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3 Ein erstes öffentliches Klavierspiel: Die Lichtwarkschule und musikalische Prägungen
Оглавление»Neben dem Musiklehrer unserer Klasse gab es an der Lichtwarkschule Hermann ›Papi‹ Schütt, einen dynamischen Musikanten, der mit seinem großen Orchester und seinem Chor die ganze Schule mitreißen konnte, vor allem mit den Opern, die wir aufführten, aber auch in den Schulfeiern. Das Spektrum der Musik reichte von Schütz, Buxtehude und Bach bis zu Hindemith, Orff und Stravinsky. Auf diese Weise gewann ich endlich große Freude am eigenen Klavierspiel, besonders aber am Chorsingen.«[45] (Helmut Schmidt, 1992)
Helmut Schmidt besuchte die Lichtwarkschule in Hamburg-Winterhude von Ostern 1929 bis zu seinem Abitur im März 1937. Die Bildung, die er hier erwarb, wurde zum stabilen Fundament für seine gesamte weitere Entwicklung, und – für sein Leben wohl noch wichtiger – an der Lichtwarkschule lernte er seine spätere Frau Hannelore Glaser kennen, schon damals von allen Loki genannt.
»1929, mit zehn Jahren, kam ich nicht auf ein Gymnasium, sondern an die Lichtwarkschule, die sich ›Deutsche Oberschule‹ nannte«, schreibt Helmut Schmidt im Rückblick auf seine Kindheit und Jugend, und man kann sofort schließen, dass die Lichtwarkschule wenig gemeinsam hatte mit dem klassischen deutschen Gymnasium.[46] Das gilt nicht zuletzt für die musische und künstlerische Erziehung an dieser Schule.
Die Hamburger Lichtwarkschule war eine Schule der pädagogischen Reformbewegung; hier fanden sich nach dem Ersten Weltkrieg Lehrkräfte zusammen, die sich mit den pädagogischen Zielen des Namensgebers Alfred Lichtwark (1852–1914), dem ersten Direktor der Hamburger Kunsthalle, identifizierten. 1903 hatte dieser in Weimar auf einer Zusammenkunft reformorientierter Lehrer angemahnt: »Die Schule geht vom Stoff aus und bleibt am Stoff kleben. Sie sollte von der Kraft ausgehen und Kräfte entwickeln. – Mit ihrer ausschließlichen Sorge um den Lehrstoff hat die Schule satt gemacht. Sie sollte hungrig machen.«[47]
Die Einflüsse der Lichtwark-Schulzeit auf die Persönlichkeitsentwicklung von Helmut Schmidt und auch auf die seiner damaligen Klassenkameradin Loki Glaser können kaum überschätzt werden. Beide haben vom »Glücksfall einer guten Schule«[48] gesprochen, nicht zuletzt haben beide der Schule für die eigenen musikalischen Fertigkeiten, er für sein Klavier- und Orgelspiel, sie für ihr Geigen- und Bratschenspiel, nachhaltige Impulse zu verdanken. Die Ursprünge für die für ihr privates wie berufliches Leben grundlegende Fähigkeit zur eigenen Urteilsfindung, ihr tiefgehendes und lebenslanges Interesse an Kunst, Literatur, Musik und Kunsthandwerk haben sie der Lichtwarkschule und deren Lehrkräften zugeschrieben. Und schließlich: Die gemeinsamen Erfahrungen und Prägungen an ihrer Schule blieben für sie auch als Paar ein bis zuletzt tragendes Fundament ihrer Beziehung.
1914 als Realschule in Hamburg-Winterhude gegründet, nach 1918/19 als Reformschule neu ausgerichtet, seit 1921 nach Alfred Lichtwark benannt und seit 1925 in einem neuen, prächtigen, vom damaligen Stadtbaumeister Fritz Schumacher erbauten Gebäude am Rand des Stadtparks residierend, wurde diese Schule in den zwanziger Jahren über Hamburg hinaus zu einem Aushängeschild einer höheren Schulbildung, die ganzheitlich wirken wollte und die die Grundwerte des neuen demokratischen Gemeinwesens pädagogisch umzusetzen suchte.[49] Pädagogen und Schulpolitiker aus dem gesamten deutschen Reich, ja sogar aus dem europäischen Ausland und Nordamerika besuchten diese Schule, hospitierten im Unterricht und zeigten sich beeindruckt.[50]
Während sich in den meisten Gymnasien in der Weimarer Republik der autoritäre Geist der kaiserlichen Pauk- und Buchschule weiter halten konnte, praktizierte die Lichtwarkschule ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen Lehrkräften, Schülerschaft und Eltern, fühlte sich den demokratischen Grundwerten und dem Ziel der Völkerverständigung der Weimarer Verfassung verpflichtet und entwickelte eine Pädagogik, die die vielseitigen Interessen und Anlagen ihrer Schülerschaft fördern wollte. Das galt nicht zuletzt für die ästhetischen Fächer und den Sportunterricht. Die an der Lichtwarkschule übliche tägliche Sportstunde und der erhöhte Stundenanteil von Musik, Kunst und Werkunterricht waren einzigartig in der schulischen Landschaft.
Für den Unterricht aller Fächer galt grundlegend, dass die Schüler möglichst eigenständig und aus eigener Motivation heraus arbeiten sollten. So gab es vielfältige Arbeitsgemeinschaften, Klassenreisen zur Erkundung der Kultur, Geschichte und Infrastruktur der näheren und weiteren Heimat, Jahresarbeiten für jeden einzelnen Schüler und fächerverbindenden Unterricht in der sogenannten Kulturkunde, eine Zusammenlegung von Deutsch, Geschichte und Religion. Für die Methodik war kennzeichnend, dass der Lehrstoff nicht frontal unterrichtet, sondern auch im Gespräch mit den Schülern entwickelt oder durch Schülerreferate vorgestellt werden konnte. Am Ende einer Themenerarbeitung sollten die Schülerinnen und Schüler zu einem eigenen Urteil finden. Dies hatte auch für den Musikunterricht Bedeutung. Loki Schmidt erinnerte zum Beispiel, dass ihr Schulfreund Helmut am Klavier vorspielte und die Klasse anschließend Vortrag und Stück besprechen konnte.[51]
© Hamburger Schulmuseum
Vor dem Haupteingang der Lichtwarkschule. Circa 1930.
Das vielfältige Angebot in den künstlerischen und musischen Fächern entwickelte sich alsbald zu einem Markenzeichen der Schule: Chöre und Orchester wurden eingerichtet, es gab Arbeitsgemeinschaften für Kunsthandwerk und Tanz, regelmäßige Schüleraufführungen sowie Ausstellungen aus dem Kunst- und Werkunterricht; Schülerinnen und Schüler der Lichtwarkschule musizierten sogar für Sendungen des Norddeutschen Rundfunks. In den Tagen vor großen Musik- oder Theateraufführungen wurde nicht nur in den Arbeitsgemeinschaften am Nachmittag geprobt, Proben wurden dann auch in den Vormittag verlegt und der Fachunterricht ausgesetzt. »An der Lichtwarkschule waren Musik und Kunst das eigentliche Leben, die anderen Fächer haben wir Schüler als nicht so wichtig angesehen«, schreibt Helmut Schmidt in seinem letzten Buch vielleicht etwas überspitzt, dadurch aber auch besonders eindringlich.[52]
Die Musikerziehung an der Lichtwarkschule basierte auf drei Aspekten: dem Musikunterricht im engeren Sinne, der Einbeziehung der Schüler in das »Schulorchester der Kleinen« und das »Große Schulorchester«, sowie dem Chorsingen in gemischten Gruppen, in Knaben- und in Mädchenchören.
Für den Musikunterricht im engeren Sinne war ein von dem Musikpädagogen Hermann Schütt entwickeltes Leitcurriculum die Grundlage. Dem Singen im Unterricht aller Klassen sprach er einen zentralen Stellenwert zu; gleichberechtigt wurde das musikgeschichtliche und musiktheoretische Niveau so hoch entwickelt, dass zum Beispiel in der Prima des Jahrgangs 1928/29 Inventionen und Fugen von Johann Sebastian Bach oder einzelne musikalische Stilperioden im Zusammenhang mit der Gesellschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart behandelt wurden. Musik der Gegenwart hieß an der Lichtwarkschule: Hindemith, Orff, Strawinsky und der amerikanische Jazz. Die Werke dieser Komponisten hatten eine moderne Klangsprache, knüpften aber an alte musikalische Techniken wie beispielsweise an die Kunst der Kontrapunktik an.[53] Die radikale Moderne eines Arnold Schönberg und seiner Schule spielte an der Lichtwarkschule keine Rolle.
Im Sinne des Lehrplans wurde auch das Repertoire des Großen Schulorchesters ausgebildet: Es war breit aufgestellt und reichte bis in die Gegenwart. Im Schuljahr 1928/29 beinhaltete es Mozarts Nachtmusik, Rosenmüllers Studentenmusik, die Waldmusik von J.P.A. Schulz, die h-Moll-Suite von Bach, dessen Kantate »Mer han en neue Oberkeet«, die Spielmusik von Hindemith und Offenbachs »Madame l’Archiduc«.[54]
Anders als Loki Glaser, die ab der Sexta erst im Kleinen, ab der Quinta bereits im Großen Orchester Geige und Bratsche gespielt hatte, war Helmut Schmidt über die gesamte Schulzeit hinweg nie ein Mitglied der Schulorchester geworden. In den ersten Jahren seines Schulbesuchs war die Pianistenstelle bestens besetzt, später gab er in seiner unterrichtsfreien Zeit dem Rudern und Segeln den Vorzug.
Bereits Ende 1933 war die zwölfköpfige Ruderriege der Lichtwarkschule in die Marine-HJ überführt worden, Helmut Schmidt wurde zum Kameradschaftsführer ernannt, 1936 sogar zum Scharführer befördert. Für das Jahr 1934 notiert er in seinen Aufzeichnungen, angefertigt im Kriegsgefangenenlager im Sommer 1945: »Begeisterter H.J.« [Hitlerjunge, R.L.], für das Jahr 1936 »erstes Erkennen der Mißstände in Nazi-Deutschland. Krach in der HJ.«[55] Nach abfälligen Bemerkungen über den Reichsjugendführer Baldur von Schirach und vorangegangener Aufsässigkeit wurde er Ende des Jahres 1936 als Scharführer abgesetzt und vom HJ-Dienst beurlaubt.
Neben dem privaten Klavierunterricht, HJ-Dienst, Rudern und Segeln am Nachmittag, Unterricht am Vormittag und zeitweise auch über den Mittag hinaus, blieb wenig Zeit für eine Mitarbeit im Schulorchester.
Das Singen aber hat ihn die gesamte Schulzeit über begleitet. Angeleitet und motiviert durch den Musiklehrer Ludwig Moormann war die Klasse des späteren Ehepaars Schmidt im Gesang zu besonderen Leistungen fähig. Ohne Probleme konnte die Klassengemeinschaft vom Blatt oder auch vierstimmig a capella singen, berichteten die beiden Schmidts übereinstimmend.[56] Selbst Jahrzehnte später noch sprach Loki Schmidt begeistert von ihrem Gesangsunterricht: »Wir konnten zum Beispiel alte Madrigale vom Blatt singen. Stellen Sie sich das mal vor, er [Ludwig Moormann, R.L.] verteilte völlig neue Noten, und wir konnten vom Blatt singen.«[57]
Bei dem hohen Niveau des Musikunterrichts in dieser Schule liegt es auf der Hand, dass Musik auch als Abiturfach eingebracht werden konnte. »Die Musik spielte für die Schule eine so große Rolle, dass sich einige Schüler als Schulabschluss zum Abitur ein Solokonzert aussuchen konnten. Das war dann deren Abschlussarbeit in Musik, zum Beispiel ein Flötenkonzert. Ich erinnere auch, dass jemand sogar ein Fagottkonzert (…) als Abschluss gab«, berichtete Loki Schmidt.[58]
Zwar hatte Helmut Schmidt auf Musik als Abiturprüfungsfach verzichtet, für seine Jahresarbeit der Oberstufe hatte er jedoch ein musikalisches Thema gewählt. Die eigenständigen jährlichen Arbeiten an einem großen Thema waren für ihn ein Markenzeichen der Schule und blieben unvergesslich. »Als Dreizehnjähriger habe ich einen Aufsatz über die Bauten der Weser-Renaissance in Hameln abgeliefert (die Klasse hatte im Sommer eine Fahrt ins Weserbergland gemacht), als Vierzehnjähriger eine Darstellung der Hafenkonkurrenz zwischen Rotterdam, Antwerpen, Bremen und Hamburg, und ein oder zwei Jahre später habe ich als Jahresarbeit zwanzig gegebene Melodien vierstimmig als Choräle gesetzt.«[59] Das Setzen einer vierstimmigen Melodie als Choral ist eine herausfordernde Arbeit und hätte gewiss auch als Abiturleistung Anerkennung gefunden.
Im Kern geht es bei einer solchen Aufgabe darum, eine gegebene Melodie harmonisch »zu unterfüttern«. Der Melodie, die meist als Sopran geführt wird, werden also die fehlenden Stimmen Alt, Tenor und Bass hinzugefügt, sodass ein vierstimmiger Satz entsteht, der dann als Chor mit vier Stimmen auch gesungen werden kann. Anders ausgedrückt muss der Choralsetzer zu jedem Ton der Melodie Begleittöne finden, die passende und gut klingende Akkorde ergeben. Es ist wie gesagt eine sehr anspruchsvolle Arbeit, die musikalische Imagination und Kenntnisse des Choralsatzes sowie der Noten im Violin- und im Bassschlüssel voraussetzen. Und da es um die stattliche Anzahl von zwanzig Melodien in Helmut Schmidts Jahresarbeit ging, bedurfte diese auch hoher Motivation und nachhaltiger Disziplin.
Schaut man auf solche und andere Leistungen, verwundert es nicht, dass Helmut Schmidt durchweg hervorragende Musiknoten in seiner Lichtwarkschulzeit erhielt. Im »Zeugnis der Reife« vom März 1937 heißt es entsprechend: »In der Musik sind Begabung und Leistung sehr gut gewesen.«[60] Dies darf mit allem Recht an dieser Stelle noch einmal herausgestellt werden, denn sehr gute Noten im Schulbetrieb der damaligen Zeit waren eher die Ausnahme als die Regel.