Читать книгу Das Asylhaus - Rita Renate Schönig - Страница 19

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Vitus wusste nicht was er sagen oder denken sollte. Innerhalb der letzten Stunde war ihm, als sei sein ganzes bisheriges Leben eine große Lüge gewesen. Das einzig Echte daran war seine Geburt – denn ohne Zweifel lebte er. Je länger Käthe geredet hatte, nur unterbrochen von häufigem Schluchzen, desto klarer erkannte Vitus, was die Muhme ihm zu erzählen versuchte, bevor sie endgültig die Augen geschlossen hatte. Demnach war es nicht das fiebrige Geplapper eines sterbenden Weibes, sondern die allerletzte Gelegenheit, eine zu lange Zeit verschwiegene Tatsache zurechtzurücken, damit ihre arme Seele Frieden finden konnte.

Vitus hingegen stürzte die Erkenntnis der Zusammenhänge in einen Abgrund. Mehr als alles auf der Welt hatte er sich eine richtige Familie gewünscht. Besonders in den Monaten, in denen die Tiere des Waldes ihre Jungen aufzogen, überkam ihn immer eine große Traurigkeit.

Nun kannte er zwar seinen Ursprung und, dass seine beiden Elternteile lebten, aber dennoch würden sie nie eine normale Familie sein. Er war ein Bastard. Ein ungewolltes, mit Gewalt erzeugtes Leben. Er wünschte, der Bergmann Hannes hätte das alles nicht herausgefunden, als er wegen des Weins ins Hörsteinische gefahren war.

„Bitte, verachte mich nicht, mein Bub.“

Vitus fühlte Käthes raue Hand auf seinem Arm. Er hob den Kopf und sah in ihre roten aufgequollenen Augen.

„Ich mache dir keine Vorwürfe Käthe … eh Mutter.“ Das Wort kam ihm flüssig von den Lippen und ein verzerrtes Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. „Längst habe ich erfahren müssen, dass man im Leben nicht immer zu tun vermag, was rechtens ist. Und was geschehen ist, ist nicht deine Schuld“, äußerte er leise, presste aber unter der Tischplatte seine geballten Fäuste ineinander.

Sein Brustkorb hob und senkte sich. Es kostete all seine Kraft, nicht auf der Stelle diesem Ungeheuer, das sein Erzeuger war, hinterherzujagen, ihn zur Rede zu stellen und ihn zu töten. In seinem Geiste gestalteten sich die unterschiedlichsten Arten, mit denen er Tillmann, diese Bestie, malträtieren könne.

Besorgt sah Käthe in Vitus’ finsteren Gesichtsausdruck. „Tu nichts unüberlegtes, Bub. Was geschehen ist, ist nicht mehr zu ändern. Du bringst dich nur in Gefahr.“

„Nein Mutter“, antwortete Vitus. „Ich tue ganz bestimmt nichts Unüberlegtes.“

Käthe erhob sich. „Nun werde ich die Suppe vom Mittag aufwärmen. Bestimmt hast du Hunger?“

Vitus grummelnder Magen bestätigte Käthes Annahme.

***

Noch immer sah Elisabeth die Gestalt des Hauptmanns vor ihren Füßen liegen. Nie hätte sie angenommen, dass ihre Kraft ausreichen würde, um ein derart kampferprobtes Mannsbild niederzustrecken. Überhaupt hatte sie in diesem Augenblick nur gehandelt – nicht gedacht. Das Wohl ihrer Familie stand auf dem Spiel und – das Konrads. Wie hätte sie zulassen können, dass dieser Tillmann zerstörte, was ihr lieb und teuer war?

„Du hast richtig gehandelt“, betonte ihr Vater, als er sie ins Haus zurückführte. „Du hast dir nichts vorzuwerfen.“

Natürlich taten die Worte gut. Ebenso Mutters Becher mit honiggesüßter Milch. Trotzdem fragte sie sich erschaudernd, wie weit sie wohl gehen würde, um ihre Familie und ihre Liebe zu schützen.

Im Grunde war alles wieder im Lot. Tillmann war abgezogen mit seiner Bande und von ihrer Familie war keiner zu Schaden gekommen. Alles hätte seinen gewohnten Gang gehen können. Wäre da nicht Vitus gewesen, der in sich gekehrt, mit grimmigem Gesichtsausdruck, durchs Haus schlich. Es waren keine guten Gedanken in seinem Kopf, ahnte sie. Einmal ertappte Elisabeth ihn, als er im Hof mit einem Stock irgendetwas in den Boden kritzelte. Als sie näher kam, fuhr er hastig mit der Hand darüber.

„Wie soll es jetzt weitergehen mit Vitus?“, fragte Gretel leise ihren Hannes. Er stand hinter dem Schanktisch und füllte die Krüge mit Wein. „Hast du dir schon etwas einfallen lassen?“

Er nickte. „Lass uns später darüber reden.“

Sein Blick schweifte durch die Wirtsstube. Die wenigen Gäste unterhielten sich angeregt über die zu entrichtenden Gefälle am 11. November; eine Abgabe, die nicht in Naturalien, sondern in Geld, an die Abtei zu leisten war und als immer wiederkehrendes Übel angesehen wurde.

Die haben leicht zu wirtschaften“, ereiferte sich ein Gast. „Wir placken uns und die beanspruchen den Zehnten, ohne einen Finger krumm zu machen.“

„Was erbost du dich, Hännes“, mischte sich ein Tischnachbar, ein. „Für die Rüben und das Kraut hast du doch allemal nur den kleinen Zehnt zu berappen. Und deine Schweine sind so ausgehungert, dass sie zum Federvieh gerechnet werden, das ohnehin nicht gezehntelt ist.“

Allgemeines Gelächter unterstützte die Ausführung des Lästerers.

„Meine Schweine standen allesamt gut im Futter“, verteidigte sich Hännes, „bis die Gleyen Els sie verwünscht hat.“

„Ach, fängst du schon wieder an mit Hexenwerk und Zauber“, mischte sich ein weiterer Gast ein. „Nur Gott weiß, was deine Schweine im Wald Verdorbenes gefressen haben und du sie tagelang gesucht hast.“

„Und ich sag es noch mal und immer wieder. Die Els hat meine Viecher verhext. Eins ist sogar krepiert und die andern kränkeln seitdem.“

„Ach halt ein, Hännes. Dein Vieh ist ausgemergelt, weil du ihm das Futter nicht gönnst“, hielt Arnold dagegen. „Deshalb sind die auch in den Wald gelaufen. Der Hunger hat das arme Viech getrieben. Mit Hexerei hat das rein gar nichts zu tun.“

„Wenn ihr mir schon nicht glauben wollt, so zweifelt ihr doch bestimmt nicht an den Worten eines Dieners Gottes.“ Zustimmung haschend schaute er in die kleine Runde. Gleichwohl die erhoffte bejahende mündliche Wirkung blieb aus. Lediglich Mienen voll von Erwartung auf Neuigkeiten starrten ihn an.

Hännes ergriff die Gelegenheit. „Martin, der Pfaffe aus Mainflingen sagt, seit die Gleyen Els bei ihm die Haushaltung macht, gäbe seine Kuh nur noch saure Milch. Und beim Tod ihres Hausmanns, dem armen Reiz, sei auch nicht alles mit rechten Dingen zugegangen. Pfarrer Martin sagt, zwei Tag vor seinem Dahinscheiden wäre der noch das blühende Leben gewesen – hätte mit ihm noch einen Hemina Wein getrunken.“

„Wahrscheinlich waren es ein paar mehr“, feixte ein anderer Gast, „und daher haben ihm die Backen geglüht.“

Jedem war bekannt, dass der Priester Martin öfter einen über den Durst trank und seine Wahrnehmungen in einem solchen Zustand gern als Gotteseingebungen ausgab. Er vermochte seine Sinnestäuschungen aber derart glaubhaft von seiner hohen Kanzel in die Köpfe seiner kleingläubigen Schäfchen zu versenken, sodass diese sie tatsächlich als Offenbarung annahmen.

„Manchem gibt’s der Herr im Schlaf – einem anderen im Rebensaft“, setzte ein Lästermaul noch einen drauf.

Das war Hännes zu viel. „Das ist Gotteslästerung“, rief er erbost. „Dafür solltest du an den Pranger.“

„Hannes, tu was.“ Gretel zupfte ihren Gatten am Ärmel. Der drehte kurzerhand die Sanduhr auf dem Schanktisch um.

„Leute, es ist Zapfenstreich. Trinkt aus und dann geht Gottgetreu heim zu euren Weibern.“

Murmelnd taten Hannes’ Gäste wie er ihnen angeraten. Einer nach dem anderen verließen sie die Schankstube. Gretel hielt die Laterne und leuchtete ihnen auf die Gasse hinaus. Martin und Christoph sammelten die Becher von den Tischen und Elisabeth wischte mit einem Lappen darüber, sodass alles seine Ordnung hatte, wenn die letzte Kerze gelöscht wurde. So war es Brauch im Bergmannschen Haus. Hernach versammelte Hannes seine Sippe. Was er zu verkünden hatte, wurde nicht von allen als Heil bringend angesehen.

„Du willst mein Bub wegschicken?“, protestierte Käthe unter Tränen und schnäuzte in einen Zipfel ihrer Schürze. „Grad wo ich ihn wieder hab. Hannes tu das nicht.“

„Käthe. Ich kann mir vorstellen, dass es dir schwer fällt, aber …“

„Nein, das kannst du nicht“, schrie die Magd außer sich. „Ich hab ihn schon einmal verloren. Nun will ich ihn bei mir haben – will alles wieder gut machen.“

Zärtlich strich sie Vitus über den Kopf. Der saß nur da und stierte vor sich hin. Kein Wort kam über seine Lippen, aber Elisabeth sah, wie seine Zähne gegeneinander mahlten. Er schien weit weg – sein Blick kalt. Sie fröstelte und verschränkte die Arme. Das war ein anderer Vitus – nicht der den sie tagelang gepflegt hatte.

„Aber, wenn Vitus hier bleibt, können wir für seine Sicherheit nicht bürgen“, versuchte Hannes die Magd zu überzeugen. „Du weißt, dass einige in der Stadt uns nicht gerade wohl gesonnen sind und nur darauf aus, uns etwas anzuhängen.“

„Ihr braucht euch um meine und eure Sicherheit keine Gedanken zu machen“, meldete sich Vitus unerwartet zu Wort. „Ich werde fortgehen. Aber nicht dahin, wo ihr mich hinschicken wollt. Ich gehe meinen eigenen Weg.“

„Vitus, Bub – ich bitte dich.“ Käthe schrie beinahe.

„Mutter, Hannes hat Recht. Es ist für zu gefährlich, wenn ich bleibe – für alle, auch für dich.“

Er streckte Hannes die Hand entgegen und Hannes, überrascht vom veränderten Verlauf der Sachlage, schlug ein. Dann wollte er die Küche verlassen, doch Käthe hielt ihn am Ärmel fest.

„Ich gehe mit dir.“

Vitus zuckte zusammen. „Bitte, Mutter, das ist nicht möglich – jetzt noch nicht“, fügte er hinzu. In dem Blick, mit dem Vitus Käthe ansah, lag zugleich Wärme wie auch eine tiefe Traurigkeit. „Mach dir keine Sorgen. Ich verspreche dir, dass wir uns wieder sehen und dann bleiben wir zusammen.“

Er straffte die Schultern. Sein Gang war ebenso forsch wie seine Stimme, in der eine deutliche Entschlossenheit lag. Es schien Elisabeth, als sei er von einer zur anderen Minute vom Jüngling zum Mann gereift. Doch wusste sie nicht, ob ihr die Wandlung gefiel, wenn sie seine schlimmen Gedanken zugrunde legte.

Käthe weinte die halbe Nacht leise vor sich hin. Am nächsten Morgen packte sie ein Leinensäckchen, voll mit allen guten Sachen, die sie in der Speisekammer entdecken konnte. Gretel ließ sie gewähren und strich im Geiste den geräucherten Speck für das Sonntagsessen von ihrem Speiseplan.

Sobald die Stadttore geöffnet wurden, wollte sich Vitus auf den Weg machen. Jetzt saß er in der Küche, als Elisabeth eintrat.

„Gott zum Gruße und einen gesegneten Morgen“, begrüßte sie ihn. „Wo ist Käthe?“

„Sie melkt die Kühe. Sie will mich nicht gehen lassen, ohne eine gesüßte Milch im Magen.“

„Wohin willst du gehen?“ Elisabeth rührte das Hirse Mus in dem Topf, den Käthe auf den Herd gestellt hatte.

„Auf keinen Fall wieder ins Hörsteinische und auch nicht in Richtung Aschaffenburg. Vielleicht gehe ich in den Süden. Womöglich aber auch nach Norden.“

„Verstehe“, antwortete Elisabeth. „Du willst es mir nicht verraten. Du hast noch immer kein Vertrauen, obwohl unsere gesamte Familie sich wegen dir in Gefahr brachte.“ Sie zuckte hilflos die Schultern. „Schade.“

„Das ist es ja gerade“, entgegnete Vitus. „Je weniger ihr wisst, umso besser für euch. Wenn ich irgendwo eine sichere Bleibe gefunden habe, werde ich euch eine Nachricht zukommen lassen. Schon wegen Käthe ... meiner Mutter.“

Das Asylhaus

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