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Der Fremde

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Mit aller Kraft lehnte Wenzel sich gegen das große Tor aus Eichenholz, das sich gemächlich und ächzend nach außen bewegte. Schützend legte er seine Hand über die Augen und blinzelte zur aufgehenden Sonne, oberhalb der Spessarthöhen.

„Wird wieder ein heißer Tag“, brummte er zufrieden vor sich hin.

Selbst wenn jedermann den Sommer beklagte und die fortschreitende Dürre verfluchte, für Wenzels gichtige Knochen war die anhaltende Hitze segensreich. Sobald er in der Wachstube des Maintorhauses seinen Hirse-Brei verzehrt und mit einigen Schlucken Wasser hinuntergespült hätte, würde er sich auf der Bank vor dem Narrenhäuschen niedersetzen und sich die schmerzenden Glieder wärmen. Ein Becher Wein oder Bier wäre ihm zu seiner kargen Mahlzeit zwar lieber, doch hatte er seine Ration am Abend zuvor verzecht. Wenn niemand käme, der ihn einlud, würde es bis zum Abend auch so bleiben.

Ach ja, der Trunkenbold – ihn musste er aus dem Narrenhäuschen rauswerfen.

„Hoffentlich besitzt der Kerl noch genügend Pfennige, um seine nächtliche Unterbringung entlohnen zu können“, murmelte Wenzel vor sich hin. Ansonsten wäre er gezwungen, die Stadtwache zu holen, die den Säufer dann in den Schuldturm abführte.

Stöhnend erhob er sich, sortierte seine Knochen.

***

Elisabeth schwankte durch das hohe Gras am Mainufer, setzte einen Fuß vor den anderen und fand sich an der ehemaligen Kaiserpfalz wieder, den Platz, den sie immer aufsuchte, wenn sie intensiv nachdenken wollte.

Von der einstigen Sommerresidenz Kaiser Friedrich I., Barbarossa genannt – wegen seines roten Bartes – standen nur noch einige Mauerstücke. Eine Feuersbrunst, lange bevor Elisabeth das Licht der Welt erblickte, hatte das ehemalige Prunkgebäude verwüstet. Die meisten brauchbaren Steine fanden beim Ausbau der nördlichen Stadtmauer Verwendung; andere in Häusern der Altstadt.

Auf einem der moosüberwucherten Quader ließ Elisabeth sich nieder. Gedankenverloren sah sie einem Schwanenpaar zu, das mit seinem fast erwachsenen Nachwuchs würdevoll seine Bahnen auf dem Fluss zog. Vereinzelt surrten Bienen über die Mainauen und suchten in den soeben erwachten Blüten nach Nektar, um alsdann ihre kostbare Ware in ihren Stöcken im Klostergarten zu bergen.

Doch stand Elisabeth heute nicht der Sinn, sich an Gottes schöner Natur zu erfreuen. Ihr Herz war gebrochen. Wie konnte er ihr das nur antun – und warum? Vom ersten Tag an, seit sie sich kannten, hatten sie einander gemocht und vertraut – und jetzt? Was war geschehen?

Sie war gerade sechs Jahre alt, als sie mitten in der Nacht durch die kräftige Stimme ihres Vaters geweckt wurde. Neugierig hatte sie ihre Kammertür geöffnet und sich über das Treppengeländer gebeugt. Der Vater, nur mit seinem langen weißen Hemd bekleidet, stand breitbeinig in der Tür und machte einem späten Besucher mit deutlichen Worten klar, dass er seine wohlverdiente Nachtruhe störe und unerwünscht sei.

„Für einen Schwarzkittel gibt es hierin keine Unterkunft“, polterte er.

Dicht hinter ihm stand die Mutter, eine Kerze in der einen Hand. Mit der anderen klammerte sie ein wollenes Tuch über ihrem Unterkleid vor der Brust zusammen. Von dem Gast sah Elisabeth nichts. Aber der Ausdruck Schwarzkittel ließ sie vermuten, dass es sich um einen Ordensbruder handeln musste.

Angesichts der sich jüngst ereigneten Differenzen zwischen der Abtei und ihrem Vater, maß Elisabeth dem Anliegen des Mönchs wenig Erfolg zu, ausgerechnet in ihrem Haus eine Bleibe zu erhalten. Und wie auf ein Stichwort hin, hörte sie ihren Vater seinem noch längst nicht verdauten Ärger erneut Luft machen.

„Was wollt Ihr? Unterkunft, in einer Lasterhöhle wie der meinen? Ja, schaut nur. Genauso hat Euer Abt mein Haus betitelt. Ein Schandmal für die gesamte Stadt. Vor das Niedergericht wollt er mich zwingen. Nur weil einige meiner Gäste ein paar Becher zu viel getrunken und ihr Wasser an den Mauern des Klosters abgeschlagen hatten. Entweihung des gesegneten klösterlichen Gemäuers und als Frevel bezeichnete er es. Ha, dass ich nicht lache. Nur wegen eines menschlichen Bedürfnisses begeht man noch keine Ungesetzlichkeit. Jeden Straßenköder müsstet ihr deswegen an den Pranger stellen.“

Was der Bergmann Hannes dem Mönch freilich vorenthielt, war, dass sich Abt Philipp – ein auf Sittlichkeit und Anstand bedachter Gottesdiener – mehr über die mündlichen, speziell gegen den Klerus gerichteten Ergüsse der Unholde aufregte, als über deren feuchte Schandtaten.

Einen Atemzug lange herrschte Stille. Dann legte Hannes erneut los. „Aber mit dem Bergmann Hannes kann man es ja machen. Der kommt ja nicht aus dem eigenen Stall. Nie und nimmer würden solche Anklagen gegen die Wirtshäuser, in denen die Hohen Herrschaften ihre Ärsche zur Ruh’ begeben, erhoben. Ihr setzt hier keinen Fuß in mein Haus. Begebt Euch zu Euresgleichen oder nehmt in den Drei Kronen Einkehr.“ Mit einem verschwörerischen Flüstern fügte er hinzu. „In einem Sündenpfuhl, wie dem Unsrigen erscheint Euch ja vielleicht noch der Beelzebub.“

„Um Gottes Willen, Hannes“, jammerte die Mutter und schlug das Kreuzzeichen vor ihrer Brust. Gleichzeitig zerrte sie aufgeregt am Ärmel ihres Hausmannes. Der aber ließ sich in seinem Redefluss nicht aufhalten. „Ach, lass mich in Ruhe Weib.“

„Habt keine Bange, werte Frau“, hörte Elisabeth dann erstmals die sanfte Stimme des nächtlichen Besuchers. „Ich werde Euch keinerlei Kummer bereiten. Sicher habt Ihr gehört, dass Abt Philipp schwer erkrankt daniederliegt. Ich komme geradewegs aus Mainz und mag nicht um diese späte Stunde im Kloster um Einlass bitten. Deshalb ersuche ich Euch, mir, nur für diese Nacht, ein Unterkommen zu gewähren. Es soll Euer Schaden nicht sein.“

Elisabeth vernahm das Aneinanderschlagen von Metall.

„Hannes, du hast gehört, was der fromme Mann gesagt hat. Jetzt steh nicht weiter im Weg.“

Unwillig nahm Hannes seinem Weib die Nachtkerze aus der Hand und führte den Mönch, unter mürrischem Gemurmel, die Treppe hinauf. Indessen Elisabeth zurück in ihre Schlafkammer sauste und die Tür bis auf einen schmalen Spalt schloss. Sie beobachtete den großen dürren Mann in seiner schwarzen Kutte, bis er in der Stube verschwunden war.

Am nächsten Morgen saß der spätnächtliche Gast an einem Tisch am Fenster und trank durstig einen Becher Milch. Auf Geheiß der Mutter brachte Elisabeth ihm zusätzlich Fisch, Brot und Käse. Woraus sie schloss, dass der Mönch für seine Unterkunft ordentlich berappt hatte.

„Sei gegrüßt, gutes Kind“, nickte er ihr freundlich zu. Anschließend faltete er andächtig seine schlanken Hände, neigte sein Haupt und murmelte mit geschlossenen Augen: „Herr, ich danke dir.“

Elisabeths Blick fiel auf die kahle Stelle auf seinem Kopf, die Tonsur, die sich zwischen dem fülligen dunkelbraun gewellten Haar auftat. Ihre kleine Hand widerstand kaum der Versuchung diese seidigen Locken zu berühren. Doch zu schnell hob der Mönch wieder den Kopf und seine sanften braunen Augen sahen Elisabeth belustigt an. „Komm, leiste mir ein bisschen Gesellschaft.“

Der Ordensbruder riss ein Stück von seinem Brot ab und reichte es ihr, dazu einen Bissen Käse. Mit einem schnellen Blick zur Küche stopfte sie sich das Angebotene hastig in den Mund.

„Ich bin Bruder Konrad“, stellte er sich vor. „Und wie ist Euer werter Name, Jungfer?“, fragte er mit einer angedeuteten Verbeugung.

Elisabeth kicherte. Jungfer hatte sie noch niemand genannt.

„Ich bin die Else.“

Eine Weile sah sie dem Mönch schweigend zu, wie er jeden Bissen sorgsam kaute, weshalb sie annahm, dass es ihm nicht recht mundete. Sie erinnerte sich, dass der Vater immer von den zum Bersten vollen Vorratskammern der Schwarzröcke sprach und sie sich jeden Tag den Bauch mit Speck und Fleisch vollschlagen würden.

„Ihr seid wohl Besseres gewohnt, oder warum esst Ihr so langsam?“, platzte es aus ihr heraus.

Der Benediktiner schaute erheitert. „Gewiss habe ich Hunger. Aber schlänge ich jeden Bissen hinunter, dann könnte ich Gott nicht gebührend dafür danken, dass ich durch dieses köstliche Mahl satt werde.“

„Wieso Gott? Ihr solltet unserer Käthe danken. Die hat das Mahl für Euch zubereitet“, entgegnete Elisabeth ernsthaft.

„Ach ja?“ Konrad schmunzelte. „Und wer hat dafür Sorge getragen, dass eure Käthe das Mahl zubereiten konnte?“

„Mutter. Mutter und Käthe, die haben das Brot gebacken“, erwiderte Elisabeth, ohne lange zu überlegen. „Käthe hat unsere Kühe gemolken und Mutter aus der Milch den Käse gemacht.“

„Und wer lässt das Gras wachsen, das eure Kühe auf der Weide fressen? Wer lässt das Getreide aufgehen, damit daraus Mehl gemahlen werden kann?“

„Es regnet und alles wächst“, kam die prompte Antwort.

„Und wer lässt jeden Morgen die Sonne aufgehen und wer schickt den Regen in dicken dunklen Wolken über den Himmel?“

„Else! Belästige den Ordensmann nicht mit deinem Geplapper, während hier Arbeit auf dich wartet.“ Gretel war an den Tisch getreten und packte ihre Tochter am Arm. „Verzeiht Bruder Konrad. Unsere Else redet zu viel dummes Zeug.“

„Eure Tochter weiß geschickt zu antworten.“

„Das hat sie von ihrem Vater. Der nimmt auch kein Blatt vor den Mund.“ Gretel schnaufte. „Ihr habt es heut Nacht ja deutlich erfahren.“ Sie schubste Elisabeth in Richtung Küche. „Hilf Käthe.“

Schon einige Tage später trafen Elisabeth und Bruder Konrad erneut aufeinander.

„Gott zum Gruße, Else. Willst du Mehl kaufen?“

„Ich will zum Backhaus.“ Sie deutete auf das Gebäude hinter der Mehlwaage. „Ich soll uns ins Register eintragen, damit Mutter gleich morgen in der Früh mit dem Brotbacken beginnen kann.“

„Du kannst schreiben?“

„Ja, gewiss“, erklärte sie, nicht ohne Stolz. „Mutter bringt es mir bei. Martin und Christoph gehen in der Klosterschule, aber …“

„… aber für Mädchen gibt es keine Schule“, beendete Konrad ihren Satz.

Mit der Erinnerung an diesen Tag und die unzähligen darauf folgenden gemeinsam verbrachten Stunden stiegen Elisabeth die Tränen in die Augen.

Verzeih mir, liebste Elli“, hatte er vor einer Stunde mit bebender Stimme gesagt. Dann drückte er ihr dieses Büchlein in die Hand und floh mit schnellen Schritten aus ihrer Nähe. Noch immer fand sie keine Erklärung für sein Verhalten. Hatte sie etwas falsch gemacht? Ihre Fingernägel bohrten sich tief in das weiche braune Leder, so als wolle sie ihren Schmerz in den Einband pressen.

Nein, nicht sie – er trägt die Schuld!

Wütend schleuderte sie das Buch in weitem Bogen in die, zum Fluss abfallenden Wiesen. Empört schnatternd flatterte eine Ente auf.

„Entschuldige“, rief Elisabeth im gleichen Moment dem davonfliegenden Vogel nach. „Ich wollte dir kein Leid zufügen.“

Sie eilte zu der Stelle, an der die Ente emporgestiegen war. Lange musste sie nicht suchen, fand das Buch und hob es wieder auf. Nun öffnete sie zaghaft die Verschnürung des ledernen Einbandes und starrte verwundert auf die erste Seite.

Für Elli, in inniger ewiger Verbundenheit. Möge Gottes Segen immer auf Dir ruhen.

Harmonisch lasen sich die Buchstaben in Konrads gleichmäßig makelloser Handschrift auf dem kostbaren blütenweißen Papier. Elisabeth blätterte weiter – konnte kaum glauben, was sie da sah.

Sämtliche Heilsalben und Kräutergetränke, in denen Konrad sie unterrichtet hatte, waren schriftlich festgehalten und das entsprechende Kräutlein, getrocknet und gepresst, an der jeweiligen Stelle festgeklebt. Ein wahres Kunstwerk.

Aber, sinnierte Elisabeth, wenn er mich einem solchem Geschenk würdig schätzt, warum …?

Ein Geräusch, vom Ufer her, ließ sie zusammenfahren. Das trockene, dennoch dichte Schilf versperrte ihr eine direkte Sicht. Gleichwohl bewegte sie sich einige Schritte rückwärts. In der Nacht verbarg sich so allerlei Getier nahe der Uferböschung. Womöglich eine Ringelnatter, die in die wärmende Sonne kriechen wollte, vermutete sie. Doch dann teilte sich das Gebüsch. Vor ihren Füßen krallte sich ein klauenartiges schlammverkrustetet Etwas in die Erde und ein riesiger fellbedeckter Kopf mit struppigen, borstigen Haaren tauchte vor ihr auf. Aus seiner maulähnlichen Öffnung ragte ein großer Hauer.

Fest presste sie das kleine Buch vor ihre Brust, wie einen Schutzwall. Der Schrei blieb in ihrer Kehle stecken und ihr Herz drohte aus ihrer Brust zu springen. Unfähig einer Bewegung fixierte sie dieses Ding, das einen Arm nach ihr ausstreckte und sie mit blutunterlaufenen Augen anstarrte. Dann sank die Kreatur endgültig vor ihr zusammen und regte sich nicht mehr.

Elisabeth erwachte aus ihrer Versteinerung. Voller Neugier aber in sicherem Abstand umrundete sie die Gestalt. Der Beelzebub, schoss es ihr in den Kopf. Genauso beschrien und beschrieben ihn die Prediger von der sonntäglichen Kanzel. Aber was war das? Der Teufel trug Hosen und Schuhwerk und einen Lederbeutel um die Schulter? Sie trat einen Schritt näher.

Das, was sie für eine Klaue gehalten hatte, war eine mit Erde verkrustete Hand, wie sie bei genauerem Hinsehen feststellte und schnell übernahm ihr Verstand wieder seine Aufgabe.

Das war unmöglich der Antichrist! Wer immer das sein mochte, brauchte dringend Hilfe. Der Vater, sie musste den Vater holen. Er würde schon wissen, was zu tun ist. Und sollte es sich wider Erwarten doch um den Höllensohn handeln, würde Vater ihm, ebenso wie die Klosterbrüder, zu verstehen geben, dass hier keine arme Seele zu holen ist und er dorthin zurückgehen soll, woher er gekommen ist.

Eilig machte Elisabeth sich auf den Weg. Doch vor dem Narrenhäuschen saß Wenzel, mit gesenktem Kopf, auf der Bank. Ausnehmend vorsichtig schlich sie näher, schon eine Ausrede auf der Zunge, was sie hier zu suchen hätte. Etwa fünf Schritte vom Torwächter entfernt hörte sie ein zufriedenes Schnarchen und huschte unbemerkt an dem „Hindernis“ vorbei.

Zu Hause traf sie, gerade noch rechtzeitig, auf ihren Vater, der auf dem Weg zum Grasen war. Die große Sense lehnte schon griffbereit am Torpfosten. Keuchend schilderte sie ihm ihre Beobachtung. Ohne eine müßige Gegenfrage schnappte Hannes sich das massive Ackergerät und folgte seiner Tochter.

„Gott zum Gruße, Hannes“, rief Wenzel, jetzt scheinbar ausgeschlafen und bester Laune den beiden entgegen und erhob sich von der Bank. „Wohin des Wegs, so früh? Wenn mich recht dünkt, liegen deine Wiesen auf der anderen Seite der Stadt“, bemerkte er mit Blick auf die Sense.

„Gott zum Gruß auch dir, Wenzel“, erwiderte Hannes. „Bevor ich zum Grasen geh, will ich noch schnell ein paar Schilfrohre köpfen – zum Anheizen.“

Natürlich wusste Hannes, dass derartig Unterfangen zuerst einer amtlichen Befugnis bedarf, worauf ihn Wenzel, nach einem scherzhaften: „Dir ist wohl noch immer nicht heiß genug“ – sogleich mit ernster Miene hinwies.

„Ich nehm’ mir nicht mehr als ein halbes Duzend. Allein deswegen behufs doch keiner Bewilligungen, hm? Allesamt sind doch derzeit zu trocken, um anderweitig Gebrauch zu finden. Meinst du nicht auch?“

Hannes zwinkerte Wenzel fast unmerklich zu. Der tat als überlege er und grinste dann.

„Na, gut. Aber bestimmt nicht mehr als ein halbes Duzend.“

Die befremdliche Gestalt lag noch genau an derselben Stelle, zwischen hohen Gräsern und Schilf, an der Elisabeth sie verlassen hatte.

„Was trägt der Kerl denn da auf dem Kopf?“, sprach Hannes mehr zu sich selbst. „He, du.“ Er stieß den Reglosen mit dem Holzstiel seiner Sense an. „Wach auf, oder bist schon eine Leich?“

Stöhnend bewegte sich die Gestalt, sodass die pelzige Kopfbedeckung von seinem Gesicht rutschte. Unter sichtbarer Anstrengung öffnete der Fremde seine Augen, wobei der getrocknete Schlick abbröckelte. Gleichzeitig hob er erschrocken die Arme.

„Jetzt hast du mich doch gekriegt“, flüstert er matt, zu der massigen Gestalt des Bergmann Hannes aufsehend, der mit der Sense in der Hand vor ihm stand.

„Was heißt ich hab dich gekriegt? Ich hab dich nicht mal gesucht“, schnaubte Hannes unwirsch. „Die Else hat dich gefunden.“ Er schob seine Tochter ins Blickfeld des Fremden.

„Dann bin ich nicht im Höllenreich?“

„Was redest du für ein Zeug.“ Hannes schüttelte den Kopf und zu Elisabeth gewandt: „Ich glaub, der ist verrückt. Wir sagen besser der Stadtwache Bescheid.“

„Nein, nur das nicht.“ Flehend hob der Mann die Hände.

„Nanu“, forschte Hannes weiter. „Hast wohl allerhand auf dem Kerbholz? Nun red schon, wie ist dein Name und wie kommst du hierher?“

„Vitus heiß ich“, brachte er mühsam hervor, „Vitus Konradi, komme aus dem Hörsteinischen.“

„Von drüben?“ Erneut schüttelte Hannes ungläubig sein Haupt. Gleichwohl schien die feuchte Gewandung des Fremden zu bestätigen, dass er die Wahrheit sagte. „Keiner der bei Sinnen ist, aber das scheint ja bei dir tatsächlich nicht der Fall zu sein, überquert den Fluss ohne Nachen.“

Hannes richtete sich auf und schaute zum Maintor. Zurzeit war weder Wenzel noch sonst ein anderes menschliches Wesen zu sehen. Dennoch sah er keine Möglichkeit, den Burschen bei Tag ungesehen in sein Haus zu bringen.

„Wenn’s dunkelt, schick ich meine Söhne, dich holen. Bis dahin bleibst du hier und verhältst dich ruhig. Verstanden?“

Vitus nickte. „Übrigens, ich bin der Hannes Bergmann, auch der SCHWARZE HANNES genannt.“ Auf das Bündel des Fremden zeigend, fragt er: „Hast du da was Essbares drin?“

Abermals nickte Vitus und Hannes durchsuchte den Beutel. „Das gedörrte Fleisch mag grad noch angehen, aber das Brot kannst du nicht mal mehr an die Enten verfüttern“, kommentierte er den Inhalt und förderte einen ledernen Becher zutage.

„Bring dem Mann Wasser, Else. Aber pass auf, dass kein Dreck reinkommt. Und schneid Weidenrinden ab und weich sie im Fluss auf.“

Hannes drückte seiner Tochter sein Messer in die Hand. Vitus zugewandt erläuterte er. „Du hast zwar schon den halben Fluss ausgetrunken, wie man sieht.“ Grinsens zeigte er zum abgesunkenen Flussbett. „Aber bis zum Abend ist’s noch lang hin und du hast Fieber. Außerdem wird’s wieder verdammt heiß heute.“

Hannes zog den Burschen, der gewaltig stöhnte und offenbar schwerer verletzt war, wie es auf den ersten Blick den Anschein hatte, in eine größere Kuhle. Dann bedeckte er die Stelle mit reichlich herumliegendem dürrem Astwerk, sodass Vitus auch vom Ufer aus nicht mehr zu sehen war. Sodann flößte er ihm einige Schlucke Wasser ein und legte ihm die nassen Rindenstücke auf die Stirn.

„Wenn die trocken sind, packst du dir die anderen rauf. Und denk dran, verhalte dich ruhig, egal was passiert, bis wir dich holen kommen.“

Vitus nickte. „Ihr kommt aber doch ganz bestimmt wieder?“ Für einen kurzen Augenblick flackerte Angst in seinen Augen auf.

„Ich nicht – ich hab was anderes vor. Aber Christoph und Martin, meine Söhne, werden dich holen. Hab ich dir doch gesagt.“

An der Uferböschung schnitt Hannes einige Schilfrohre ab und begab sich, in wortloser Einträchtigkeit, mit seiner Tochter wieder auf den Heimweg.

„He, Wenzel. Ich komme heute Abend auf einen Becher, kurz vor dem Angelusläuten“, rief Hannes dem Torwächter zu; wohl wissend, dass Wenzel dem gebrauten Bier nicht widerstehen konnte.

„Fein Hannes. Aber was sagt deine Gretel dazu?“

„Ach lass das mein Verdruss sein. Ich bring dir auch ne Imßt, wenn’s recht ist.“

„Na immer Hannes. Recht ist’s“, antwortete Wenzel und Hannes grinste über beide Backen.

***

Trotz der späten Stunde hielt das ständige Rumoren in den unteren Räumen weiter an. „Keineswegs können das noch Zecher sein“, murmelt die Bergmanns Gretel leise vor sich hin. „Zapfenschlag ist längst gewesen.“ Was versuchte man ihr zu verheimlichen? „Es wird Zeit, dass ich das Ruder wieder in die Hand nehme und für Ordnung sorge.“

Bisher hatte sie nie länger als einen Tag, nach einer Niederkunft, im Bett verbracht. Doch diesmal hatte sie die Geburt ihres jüngsten Sprosses mehr mitgenommen. Sie schlüpfte in ihr Arbeitskleid, warf einen kurzen Blick auf den friedlich schlafenden Nachwuchs und eilte, die Nachtkerze in der Hand, die Stufen hinab.

Die Tür zur Gaststube stand offen. Befriedigt stellte Gretel fest, dass dort Ordnung herrschte und ruhig war es jetzt auch. Nur aus der Küche drangen gedämpfte Geräusche. Schwungvoll öffnete sie die Tür und Käthe wirbelte erschrocken herum. Der Topf, in dem sie rührte, schwankte bedenklich.

„Plagt dich der Hunger zu später Stunde oder was geht hier vor?“ Gretel warf einen skeptischen Blick auf den dampfenden Topf.

Käthe suchte erst gar nicht nach einer Ausrede. Die Angelegenheit war ihr ohnedem unangenehm, obwohl sie schon mehrfach ähnliche Situationen in diesem Haus erlebt hatte.

„Der Hannes – er hat ...“

„… schon wieder einen Spitzbuben angeschleppt?“, beendete Gretel den Satz kopfschüttelnd. „Als ob ich’s nicht geahnt hätte, dass hier irgendwas im Busch ist.“ Sie seufzte. „Ist er draußen im Stall?“

Käthe nickte und schüttelte gleichzeitig den Kopf.

„Ja was nun? Grad hast du gesagt, wir hätten wieder mal einen Gast?“

„Ja, der Bursche ist draußen im Stall. Die Buben und die Else sind bei ihm. Ich soll etwas zu essen machen. Dein Hannes ist fort.“

„Was?“ Die Bergmanns Gretel war außer sich. „Das wird ja immer besser. Mein Hausmann treibt sich herum und überlässt die Arbeit den Kindern.“ Sie holte tief Luft. „Und wo treibt sich dieses Mannsbild herum?“

„Woher soll ich das wissen?“, schnappte Käthe ruppig zurück und rührte in ihrem Topf, als bekäme sie einen Gulden dafür.

Gretel drehte sich auf dem Absatz herum und stürmte durch den dunklen Flur in den Stall.

„Mutter, was …?“ Elisabeth, Christoph und Martin standen wie vom Blitz getroffen beieinander.

Mit einem strengen Rundumblick erfasste Gretel das Szenario. „Ausziehen, Wasser, Seife, waschen – auch die Kleidung.“

„Was …? warum …?“ Martin guckte an sich herunter.

„Doch nicht du. Den da meine ich“, schnaubte die Gretel und zeigte auf Vitus. „Gott allein weiß, welche Krankheiten der Kerl mit sich rumschleppt.“

In Windeseile schälten die Brüder Vitus aus seinen Kleidern und Elisabeth eilte die Waschutensilien herbeizuholen.

„Bring einen Becher Wein mit“, rief Gretel ihr hinterher. „Aber von dem Fass auf dem Schanktisch“, setzte sie nach, „nicht dem Guten.“

Vitus, der jetzt nur mit einer Pferdedecke bedeckt im Stroh saß, fühlte sich mehr als unbehaglich. Unentwegt fixierten ihn die wachen Augen dieser resoluten kleinen rundlichen Frau. So, als wolle sie in seinem Gesicht ablesen, was ihn in diesen Zustand und in ihr Haus gebracht hatte. Allein die Aussicht auf einen Becher Wein ließ ihn die Anspannung ertragen. Die Brüder brachten einen Zuber mit sehr kaltem Wasser, wie Vitus feststellte und Gretel beguckte sich seine Blessuren. Dann trug sie den Wein auf die Abschürfungen an seinen Armen und Beinen auf und murmelte: „Das vergeht bis zum Morgenläuten.“

Enttäuscht sah Vitus ihr dabei zu. Statt der äußeren Anwendung hätte er den Wein lieber durch seine Kehle fließen lassen.

„Das sieht mir nicht nach einer Schürfwunde aus, eher wie …“ bedenklich wanderte Gretels Blick zu der Stelle, über Vitus’ Fußgelenk.

„Else, ich brauche Knoblauchsaft und saubere Leinenstreifen zum Verbinden. Und hurtig!“

Gretel hielt Vitus wie ein Kleinkind in ihren Armen. Sie war sicher, dass es sich um einen Schlangenbiss handelte und merkte, wie ihr Widerstand gegen diesen Burschen zu bröckeln begann. Der Argwohn, den sie ihm entgegengebracht hatte, war wie weggeblasen. Mitfühlend schaute sie in sein junges Gesicht. Er mochte etwa im Alter der Zwillinge Martin und Else sein, eigentlich noch ein Kind, trotz der muskulösen Arme und seines kraftvollen Oberkörpers, auf dem sich ein rotgoldener Flaum zeigte. Hatte der Bengel denn keine Eltern? Nicht mal eine Mutter mehr, die sich jetzt sorgt?

Diese rotblonden Haare und überhaupt der ganze Ausdruck in seinem Gesicht ...? Nicht einer der Kerle, denen ihr Hannes in ihrem Zuhause Zuflucht gewährte, erregte je ihr Mitgefühl. Warum er? Ihre Überlegungen wurden durch Elisabeth unterbrochen, die mit dem Knoblauchsaft durch die Tür trat.

„Tränke die Tücher mit dem Saft und leg sie um seinen Knöchel. Reiß Streifen aus dem nächsten Tuch und mach einen festen Verband um das Bein. Dann holst du noch eine – nein besser zwei Decken. Er muss das Gift herausschwitzen und jemand ...“

Gretels weitere Anweisungen wurden durch ein schepperndes Geräusch und durch lallendes Fluchen gestört.

„Ach, mein lieber Hannes“, stellte sie seufzend fest. „Geht und schaut nach ihm“, wies sie ihre Buben an. „Ich komme nach, sobald ich hier fertig bin.“

Als Gretel und Elisabeth in die Küche traten, saß Hannes auf der Bank und stierte blicklos umher.

„Wo kommst du denn jetzt her?“ Die Hände in die Hüften gestemmt stand Gretel vor ihrem Hausmann.

„Hab dem Wenzel eine Im … Imßt gebrrracht.“

„Ach, ja und Wein, von dem du selbst reichlich getrunken hast“, setzte Gretel nach und schnaubte. „Bringt euren Vater rauf in die Kammer, bevor er hier einschläft.“

Mühsam gelang es den Geschwistern, den Vater die steile Stiege hinauf zu hieven.

„Was willst du Weib? Ich tu doch nichts ande … reess, wie die Schwarzkittel.“ Hannes schwungvolle Armbewegung in die Richtung, in der er das Kloster vermutete, riss ihn fast von den Beinen.

„Nun pass doch auf“, schimpfte Gretel, die den dreien mit der Nachtkerze voranging. „Die da drüben haben das Recht auf ihrer Seite“, wetterte sie, „während du allezeit mit einem Bein im Turm stehst. Du wirst uns noch alle ins Unglück stürzen.“

„Soll ich die armen Teufel verrecken lass…lassen? Du weißt doch genau, was denen blüht, wenn si…sie den Kurfürssstlichen in die Hände fallen. Und ess iss doch nie … länger als eine Nacht.“

„Das ist genau eine Nacht zu viel. Und alles direkt vor den Augen der Geistlichkeit.“

„Deshalb macht es doppelt so vvviel Spaß.“ Hannes kicherte.

„Und jetzt spannst du auch noch die Kinder in deine Machenschaften mit ein“, schimpfte Gretel weiter.

„Die Kinder? Ach ja, unsere.“

„Ah, wessen denn sonst, du versoffener Kerl.“

„Pra…prachtvolle Bengel.“

Christoph grinste belustigt, aber Elisabeth warf ihm einen strengen Blick zu.

„Es ist ein Kreuz mit euch Mannsbilder“, stellte Gretel resignierend fest. „Wenn das nur alles gut geht.“

„Wasss soll denn schiefgehen?“, lallte Hannes.

Die Geschwister ließen ihren Vater auf die Bettstatt sinken, wo er wie ein nasser Sack umfiel und auf der Stelle einschlief.

„Jetzt schaut ihn euch an. Als könne er kein Wässerchen trüben, der alte Brummbär.“ Gretel deckte ihren Gatten zu.

In ihrer Kammer legte Elisabeth hurtig das Buch in ihre Truhe, zog ihr Überkleid aus und schlüpfte erschöpft zu ihren bereits schlafenden Schwestern ins Bett. Doch der erholsame Schlaf wollte sich nicht einstellen. Immer wieder tauchte das Gesicht von Konrad auf. Der Wunsch, in seiner Nähe zu sein, erfüllte in der letzten Zeit ihr ganzes Denken – selbst jetzt, mitten in der Nacht. Nie zuvor hatte sie derart für ihn empfunden. Immer war Konrad nur ihr Freund und Vertrauter, der ihr ein Wissen vermittelte, durch das sie ihrem weiblichen Dasein zugedachten Lebensbereich durchbrochen hatte. Was war heute Morgen geschehen, fragte sie sich zum wiederholten Mal. Aber auch diesmal fand sie keine erklärende Antwort. Letztendlich fiel sie in einen unruhigen Schlaf.

Das Asylhaus

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