Читать книгу Das Asylhaus - Rita Renate Schönig - Страница 7
Nächtliche Schatten
ОглавлениеAus der dunklen Auenlandschaft auf der anderen Mainseite löste sich ein gar schauerliches Wesen. Sein behaarter Kopf erhob sich zögernd aus dem hohen Gras. Unruhige Augen suchten das gegenüberliegende Ufer ab. Alles anmutete still, nichts regte sich mehr. Endlich war das flackernde Licht verloschen und die beiden Menschen, die sich außerhalb der Stadtmauer aufgehalten hatten, verschwunden.
Geduckt, im Schutz des dichten Schilfs, watete die Gestalt durch das seichte Wasser. Dabei umging die abscheuliche Erscheinung sorgfältig die nächtlichen Ruheplätze der Enten und Gänse, um ein Aufflattern derselben zu vermeiden.
Freilich, das Heranpirschen und das Austricksen, egal ob es sich um Mensch oder Tier handelte, lag ihm im Blut. Selbst mit den kurfürstlichen Wildtreibern hatte er Katz und Maus gespielt. Bei diesem Gedanken grinste Vitus in sich hinein.
Wie oft hatte er sich einen Jux daraus gemacht, die Meute der Jagdhunde in die Irre zu locken. Kreuz und quer hetzten der Fürstbischof und seine Begleiter auf ihren mächtigen Rössern durch die Hörsteinischen Wälder, einer von Vitus absichtlich zurechtgelegten falschen Fährte hinterher, indessen er sich in aller Ruhe seine Beute holte. Letztendlich trieb er der hohen Herrschaft eine Wildsau oder einen Achtender vor die Schusslinien, sodass keinerlei Argwohn aufkam, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugehen könne. Der reichliche Genuss des Rebensaftes, der bei einer solchen Hatz üblicherweise durch zahlreiche trockene Kehlen floss, besorgte das Restliche.
Ja – Vitus beherrschte sein Handwerk und ein schlechtes Gewissen war ihm fremd, wenn er durch den Hörsteiner Forst streifte. Hasen und anderweitiges Niederwild, auch schon mal ein Reh waren seine Beute, um sich so vor dem Hungertod zu bewahren.
Wie sonst sollte er über die Runden kommen? Die wenigen Gulden, die er für die Bewachung von Spitzbuben und Teufelsbuhlerinnen erhielt, reichten weder zum Leben noch zum Sterben.
Letzten Herbst hatte er einen Bären erlegt, worauf er besonders stolz war. Das getrocknete Fleisch brachte ihn durch den Winter und das Fell diente ihm gleichermaßen als Decke - die ihn in den kalten Nächten wärmte - und als Mantel. Ursprünglich hatte er überlegt, den Kopf des Schwarzbären auch zu behalten – sei es nur, um ihn an der Haustür zu platzieren, zur Abschreckung gegen Diebe und Räuber. Doch nach einer Zeit – das Konservieren eines Tierschädels hatte er nie gelernt – wurde der Gestank des sich zersetzenden Hauptes unerträglich. Nur die größeren Eckzähne der Bestie behielt er und befestigte sie an seiner kapuzenähnlichen, ebenfalls aus dem Bärenfell hergestellten Kopfbedeckung.
Auch jetzt, während er im Schilf kauernd auf die Gunst der Stunde wartete, bedeckte die Bärenfellkapuze seinen Kopf. Bei ungenauem Hinsehen und – in der Nacht sowieso – würde ein menschliches Lebewesen vermuten, es handele sich um eine gefährliche Bestie, die auf Beute lauert.
Der Schweiß lief Vitus in Rinnsalen in Augen, Hals und den Rücken hinunter, indessen das Fell am Kopf klebte. Sein Gaumen war ausgetrocknet. Den, bis auf den letzten Tropfen geleerten Wasserbeutel, wollte er erst auf der anderen Flussseite wieder füllen.
Nun traute er sich aus seiner Deckung und zerrte die Kappe vom Kopf. Nach einigen tiefen Atemzügen legte er sich bäuchlings ans flach abfallende Ufer und schlürfte, gleich einem durstigen Tier, das belebende Nass. Dann maß er mit den Augen die Entfernung zur anderen Seite ab. Für einen kurzen Moment kamen ihm Bedenken. Hoffentlich finde ich die Furt, ansonsten … Ach sei’s drum. Was habe ich schon zu verlieren? Doch nur mein Leben und das hängt so oder so an einem seidenen Faden. Mit einem Kopfschütteln vertrieb er die furchtsamen Gedanken.
Seit er von den Kurfürstlichen und den Schergen der Hörsteinischen Gerichtsbarkeit gejagt wurde, schlich er in den Wäldern um Alzenau herum. Sicher, Vitus kannte sich dort so gut aus wie in seiner Westentasche. Aber jetzt neigten sich seine Nahrungsvorräte dem Ende zu. Außerdem wollte er, nach dieser unseligen Sache und bevor der Winter kam, aus dem Einzugsbereich des Kurfürsten entschwunden sein. Am liebsten wünschte er dem gesamten Frankenland für immer und ewig den Rücken zu kehren. Der jetzige Zeitpunkt schien ihm gerade passend.
Erneut überkam ihn die Wut. Es war doch nicht seine Schuld, dass dieses Luder von einer Hexe entwischt war – so, als wenn der Erdboden sich aufgetan und diese Zaubersche verschluckt hätte. Ja, gewiss hatte der Teufel seine Hand im Spiel. So und nicht anders muss es gewesen sein. Aber ihn beklagte man, dass er entweder vollsoffen des Weines seine Pflicht unterlassen, oder – und das traf ihn viel schlimmer – er mit der Hexe gemeinsame Sache gemacht hätte.
Schon der Gedanke ließ ihn erschaudern. Nur verwelkte Haut und Knochen, die Brüste baumelten über ihrem ausgemergelten Körper, wie ausgetrocknete Weinschläuche. Er hatte es selbst gesehen, nachdem der Henkersknecht ihr die Kleider vom Leib gerissen hatte, um nach Teufelsmalen zu suchen.
Nachher schnitt der Schinder ihr die Haare ab und rasierte sie kahl, und zwar überall, damit den rechtskundlichen Gottesdienern nicht das kleinste Stigma unentdeckt blieb. Sodann unterzog man die Zaunreiterin der peinlichen Befragung, weil sie noch immer nicht ihre Untaten gestanden hatte. Nach dieser Tortur schaffte man das, was von dem Häufchen Elend übrig geblieben war, wieder in den Turm, um am kommenden Tag mit der gleichen gottgefälligen Strenge fortzufahren.
Die Untersuchung erstrecke sich über viele Tage, bis sie endlich ihre Schandtaten zugab.
Am Abend vor ihrer Entseelung hatte Vitus den Pfaffen zu der Hexe lassen müssen, damit sie ihre Sünden bekennen und bereuen konnte. Seiner Meinung nach, ein unnötiges Unterfangen, weil sie auf jeden Fall auf direktem Weg in die Hölle fahren würde.
Aber, so wollte es das Gesetz.
Nachdem der Diener Gottes – ein ungewöhnlich wohlbeleibter und hochgewachsener Benediktinermönch aus der Abtei in Seligenstadt – mit einer schwarzen tief über das Gesicht gezogenen Kapuze, nach längerer Dauer endlich den Kerker verlassen hatte, verriegelte Vitus wieder die Tür, ganz nach Weisung und Gewissen.
Dennoch war die Zaubersche am Morgen verschwunden und Vitus wollte sich erst gar nicht ausmalen, was mit ihm passieren würde, falls die Stadtwehr seiner habhaft würde. Das Verlies wäre ihm so sicher wie das Abendgeläut, wenn nicht gar Schlimmeres. Und die Vorstellung, bis zu seiner Hinrichtung im gleichen Turm ausharren zu müssen, in dem diese Hexe eingesessen hatte, versetzte ihn reinweg in Panik.
Im allerletzten Augenblick gelang ihm die Flucht. Er hörte schon das Galoppieren und Schnauben der kurfürstlichen Rösser, die sich auf der Suche nach ihm befanden, derweil er im üppigen Dickicht des Waldes verschwand.
Vitus watete ins Wasser. Erwärmt von der wochenlang brütenden Hitze, schmiegte sich es sanft um seine Knöchel. Schritt für Schritt lockte ihn das feuchte Element fort aus seiner bisherigen Heimat, die im Grunde keine wirkliche Heimstätte war, denn eine richtige Familie hatte er nie gekannt.
Seine Mutter war bei seiner Geburt gestorben und sein Vater hatte im Bauernkrieg sein Leben gelassen. So erzählte es ihm die Muhme, bis zu jener Nacht, in der sie dahinschied. Da änderte sie urplötzlich ihre Geschichte und behauptete, der Name seiner Mutter wäre Katrin, anstatt Luise und SIE hätten sie vertrieben. Wen die Muhme damit meinte, sagte sie nicht. Dafür bedachte sie Vitus’ Vater mit den grausamsten Verwünschungen. Vitus konnte sich keinen Reim darauf machen und führte ihre Ausführungen auf fieberige Wahnvorstellungen zurück.
Bis zu den Hüften stand er jetzt im Wasser und es schien an dieser Seite des Mains, steiler abwärts zu gehen, als es vom Ufer aus, den Anschein gehabt hatte.
Ob ich schon die Mitte des Flusses erreicht habe?
Vitus unterdrückte den Wunsch zurückzuschauen. Weiter, nur immer weiter, spornte er sich an. Und dann passierte es. Sein rechter Fuß tappte ins Leere. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte. Blitzschnell verschlang ihn das feuchte Element. Verzweifelt strampelte er mit Händen und Füssen. Die Bärenfellkappe, die er sich zuvor wieder angelegt hatte, umschloss bleiern seinen Kopf, saugte sich mit dem Flusswasser voll und hinderte ihn daran, seine Augen zu öffnen. Hart stieß er gegen ein Hindernis. Der anschließende stechende Schmerz befreite ihn vor weiteren resignierenden Gedanken.