Читать книгу Helmut Schmidt am Klavier - Reiner Lehberger - Страница 14

Die Klavierlehrerin

Оглавление

Helmut Schmidt stellt die Passage zu Lilli Sington-Rosdal in seinem detailreichen autobiographischen Text in den Kontext der musikalischen Einflüsse, die er aus der Familie seiner Mutter erfahren hat. Es verwundert da schon, dass er dennoch so gar keine Anmerkungen zur Persönlichkeit seiner Lehrerin oder ihrem Unterricht macht. Gern hätte man gewusst, ob sie ihren Unterricht zum Beispiel reformorientiert oder eher konventionell angeboten hat. Für den Klavierschüler war dies ein merklicher Unterschied. Die Reformströmung propagierte nach der Jahrhundertwende insbesondere im Anfangsunterricht eigene kreative Erfahrungen am Klavier, das Einüben kindgemäßer Stücke. Konventionell bedeutet andererseits eine strikte Entwicklung analog zur Notenschulung.

Zum eigentlichen Unterricht sagt Helmut Schmidt also nichts, und selbst sein Hinweis auf den Ort der Klavierstunden im Winterhuder Weg wirft Fragen auf, da im Hamburger Adressbuch der späten zwanziger und dreißiger Jahre kein Hinweis zu finden ist, dass Lilli Sington-Rosdal dort ihre Stunden gab: weder für ein Mietverhältnis noch für ein Gewerbe als Klavierlehrerin finden sich Belege. Gewohnt hat sie gemäß dem Hamburger Adressbuch in diesen Jahren in der Moltkestraße 19 in Hamburg-Eimsbüttel.[78] Allerdings gab es im Winterhuder Weg 18 die Musikschule von Else Timm-Körner. Es mag eine plausible, wenngleich nicht belegbare Erklärung sein, dass Lilli Sington-Rosdal dort angestellt war oder mit der Musikschule kooperierte und hier ihre Klavierstunden erteilte.

Aus den frühen handschriftlichen Aufzeichnungen des Jahres, erstellt 1945 im Kriegsgefangenenlager, erfahren wir jedoch einige weitere Details, wenn Helmut Schmidt zum Beispiel schreibt, dass er anfänglich mit seinem »Schnelläufer – heute sagen die Jungens Roller« zur Klavierschule gefahren sei. Später habe er sich zusammen mit seinem Bruder Wolfgang die Stunden geteilt und der Weg habe mit dem Bruder an der Hand zu Fuß absolviert werden müssen. Auch zum Erfolg des Unterrichts hält er 1945 einige Bemerkungen fest: »Ich spielte als kleines Kerlchen ganz nett, holte in der Fertigkeit auch meine Mutti ein, aber nicht viel mehr als dies.«[79]

Näheres zu seiner Klavierlehrerin findet sich allerdings auch in diesen frühen Aufzeichnungen von 1945 nicht, und so bleiben die wenigen späteren Sätze, dass er Jahrzehnte nach der NS-Zeit zufällig erfahren habe, Lilli Sington-Rosdal sei Jüdin gewesen und habe ab 1937 vermutlich wegen ihres Berufsverbots seinem Bruder in der Wohnung der Eltern Klavierstunden erteilt. Mit dieser kurzen Passage lässt Helmut Schmidt seine Leser zurück, auch der naheliegenden Frage, was aus seiner Klavierlehrerin in den weiteren Jahren der NS-Diktatur geworden ist, geht er nicht nach.

Wäre Lilli Sington-Rosdal tatsächlich im Jargon der Nationalsozialisten eine »Volljüdin« gewesen, und wäre es ihr nicht gelungen, vor Kriegsbeginn zu emigrieren, hätte sie mit großer Gewissheit das Schicksal der meisten der in Deutschland lebenden Juden ereilt: Deportation und Ermordung. Eine der wenigen Möglichkeiten zu überleben wären vielleicht ihr musikalisches Talent und ihr Einsatz in einem der in vielen Lagern von den Nazis eingerichteten Häftlingsorchester gewesen.[80]

Anders als Helmut Schmidt schreibt, war Lilli Sington-Rosdal jedoch keine Jüdin, sondern Christin. Sie hatte aber mütterlicherseits jüdische Vorfahren und galt daher nach den Nürnberger Rassegesetzen als »Mischling ersten Grades« – oder in der damaligen Umgangssprache als »Halbjüdin«. Am 29. April 1878 war sie in Hamburg-Rotherbaum als älteste Tochter des christlich getauften Kaufmanns Ferdinand Heinrich Theodor Sington-Rosdal und seiner jüdischen Frau Minna, geborene Emden, zur Welt gekommen.[81] Wenige Wochen nach ihrer Geburt wurde Lilli Sington-Rosdal in St. Pauli christlich getauft, und da eine Konfirmationsurkunde vorliegt,[82] kann man annehmen, dass sie auch eine christliche Erziehung erhielt. Inzwischen gehörte die Familie der Gemeinde der Christuskirche in Hamburg-Eimsbüttel an. Als Helmut Schmidt seine Klavierlehrerin Lilli Rosa Johanna Sington-Rosdal 1926 kennenlernte, war sie ungefähr fünfzig Jahre alt. Lilli Sington-Rosdal wurde von ihrem Schüler Helmut und seinen Eltern als »Fräulein« angeredet, sie war unverheiratet und blieb dies auch bis an das Ende ihres Lebens; mit dem Klavierunterricht verdiente sie ihren Lebensunterhalt. Einfach war dies sicher nicht, aber aus den Berichten eines Nachfahren der Familie, der sie als Kind noch selbst erlebt hatte, war sie bis zu ihrem Tod am 27. November 1956 in Bruchhausen im Kreis Neuwied eine musikbegeisterte, freundliche und keineswegs verbitterte alte Dame.[83]


© Ulrich Sington-Rosdal

Lilli Sington-Rosdal, circa 1930.

Die Liebe zur Musik wurde ihr und ihren beiden Geschwistern, der Schwester Elsa und dem Bruder Cäsar, quasi in die Wiege gelegt. Ihre Mutter war ausgebildete Konzertpianistin, die Schwester lernte Bratsche und Geige, der Bruder, wie Lilli, das Klavier, nach Aussagen aus der Familie komponierte er sogar. Cäsars Frau Anna war ebenfalls ausgebildete Konzertpianistin, in der Familie gibt es die Erzählung vom gemeinsamen Spiel der beiden, ja sogar mit Lilli zu dritt, auf dem Bechstein-Flügel von Cäsar und Anna Sington-Rosdal in der gutbürgerlichen Wohnung des Kaufmanns in der Eichenstraße 46 in Eimsbüttel, nach dem Kriege in der Schenefelder Straße im Hamburger Westen.

Helmut Schmidt am Klavier

Подняться наверх