte den inzwischen zum Kunstkenner und Sammler avancierten Helmut Schmidt, er sah sogar eine Nähe zu dem von ihm so sehr geschätzten Expressionismus. »Kraftvoll in Farbe und Form, großzügig, erdig, eher den Landschaften der deutschen Expressionisten verwandt als den Worpswedern (…). Welch ein Wandel, welch eine Steigerung innerhalb eines Lebens.«[113]

In seiner Rede belässt er es aber nicht bei der Würdigung der Malerei von Olga Bontjes van Beek. Zum ersten Male bekundet er in einer größeren Rede auch seine persönliche Zuneigung zu ihr. Nach dem Krieg habe man sich aus den Augen verloren, »Olga Bontjes aber ist meine große Liebe geblieben – bei zwanzig Jahren Altersunterschied darf ich das vielleicht so sagen«, heißt es.

In seinen späteren autobiographischen Schriften greift er diese Bekundungen der Wertschätzung und Sympathie von 1985 erneut auf. Die Formulierungen wechseln, immer aber berührt den Leser die zu spürende Intensität. Im privaten Archiv der Familie Bontjes van Beek findet sich ein bis heute unveröffentlichter, 1967 einsetzender Briefwechsel zwischen den beiden, in dem beinahe noch eindrücklicher als in den öffentlichen Auslassungen des Helmut Schmidt die Intensität und Tiefe seiner Beziehung zu der Malerin Olga Bontjes van Beek lesbar wird.[114]

Im Juni 1967 hatte er eine Ausstellung von ihr in Fischerhude besucht und war auch zum ersten Male nach dem Krieg zu ihr in das Haus In der Bredenau gekommen. Am 19.6.1967 schreibt er, inzwischen Fraktionsvorsitzender in Bonn: »Ich war bei meinem Versuch, Dich in Fischerhude zu sehen, sehr unsicher, wie wohl nach so vielen Jahren und ob überhaupt wir uns verstehen könnten. Da ich in der Kunstschau einige Deiner Bilder gesehen hatte, habe ich aber gemeint: auf jeden Fall sollte ich es versuchen. Dein Brief hat alle leisen Zweifel beiseite geschoben. Ich führe leider ein schrecklich unruhiges Leben und habe kaum je einen halben Tag für mich allein. Aber ich komme bestimmt dieses Jahr Dich besuchen und freue mich darauf. (Ich rufe vorher an).«

Am 23.5.1969 schreibt er aus einem Kurzurlaub am Brahmsee: »Ich war gerade mitten in einem Diktat, als ich eben Deinen Brief erhielt. Entschuldige bitte, daß ich die Antwort diktiere. Mir ist es ähnlich gegangen wie Dir; ich habe die 30 Jahre kaum empfunden, die beinahe seit unserer letzten Begegnung vergangen sind. Ich freue mich zu dem Bild. Wenn Dein dortiger Tischler nach Deinem Geschmack einen Rahmen macht, so bin ich jetzt schon im Vorwege mit dem Ergebnis einverstanden. Laß mich bitte auf einer Postkarte wissen, wann es fertig ist. (…) Mach aber bitte einen anständigen Preis – und gib mir nicht das Gefühl, daß ich zu wenig bezahle!«

Am 2. September 1969, im Endspurt des Wahlkampfs zur Bundestagswahl vom 28.9.1969, schreibt er: »Seit tausend Jahren trage ich Deine Grüße aus Orvieto [hier suchte O. Bontjes van Beek immer wieder künstlerische Inspiration, R.L.] und aus Fischerhude mit mir herum. Meine Briefschulden sind im allgemeinen enorm, und in Deinem Fall bedrücken sie mich besonders. (…) Ich denke oft an die menschliche Berührung zurück, die ich Anfang des Krieges an schönen Sommertagen in Fischerhude erlebt habe.«

Am 18.2.1971 dann, als Bundesminister der Verteidigung von der Hardthöhe: »Liebe Olga! Von Dir zu hören, ist immer eine Freude. Das Foto mit dem Eingang Deines Hauses habe ich auf meinen Schreibtisch gestellt!«

Am 5.1.1977 meldet er sich als Bundeskanzler aus einem Urlaub zum Jahreswechsel in Marbella: »(…) Ich denke oft an Dich, weil ja vier Deiner Bilder in meiner Hamburger Wohnung hängen.«

Ein Jahr später, am 26.6.1978: »Ich hoffe sehr auch 1978 Dich wieder in Fischerhude besuchen zu können. Es tut jedesmal wohl: Ihr guten alten Freunde, Eure Bilder und auch die vertraute Landschaft.«

Am 4.11.1991 in einer Rede anlässlich einer Ausstellung in Verden mit dem Titel »Heinrich Breling/Bontjes van Beek – drei Generationen einer Fischerhuder Künstlerfamilie« führt er aus: »(…) [L]iebe Olga. Ich habe Dich geliebt, seit ich zwanzig war. Heute bist Du fünfundneunzig, aber meine Zuneigung ist die gleiche, weil nämlich Du selbst immer die gleiche geblieben bist, immer zurückhaltend und leise, aber stets von ganz großer Kraft, wie die Bilder, die Du mit Farbe und Sand malst, an denen wir uns heute freuen wollen.«

Und am 14. Februar 1995, zwei Tage nach Olga Bontjes van Beeks Tod, kondoliert er der Familie aus Gran Canaria, seinem Schreib- und Urlaubsort, den er für viele Jahre immer wieder zum Jahresbeginn aufsuchte: »Der Tod Eurer Mutter betrübt mich tief. Ich teile Eure Trauer tief in meinem Herzen. Olga ist für mich seit den späten dreißiger Jahren immer ein ganz wichtiger Pol in meiner Erlebnis-Welt gewesen, fast über ein halbes Jahrhundert. Sie war immer da, was auch sonst an Bösem geschah, man konnte sie immer besuchen, mit ihr reden, ihr zuhören und ihre Bilder ansehen. Es war Olga wahrscheinlich nicht bewußt, aber für mich war sie – und niemand anderes und nichts sonst – Fischerhude. Und Fischerhude war meine seelische Heimat. Es genügte zu wissen: dahinten, im flachen Land irgendwo, liegt Fischerhude. Das war so im Krieg und auch später, wenn ich jede Woche mit dem Flugzeug zwischen Bonn und Hamburg hin und her gependelt bin. Ich hab’ immer aus dem Flugzeugfenster geschaut und nach der Wümme gesucht – und war glücklich, die Wümmewiesen und Fischerhude zu finden. Weil ich immer gewußt habe: da ist Olga.«

Man muss lange in Helmut Schmidts vielen Beschreibungen von Weggefährten, Freunden und Orten suchen, um einen Ausdruck ähnlich starker Gefühle und Bindungen zu finden wie denen zu der Künstlerin Olga Bontjes van Beek. In seiner Verbindung zu ihr lernt man den ›anderen‹ Helmut Schmidt kennen.

Helmut Schmidt am Klavier

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