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5. Überprüfung des Kammerurteils durch die Große Kammer

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Neben ihrer erstinstanzlichen Zuständigkeit fungiert die GK als eine Überprüfungs- und Kontrollinstanz. Nachdem eine Kammer ihr Urteil gefällt hat, kann jede Partei in Ausnahmefällen (exceptionally) die Verweisung der Rechtssache an die GK beantragen (Art. 43 EMRK; Rule 73 Abs. 1). Dabei handelt es sich nicht um ein Rechtsmittel im klassischen Sinne; der Antrag bzw. die spätere Verweisung der Sache hat keine Art aufschiebende Wirkung zugunsten des Bf.[37] Hinzu kommt, dass sowohl der Präsident der Kammer, die das Urteil erlassen hat, als auch der vom verurteilten Vertragsstaat benannte Richter Mitglied der GK sind (Art. 27 Abs. 3 Satz 1 EMRK; Rule 24 Abs. 2 lit. b, d).[38]

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Eine solche Verweisung an die GK wird nur angenommen (Art. 43 Abs. 1, 2 EMRK; Rule 73 Abs. 1 Satz 2)

bezüglich Urteilen – nicht Entscheidungen (decisions) – einer Kammer,
wenn die Rechtssache eine schwerwiegende Frage der Auslegung oder Anwendung der EMRK nebst ihrer Zusatzprotokolle betrifft (z.B. künftige, gleichgelagerte Fälle) oder
eine schwerwiegende Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft (z.B. hinsichtlich der Umsetzung eines Urteils auf nationaler Ebene).

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Eine Beschwerde kann schwerwiegende Fragen der Auslegung etwa dann aufwerfen, wenn eine Auslegungsfrage vom Gerichtshof noch nicht entschieden wurde, die Entscheidung für die Fortentwicklung der Rechtsprechung von Bedeutung ist oder das Urteil von einem früheren abweicht. Eine schwerwiegende Frage der Anwendung von Konventionsrecht kann vorliegen, wenn ein Urteil einen erheblichen Eingriff in innerstaatliche Rechtsvorschriften oder die Verwaltungspraxis zur Folge hätte. Dagegen kann eine schwerwiegende Frage von allgemeiner Bedeutung bei politischen Problemstellungen angenommen werden.[39]

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Der erforderliche Antrag auf Verweisung muss innerhalb von drei Monaten nach dem Erlass des Kammerurteils schriftlich bei der Kanzlei gestellt werden (Rule 73 Abs. 1 Satz 1). Maßgeblich für den Fristbeginn ist das Datum des angefochtenen Urteils (Art. 43 Abs. 1 EMRK), nicht das Zustelldatum. Die den Antrag stellende Partei[40] muss die Gründe darlegen, die ihrer Meinung nach eine Prüfung durch die GK rechtfertigen (Rule 73 Abs. 1 Satz 2).

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Über die Annahme der Verweisung entscheidet ein aus fünf Richtern bestehender Ausschuss (panel of five judges; Art. 43 Abs. 2 EMRK; siehe auch Rule 24 Abs. 5); er nimmt die Verweisung an, wenn die oben genannten Voraussetzungen erfüllt sind (Rule 73 Abs. 2).

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Diesem Ausschuss gehören an (Rule 24 Abs. 5 lit. a): der Präsident des Gerichtshofs – im Falle seiner Verhinderung der Vizepräsident; zwei Sektionspräsidenten, die im Rotationsverfahren bestimmt werden – im Falle ihrer Verhinderung die Vizepräsidenten dieser Sektionen; zwei Richter, die im Rotationsverfahren aus dem Kreis der Richter der übrigen Sektionen, die vorab für eine 6-monatige Tätigkeit in diesem Ausschuss gewählt wurden, bestimmt werden; zwei Ergänzungsrichter (substitute judges).

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Bei der Entscheidung über die Annahme einer Verweisung an die GK darf dem Ausschuss kein Richter angehören, der bereits an den Beratungen über die Zulässigkeit oder Begründetheit der Beschwerde mitgewirkt hat (Rule 24 Abs. 5 lit. b). Ein Richter, der für die betroffene Vertragspartei gewählt wurde oder ihre Staatsangehörigkeit besitzt, kann ebenfalls nicht Mitglied des Ausschusses sein (Rule 24 Abs. 5 lit. c).[41]

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Der Ausschuss prüft den Antrag auf Verweisung ausschließlich auf der Grundlage der Akten (Rule 73 Abs. 1 Satz 1). Die Ablehnung des Antrags muss nicht begründet werden (Rule 73 Abs. 2 Satz 3). Sie ist auch nicht überprüfbar.

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Nimmt der Ausschuss den Antrag an, so verweist er die Rechtssache an die GK, die – nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung oder eines schriftlichen Verfahrens – durch Urteil entscheidet (Art. 43 Abs. 3 EMRK; Rule 73 Abs. 3).

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Inhalt und Umfang der an die GK verwiesenen „Rechtssache“ werden allein von der Entscheidung der Kammer über die Zulässigkeit der Beschwerde beschränkt.[42] Ausgeschlossen ist damit nicht nur eine Überprüfung von Beschwerdepunkten, die zuvor für unzulässig erklärt wurden, sondern auch solcher Beschwerden, die nicht explizit für zulässig erklärt wurden, etwa weil der Bf. sich nicht auf die Verletzung eines bestimmten Rechts berufen hat.[43] Dabei scheint die GK davon auszugehen, dass sich der Bf. auch auf einen bestimmten Artikel beruft. Die Rüge der Sache nach genügt demgegenüber wohl nicht (mehr).[44]

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Die GK kann die Sache in diesem durch die Zulässigkeitsentscheidung vorgegebenen Rahmen vollumfänglich prüfen, also auch die zugrunde liegenden Fakten,[45] sowie alle rechtlichen Feststellungen, auch die Zulässigkeitsentscheidung neu bewerten – letzteres nur dahingehend, eine von der Kammer als zulässig erklärte Beschwerde als unzulässig abzuweisen; dies ergibt sich nicht zuletzt auch aus Art. 35 Abs. 4 EMRK).[46] Die GK ist in keiner Weise an eine Feststellung der Kammer gebunden.

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Ein Verbot der reformatio in peius gibt es im Verfahren vor der GK nicht. Dabei macht es auch keinen Unterschied, ob die Verweisung vom Vertragsstaat oder von dem Bf. beantragt wird. Auch eine Beschränkung der Verweisung ist nicht möglich. Eine Verweisung zu beantragen, kann also auch dazu führen, dass ein bereits erzielter Erfolg wieder zunichte gemacht wird.

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Entscheidet die GK über die Erstattung von Kosten, so betrifft diese Entscheidung das gesamte Verfahren vor dem Gerichtshof, einschließlich der Abschnitte vor ihrer Anrufung.[47]

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Dieses Urteil ist endgültig (Art. 44 Abs. 1 EMRK). Auf das Verfahren sind die für die Kammern geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden (Rule 71 Abs. 1). Auch die GK kann eine Beschwerde, die sie für unzulässig hält, zurückweisen (Art. 35 Abs. 4 EMRK).

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