Читать книгу Handbuch des Strafrechts - Robert Esser, Manuel Ladiges - Страница 137
b) Das Verhältnis von Sanktionshöhe und Weite der Auslegung
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Dass ein Ansteigen des Strafrahmens als Argument regelmäßig für eine vergleichsweise restriktivere Auslegung streitet, lässt sich auf strafrechtstheoretischer Ebene begründen, wenn man unter den beiden Kardinalfragen[200] aus der Diskussion um die Grenzen staatlichen Strafens, ob ein Verhalten überhaupt „missbilligt“ werden kann und ob bejahendenfalls darauf wirklich mit Strafe reagiert werden muss, den Blick auf die zweite lenkt:[201] Geht man nämlich davon aus, dass mit der Strafe als „letztem und gewichtigstem Mittel zur Disqualifikation von Fehlverhaltensweisen“ auch ein „Ausdruck eines gewichtigen (mit einem Rechtseingriff verbundenen) sozialethischen Vorwurfs“ einhergeht,[202] so muss sie auf solche Verhaltensweisen beschränkt bleiben, die schon „selbst“, als solche „in besonderem Maße die Anforderungen des Gemeinschaftslebens“ verletzen und denen mit Blick auf das beeinträchtigte Rechtsgut eine „qualifizierte Entscheidung zugrunde liegt, die die Anforderungen des Gutes negiert“.[203] Dieser Gedanke lässt sich aber auch in quantitativen Schritten formulieren: Ein jeweils erhöhter Strafrahmen ist Ausdruck einer umso größeren sozialethischen Disqualifikation von Verhaltensweisen. Damit diese gerechtfertigt ist, muss der jeweilige Tatbestand auf Verhaltensweisen beschränkt bleiben, die in noch höherem „Maße die Anforderungen des Gemeinschaftslebens“ verletzen. Das führt – nicht stets, aber doch – tendenziell zum Erfordernis einer restriktiven Auslegung.
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Ein ähnlicher Gedanke kann aber von der Verfassung her formuliert werden: Mit Blick auf das fundamentale Gebot der Verhältnismäßigkeit besteht die Gefahr eines unverhältnismäßigen Eingriffs umso eher, je höher auf der einen Seite die Strafe und je weniger schwerwiegend auf der anderen Seite das geahndete Verhalten ist.[204] Führt nun der höhere Strafrahmen tendenziell zu einer Verschärfung des Eingriffs, kann dem durch eine gleichzeitige Anhebung der tatbestandlichen Anforderungen entgegengewirkt werden. Auf einfachgesetzlicher Ebene wird das durch die Rechtsprechung des BGH aufgegriffen, in der (im Zusammenhang mit der Rechtsbeugung[205]) ein unerträgliches Missverhältnis der Strafe zu der abgeurteilten Handlung für möglich gehalten wird, wenn die Interpretation einer Strafnorm zum Nachteil des Beschuldigten offensichtlich die äußersten Grenzen hinnehmbarer Rechtsanwendung berührt, jedoch gleichzeitig „eine im vorgesehenen Strafrahmen besonders schwerwiegende Rechtsfolge“ verhängt wird. Konkrete Strafhöhe und Weite der Auslegung werden also als Größen gesehen, die zu einem unzulässigen Missverhältnis führen können – um ein solches zu vermeiden, sollte die Anwendung eines höheren Strafrahmens von einer tendenziell engeren Auslegung abhängig gemacht werden.