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Fischerhude und die Musik

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In jeder Beziehung verkörperte Olga Bontjes van Beek für den jungen Helmut Schmidt eine andere und größtenteils fremde Welt. Und dennoch boten sich für ihn viele Anknüpfungspunkte. In Olgas Haus konnte er seine Leidenschaft für die Künste vertiefen und sich in das für diese Familie so wichtige Musikgeschehen einbringen. Und so wird der eingangs erwähnte Flügel im Hause in der Bredenau zu einem Anziehungspunkt. Seit 1916 spielte man hier nicht an einem einfachen Klavier, sondern an einem kleineren sogenannten Stutzflügel, eigens für bürgerliche Wohnungen und Häuser von den großen Klavierbauern im 19. Jahrhundert entwickelt.

Als ich mit der Enkelin von Olga Bontjes van Beek Kontakt aufnahm und erfuhr, dass sie im Hause der Großmutter in Fischerhude wohnte, war eine meiner ersten Fragen die nach der musikalischen Tradition in den Familien Breling und Bontjes van Beek. Ich solle doch bitte anrufen, denn zu diesem Thema gäbe es viel zu berichten, antwortete sie.

Es war die Frau Heinrich Brelings, Amalie Breling, geborene Mayer aus München, die »die Musik ins Haus gebracht hatte«.[127] Alle ihre Töchter hatten durch ihren Einfluss eine enge Beziehung zur Musik, für alle blieb das eigene Musizieren ein Lebensthema. Vier der Breling-Töchter durchliefen sogar eine professionelle musikalische Ausbildung. Louise studierte Gesang und trat als Konzert- und Opernsängerin auf, Jossie studierte Klavier und Komposition, Haina Geige, Olga erhielt ihre Klavierausbildung von der eigenen Mutter und studierte Tanz.


© Saskia Bontjes van Beek

Der Flügel im Künstlerhaus Breling. Foto 2020. Der Raum ist im Originalzustand erhalten.

Neben Olga reüssierten später auch zwei ihrer Schwestern als bildende Künstlerinnen: Amelie als Malerin, Bildhauerin und Keramikerin, Louise, die nach der Heirat mit Otto Modersohn ihre Opernkarriere aufgab, wurde eine anerkannte Malerin, die den Stil des expressiven Realismus für sich entdeckt hatte.

1915 wurde das Klavier im Hause Breling durch den besagten imposanten Flügel aus der Klaviermanufaktur Bechstein ausgetauscht. 1300 Mark kostete er, war »gebraucht, aber bestens hergerichtet«, so steht es auf der Quittung für »Frau Prof. Breling«.[128] Das alte Klavier wurde in Zahlung genommen, für 300 Mark der Ankauf von Kunst in Rechnung gestellt, die stattliche Restsumme in monatlichen Raten abbezahlt. Nach seiner Zeit als Hofmaler in München waren die finanziellen Mittel im Hause Heinrich Brelings knapp geworden.

Der Flügel der Amalie Breling hat die Zeitläufe überstanden, ihre Tochter Olga hat an ihm ungezählte Stunden verbracht, und bis heute bildet der Bechstein-Flügel ein Zentrum im Wohnbereich des ehemaligen Breling-Hauses in Fischerhude.

Auch für Helmut Schmidt wurde dieser Flügel und das Klavierspiel in diesem Hause zu einem besonderen Anziehungspunkt. Wenn er hier unter dem Selbstporträt des Heinrich Breling spielte, war es für ihn nicht nur die Freude am eigenen Spiel, die ihn hierherzog, sondern auch die Tatsache, dass er sich in eine Welt einbringen konnte, die so verschieden von der seinen war. Malerei, Bildhauerei, Keramik, all das galt es erst zu entdecken – um selbstbewusst mitreden zu können, war das Terrain noch zu fremd. Beim Klavierspiel war dies anders, hier war er Akteur und konnte bei Olga unter Umständen sogar Eindruck hinterlassen. Musik machen ist immer auch eine Form der Kommunikation, und genau so mag das der junge Soldat am Klavier im Breling-Haus empfunden haben.

Gewiss trifft das auf das gemeinsame Klavierspiel mit Olgas Sohn Tim am Flügel des Hauses zu.[129] 1923 geboren, war Tim keine fünfzehn Jahre alt, als Helmut Schmidt ihn kennenlernte, er besuchte das Gymnasium in Bremen und zeigte sich schon zu diesem Zeitpunkt als ein begabter und versierter Klavierspieler. Dass ihm gar eine Karriere als Pianist möglich sein würde, war bei seinem außergewöhnlichen Talent wohl schon zu diesem Zeitpunkt deutlich zu bemerken. Eine schwere Kriegsverwundung an der rechten Hand sollte diese Karriere aber verhindern.


© Saskia Bontjes van Beek

Tim Bontjes van Beek.

Das vierhändige Klavierspiel ist eine besondere Form des sozialen Miteinanders. Man teilt eine Leidenschaft und eine besondere Fähigkeit, man verlässt sich auf den anderen, auf seine Fertigkeit, aber auch auf seine Toleranz, wenn beim Spiel nicht alles sofort klappt. Man ist abhängig und gleichzeitig trägt das gemeinsame Spiel einen mitunter über die eigenen Möglichkeiten hinaus. Das Spiel zu zweit schafft eine temporär enge Beziehung zwischen den Musikern.

So oder so ähnlich wird es wohl auch für Helmut Schmidt in Fischerhude gewesen sein. Auf dem Gebiet der bildenden Künste war er eher ein Lernender oder gar Außenseiter in diesem Kreis. Bei der Musik konnte er sich kompetent einbringen, allein vorspielen, allein für sich spielen und nicht zuletzt qualifiziert über Musik reden. Olga Bontjes van Beek war auch eine gute Gesprächspartnerin. 1941 schreibt sie in einem Brief an ihren Sohn Tim über die Musik der beiden Bachs. Es ist vorstellbar, dass sie so auch mit Helmut Schmidt gesprochen, ihm Ratschläge und Korrekturen mitgegeben haben könnte: »Über die beiden Bäche möchte ich Dir mal etwas sagen. Denke an Arrau [den chilenischen Pianisten Claudio Arrau, der von 1913 bis 1940 in Berlin lebte, R.L.], dessen Vortrag sich ganz nach der Verschiedenheit der Stile richtete. Bei Dir ist jetzt leicht die Gefahr, daß du Bach nicht mit der nötigen Festigkeit spielst. Denke daran, daß Du die Präludien nicht zu schnell spielst. Die haben mit Virtuosität nichts gemein! Die Virtuosität musst Du dem 19. Jahrhundert überlassen. Du mußt trennen! (…) das ist meine Meinung, und ich glaube, daß Du auch so fühlst.«[130]

Solche Passagen aus der Feder von Olga Bontjes van Beek lassen vermuten, dass Helmut Schmidt hier bei seinen Besuchen in Fischerhude nicht nur eine Erweiterung seines Kunstverständnisses, sondern auch eine Vertiefung seines Verständnisses der klassischen Musik erfahren haben könnte. Sicher konnte er in dieser Umgebung auch das Raue und Eintönige der Wehrausbildung in der Grohner Kaserne für eine kurze Zeit vergessen. Nicht, dass er sich dort unwohl gefühlt hatte. Später schreibt er, dass sich nach dem stumpfen und anstrengenden Arbeitsdienst die Ausbildung als Soldat in der Grohner Kaserne und die endgültige Distanz zum Elternhaus als eine Art Befreiung erwiesen habe, aber den Kontrast, den das Leben in Fischerhude zum Leben in der Kaserne bot, hat er offensichtlich noch viel stärker empfunden.

Helmut Schmidt am Klavier

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