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1. Anordnung vorläufiger Maßnahmen

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Die beim EGMR eingelegte Beschwerde hat keine aufschiebende Wirkung hinsichtlich nationaler Vollzugsakte. Um zu verhindern, dass es bis zur Entscheidung des Gerichtshofs zu einem nicht wiedergutzumachenden Rechtsverlust des Bf. kommt (z.B. durch die Vollstreckung einer Sanktion, Auslieferung, Abschiebung, Beweisverlust)[53], kann die für die Verhandlung der Beschwerde zuständige Kammer – in besonderen Eilfällen auch ihr Präsident – auf Antrag einer Partei oder anderen betroffenen Person sowie von Amts wegen den Parteien empfehlen (indicate), vorläufige Maßnahmen (interim measures) im Interesse der Parteien oder eines ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs zu ergreifen oder zu unterlassen (Rule 39).[54]

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Der Antrag auf Anordnung einer vorläufigen Maßnahme sollte möglichst schnell, nachdem die endgültige Entscheidung auf nationaler Ebene ergangen ist, gestellt werden, um dem Gerichtshof ausreichend Zeit zur Prüfung der Angelegenheit zu geben. Droht ein unmittelbarer oder gar sofortiger Vollzug der nationalen Entscheidung, wie z.B. im Falle der Ausweisung (Abschiebung) oder Auslieferung (Überstellung), so sollten der Antrag und die ihn stützenden Dokumente schon vor dem Ergehen der nationalen Entscheidung beim EGMR in Straßburg vorliegen, da der Gerichtshof keinen Bereitschaftsdienst hat und auch nicht alle Regierungen 24 Stunden am Tag zu erreichen sind, so dass die Bearbeitung des Antrags auch einen ganzen Tag in Anspruch nehmen kann. Für die Antragstellung hat der Gerichtshof eine Practice Direction (PD-IM)[55] erlassen.

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Nach einer ersten Kontaktaufnahme mit der Kanzlei des Gerichtshofs sollte der Antrag auf Erlass einer vorläufigen Anordnung (Request for an interim measure) den Gerichtshof wegen der Dringlichkeit nicht auf dem normalen Postweg, sondern per Fax[56], oder persönlich bzw. durch einen Boten während der Bürozeiten (Montag bis Freitag, 8 bis 16.00 Uhr – Ortszeit) erreichen[57] und vorzugsweise in einer Arbeitssprache des Gerichtshofs (Englisch, Französisch) abgefasst sein.[58] Umfasst der Antrag mehr als zehn Seiten, sollte das Fax in mehreren Teilen gesendet werden, um den Empfang und die Bearbeitung zu erleichtern.[59] Eine Anfrage per E-Mail akzeptiert der Gerichtshof nicht mehr (vgl. PD-IM, Nr. II „Requests to be made by facsimile or letter“). Aus der schreib- bzw. drucktechnisch hervorgehobenen Überschrift des Antrags muss das Vorliegen eines Eilfalles – vorzugsweise durch den Zusatz Rule 39 – Urgent – hervorgehen.

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Rule 39 – Urgent

Person to contact (name and contact details): […]

[ In deportation or extradition cases ]

Date and time of removal and destination: […]“

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Erfolgt vom Gerichtshof binnen kurzer Frist keine Reaktion auf den Antrag, ist eine telefonische Nachfrage bei der Kanzlei während der Bürozeiten ratsam.

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Dem Antrag müssen sämtliche Dokumente beigefügt werden, die den vom Antragsteller behaupteten Konventionsverstoß belegen und den Erlass der begehrten vorläufigen Anordnung als notwendig erscheinen lassen, insbesondere die Entscheidungen der staatlichen Stellen und Gerichte. Ist die Individualbeschwerde bereits beim Gerichtshof eingelegt, sollte der Antrag einen Hinweis auf die Registriernummer (Aktenzeichen) enthalten, unter der das Verfahren geführt wird.

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Insbesondere in Auslieferungs- und Ausweisungsverfahren sollten dem Gerichtshof Datum und Uhrzeit der drohenden staatlichen Vollzugshandlung (Überstellung/Abschiebung), der Aufenthaltsort des Antragstellers, ggf. der Ort seiner Inhaftierung sowie das Aktenzeichen, unter dem das nationale Verfahren geführt wird, schon im Antrag mitgeteilt werden.

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Eine Schwäche dieses vorläufigen Rechtsschutzes ist, dass für die empfohlenen vorläufigen Maßnahmen – ebenso wie für die Urteile im Hauptverfahren – kein Vollstreckungsverfahren vorgesehen ist. Rule 39 Abs. 3 bestimmt lediglich, dass die Kammer von den Parteien – also auch vom Bf. – Informationen zur Durchführung der angeordneten vorläufigen Maßnahmen anfordern kann. Umgekehrt sieht Rule 40 die Möglichkeit vor, dass der Gerichtshof den betroffenen Vertragsstaat in dringenden Fällen über die Beschwerde informiert.[60] Gleichwohl sollten der Bf. bzw. sein Vertreter eine etwaige staatliche Nichtbeachtung der vom Gerichtshof angeordneten vorläufigen Maßnahmen gegenüber dem Gerichtshof rügen, denn der EGMR geht mittlerweile von einer Verbindlichkeit der von ihm empfohlenen vorläufigen Maßnahmen für die Vertragsstaaten aus.[61] Der Vertragsstaat, gegen den sich die Beschwerde richtet, muss daher jegliche Handlungen unterlassen, die geeignet sind, die Wirksamkeit der Entscheidung in der Hauptsache zu beeinträchtigen. Die Missachtung einer angeordneten vorläufigen Maßnahme führt zu einem Verstoß gegen Art. 34 Satz 2 EMRK, der seinerseits separat vor dem EGMR gerügt und von diesem festgestellt werden kann.[62]

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Vorläufige Maßnahmen sind in der Regel zeitlich beschränkt. Sie können vom Gerichtshof jederzeit verlängert oder aufgehoben werden. Bestätigt das Urteil in der Hauptsache die Rechtsverletzung, ist die entsprechende Verpflichtung ab Endgültigkeit des Urteils gemäß Art. 46, 44 EMRK verbindlich. Wenn die Rechtsverletzung durch ein Kammerurteil verneint wird, bleibt die vorläufige Maßnahme jedoch regelmäßig bis zur Endgültigkeit des Urteils aufrechterhalten.[63]

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