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4. Besonderheiten beim Blankettverweis auf Europarecht

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a) Nationale Blanketttatbestände können auch auf Europarecht (zum Europäischen Strafrecht allgemein vgl. § 131) verweisen[64]. Geeignete Ausfüllungsobjekte sind neben dem Primärrecht (z.B. § 81 Abs. 1 GWB mit Verweisung auf Art. 101, 102 AEUV), vor allem EU-Verordnungen, die originär eine nichtstrafrechtliche Materie betreffen. Verordnungen sind gem. Art. 288 Abs. 2 AEUV in allen ihren Teilen verbindlich und gelten unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Betroffen sind z.B. das Lebensmittelstrafrecht (z.B. § 58 LFGB i.V.m. der Lebensmittel-Basisverordnung (EG) Nr. 178/2002), das Weinstrafrecht (§§ 48 Abs. 1 Nr. 3 und 4, 49 Nr. 6 und 7, 50 Abs. 2 Nr. 12 i.V.m. § 51 WeinG i.V.m. den in den §§ 52, 53 WeinV genannten europäischen Verordnungen), das Steuer- und Zollstrafrecht (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO i.V.m. Art. 139 UZK (EU) 952/2013), das Umwelt- (§ 326 Abs. 2 StGB i.V.m. Abfallverbringungsverordnung (EG) Nr. 1013/2006) sowie das Außenwirtschaftsstrafrecht (§§ 17 Abs. 1 Nr. 2, 18 AWG).

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Das Gebrauchmachen von der Blanketttechnik ist hier sogar eine europarechtliche Notwendigkeit. Zum einen fehlt der Europäischen Union die Kompetenz, originäres Strafrecht zu setzen[65]. Aber auch der nationale Strafgesetzgeber darf nicht in voller Breite selbst tätig werden, vor allem nicht dort, wo der europäische Gesetzgeber schon unmittelbar gültige Verhaltensnormen aufgestellt hat. Auch bei einer wortgetreuen Wiederholung einer Verordnung bestünde, da der europäische Ursprung des Ver- oder Gebots verschleiert würde[66], die Gefahr einer europaweit unterschiedlichen Interpretation. Die europäische Verordnung darf nicht in einen nationalen Kontext und damit in eine scheinbare Abhängigkeit vom nationalen Gesetzgeber gebracht werden[67].

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b) Dennoch entsteht ein gemischt nationalstaatlich-europäischer Gesamtstraftatbestand, der insgesamt den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots gem. Art. 103 Abs. 2 GG genügen muss, unabhängig davon, dass mit Art. 49 Abs. 1 S. 1 EU-GrCh zusätzlich ein vergleichbarer europarechtlicher Maßstab zur Verfügung stünde. Bei der Beurteilung von Inkrafttreten und Wirksamkeit der Ausfüllungsnormen sowie ihrer Auslegung gelten die europarechtlichen Grundsätze zwar unmittelbar[68]; die Vorschriften bleiben schließlich trotz Hineinlesens in den deutschen Tatbestand europäisches Recht. Der Vorwurf der Nichtbeachtung des deutschen Bestimmtheitsgebots lässt sich jedoch immer gegen den nationalen Gesetzgeber richten, selbst wenn die Bestimmtheitsdefizite (auch) in der Verordnung begründet sind. Vorhandene europäische Verhaltensnormen werden schließlich erst im Nachhinein vom nationalen Gesetzgeber sanktionsbewehrt. Letzterer hat es also in der Hand zu prüfen, ob die in Bezug genommene Verordnung ihre Funktion als Ausfüllungsobjekt ausreichend erfüllt oder ob weitere Präzisierungen im nationalen Strafblankett erforderlich sind, etwa durch nähere Beschreibung des strafbaren Verhaltens „entgegen“ einer bestimmten europäischen Norm (vgl. etwa §§ 23 ff. FPersV). Genügt der Gesamttatbestand Art. 103 Abs. 2 GG nicht, schließt dies eine Sanktionierung aus, die außerstrafrechtliche Geltung der europäischen Ausfüllungsnorm wird dadurch selbstverständlich nicht in Frage gestellt.

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c) Was die Verknüpfung anbelangt, beziehen sich Europarechtsblankette in aller Regel auf genau bezeichnete Verordnungen. Die Verweise sind sogar oft statisch formuliert: So nimmt § 58 Abs. 2 LFGB ausdrücklich auf eine bestimmte Fassung der Lebensmittel-Basisverordnung (EG) Nr. 178/2002 mit Fundstelle im offiziellen Publikationsorgan Bezug; das Gleiche gilt für § 326 Abs. 2 Nr. 1 StGB n.F. und die Abfallverbringungsverordnung (EG) Nr. 1013/2006. Diese Technik kommt bei rein inländischen Blanketten kaum vor (oben Rn. 7), sichert allerdings die Kompetenzen des nationalen Strafgesetzgebers bestens ab. Der europäische Verordnungsgeber kann die Strafbarkeit im Nachhinein nur dadurch beeinflussen, dass er durch Streichung oder Änderung der Norm ein Leerlaufen des Blanketts bewirkt. Der statische Verweis hat schließlich nicht die Wirkung, dass die Ausfüllungsnorm in ihrer alten Fassung allein im Blankettgesetz fortlebt[69]. Diese Technik hat aber den Nachteil, dass Änderungen beim Verweisungsobjekt immer wieder ein erneutes Tätigwerden des nationalen Gesetzgebers, sog. Verweisungsverjüngungen[70], erfordern. Wird auf Änderungen nicht rechtzeitig reagiert, entstehen unbeabsichtigte Strafbarkeitslücken[71], nach § 2 Abs. 3 StGB und Art. 49 Abs. 1 S. 3 EU-GrCh wirken diese sogar für die Vergangenheit (u. Rn. 32).

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Um die Entstehung solcher Lücken zu vermeiden, delegiert der deutsche Strafgesetzgeber häufig die Aufgabe, Normen des aktuell maßgeblichen Europarechts näher zu bezeichnen, an den nationalen Verordnungsgeber[72]. Dies geschieht in der Regel durch ein vorgeformtes Blankett mit Rückverweisungsklausel, so z.B. bei § 17 Abs. 1 Nr. 2 AWG, § 58 Abs. 3 Nr. 2 LFGB oder §§ 48 Abs. 1 Nr. 3 und 4, 49 Nr. 6 und 7, 50 Abs. 2 Nr. 12 WeinG. Seltener ist die Variante des § 1 Abs. 3 HKG, wo der Verordnungsgeber ohne gesetzlich vorgeformtes Blankett ermächtigt wird, Zuwiderhandeln gegen bestimmte europarechtliche Ge- oder Verbote mit Geldbuße zu belegen[73]. Vorzugswürdig erscheint die Regelungstechnik jedoch nicht: Durch Einfügung eines weiteren Glieds in die Verweisungskette wird die Nachvollziehbarkeit des Gesamttatbestandes für den Bürger nicht gerade erleichtert[74]. Zudem führt der Gebrauch von Rückverweisungsklauseln oft dazu, dass den nationalen Verordnungsgebern mit Blick auf Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG allzu große Entscheidungsspielräume eingeräumt werden, was zur Verfassungswidrigkeit des Blankettgesetzes führen kann (oben Rn. 14, 16).

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Zunehmend anzutreffen sind deshalb auch Verweisungen auf die jeweils geltende Fassung einer europäischen Verordnung, ausdrücklich etwa in § 18 Abs. 4 S. 2, Abs. 5 S. 2 AWG n.F. Aber auch schon vorher wurde dynamisch verwiesen, z.B. bei § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO, soweit sich bei Zollvergehen die Gestellungspflicht aus Art. 139 UZK ergibt, oder bei § 95 Abs. 1 Nr. 2, 3, Abs. 1a AufenthaltsG i.V.m. § 4 AufenthaltsG, die sich auf das aktuell maßgebliche Europarecht beziehen[75]. In der Literatur findet sich allerdings die Ansicht, ein Verweis eines nationalen Blanketttatbestandes auf die jeweils in Kraft befindliche europäische Verordnung verstoße generell gegen Art. 103 Abs. 2 GG[76]. Krey differenziert immerhin zwischen normergänzenden und normkonkretisierenden Verweisen; Einschränkungen folgen demnach nicht aus Art. 103 Abs. 2 GG, sondern aus dem Demokratieprinzip[77]. Satzger hält dynamische Verweise auf Europarecht grundsätzlich für verfassungswidrig, macht aber Ausnahmen für „Ordnungswidrigkeitentatbestände und Straftatbestände mit geringer Strafdrohung [. . .], die sich an eine klar abgegrenzte Berufsgruppe wenden“[78]. Diese generellen, unter dem Gesichtspunkt der nationalen Kompetenzwahrung geäußerten Bedenken gegenüber einem dynamischen Verweis werden nach der hier vertretenen Auffassung nicht geteilt: Das unmittelbar geltende Europarecht ist kein Recht zweiter Klasse, das in seiner Legitimität im Inland irgendwie beschränkt wäre[79]. Schließlich hat der Bundesgesetzgeber in maßgeblichen Fällen gem. Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG eindeutig Hoheitsrechte übertragen. Europäische Verordnungen verfügen zudem unbestreitbar (trotz aller Defizite) über eine höhere demokratische Eigenlegitimation als nationale Rechtsverordnungen, auf die sogar typischerweise dynamisch verwiesen wird.

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Welche Verweisungstechnik zweckmäßig und erforderlich ist, hängt jedoch vom konkreten Einzelfall ab. Unter dem Gesichtspunkt der Eindeutigkeit der Verknüpfung, kommt nämlich ein weiterer Aspekt zum Tragen, der jedoch nichts mit der europäischen Urheberschaft als solcher zu tun hat, vielmehr mit dem auf Unionsebene üblichen Normsetzungsstil. So ist es dem Bürger sicherlich nicht zumutbar, die bewehrten Verhaltensnormen aus einem unüberschaubaren Konglomerat von Einzelverordnungen auszufiltern. Werden etwa die Bußgeldtatbestände in den §§ 8, 8a FPersG von vier verschiedenen Verordnungen und einem Abkommen ausgefüllt[80], ist die genaue Benennung der in Bezug genommenen Rechtsquellen im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG als zwingend zu erachten. Dies wäre allerdings bei einem nationalen Blankettgesetz, welches auf ebenso viele nationale Gesetze oder Rechtsverordnungen Bezug nimmt, nicht anders. Hat man es dagegen mit Normwerken wie dem Unionszollkodex zu tun, kommen diese Kodifikationen kontinentaleuropäischen Typs schon sehr nahe; ein Blankettverweis ist dann auch ohne exakte Benennung möglich.

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