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IV. Die Rangfolge der Auslegungsargumente

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1. In der tradierten Auslegungslehre wird als ein „Kardinalproblem“[218] die Frage nach dem Verhältnis der unterschiedlichen Auslegungsmethoden bzw. anders formuliert: nach dem Vorrang einer Methode vor anderen Methoden gestellt.[219] Vielfach wird dabei scheinbar von einem Primat der teleologischen Auslegung ausgegangen.[220]

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2. Andererseits zeigen sich v.a. in der Praxis – teils ausgesprochen, teils der Sache nach – gerade auch Präferenzen für die grammatische und systematische Auslegung als normtextnächste Argumente. Zu denken ist hier zunächst an die vom BVerfG unter dem etwas missverständlichen Titel „objektive Auslegungslehre“ eingeführte Regel für die Vorzugswürdigkeit von Argumenten. Danach soll im Konfliktfall die historische und genetische Auslegung hinter der grammatischen bzw. systematischen Auslegung zurücktreten. Denn letztere stünden näher am Normtext und erlaubten auch den Normunterworfenen eine bessere Orientierung.[221]

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Des Weiteren deutet auch die stereotyp wiederholte Formel, wonach „der Wortlaut die äußerste Grenze der Auslegung“ bilde, in diese Richtung.[222] Geht man aber davon aus, dass (zumindest in Fällen, über die vor Gericht ernsthaft gestritten wird) eine alleine durch die Sprache definierte Grenze problematisch zu ziehen ist,[223] könnte der Hinweis auf die Wortlautgrenze als starke Betonung des grammatischen Auslegungsarguments zu verstehen sein (ohne dass selbstverständlich grammatische Auslegung und Wortlautgrenze deshalb gleich zu setzen wären![224]): Spricht der grammatische Kontext in hohem Maße für eine bestimmte Lesart, so können andere Kontexte nur ausnahmsweise eine entgegenstehende Lesart lege artis begründen. Ein solches großes Gewicht des grammatischen Arguments liegt insbesondere vor, wenn der Gegenstand, auf den eine Norm angewandt werden soll, ein Standardgebrauchsbeispiel der Verwendung eines Begriffs darstellt. Ist dagegen die Verwendung entweder eine untypische, nur im juristischen Sprachgebrauch erfolgende und auf Zweckerwägungen beruhende, oder die gesetzliche Formulierung eher zufällig, können andere Kontexte umso eher das grammatische Element ausstechen.

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Beispiele:

So lässt etwa die h.M. im Strafrecht als Urkunde i.S. des § 267 StGB jede verkörperte Gedankenerklärung genügen, die zum Beweis im Rechtsverkehr bestimmt oder geeignet ist und ihren Aussteller erkennen lässt. Darunter sollen auch sogenannte zusammengesetzte Urkunden fallen, die aus einem „Beweiszeichen“ und seinem Bezugsobjekt bestehen, also etwa das Kfz-Kennzeichen mit dem zugehörigen Fahrzeug, das Preisschild mit der dazugehörigen Ware u.a.[225] Nun ist ein in eine Plastikhülle eingeschweißtes Hemd mit einem schwer lösbar aufgeklebten Preisetikett sicher kein Standardgebrauchsbeispiel der Verwendung des Begriffs „Urkunde“ in der Alltagssprache, sondern die Erweiterung des strafrechtlichen Urkundenbegriffs erfolgte nur mit Blick auf den Normzweck der Sicherheit des Rechtsverkehrs; dementsprechend ist die Abgrenzung gerade zwischen (für zusammengesetzte Urkunden ausreichenden) Beweiszeichen und bloßen „Kennzeichen“ im Einzelnen sehr streitig, und auch die Anforderungen an die ausreichend feste Verbindung zwischen Beweiszeichen und Bezugsobjekt (gerade im o.g. Fall der Ware mit Etikett) sind zweifelhaft. Daher kann das grammatische Argument des (hier ausschließlich strafrechtlichen) Sprachgebrauchs jeweils relativ leicht durch andere Kontexte „überspielt“ werden. Soweit es sich dagegen um eine notariell gefertigte, mit einem Siegel versehene „Urkunde“ als einem der Standardgebrauchsbeispiele in der Alltagssprache handelt, wird der grammatische Kontext nur schwer durch andere Argumente überwunden werden können.[226] Als Beispiel für eine „eher zufällige“ Formulierung wurde dagegen (zumindest im Einzelfall) oben die Verwendung des Plurals (etwa im Beispiel des § 306 StGB oder des § 152a StGB) beschrieben.

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3. Dies spricht dafür, die vorgebrachten Argumente in doppelter Weise zu bewerten, nämlich abstrakt normstrukturell sowie konkret nach ihrer Intensität: Normstrukturell ist das Gewicht eines Arguments umso größer, je näher es am Normtext steht.[227] Das heißt, textbezogene Argumente schlagen Normbereichsargumente aus dem Feld, und diese wiederum bloß rechtspolitische Bewertungen usw. Neben diese Einordnung des Arguments in die Normstruktur als „direkt textbezogen“, „indirekt textbezogen“ und „normgelöst“, muss eine konkrete Bewertung treten, die sich allerdings nur schwer vom jeweiligen Fall abheben lässt. Eine denkbare Abstufung wären die Kategorien Möglichkeit, Plausibilität und Evidenz.[228] Möglich ist dabei ein Argument, wenn es nicht von vornherein ausgeschlossen ist. Plausibel heißt, dass das Argument überzeugend ist, aber Alternativen denkbar sind. Evident ist ein Argument, wenn im Moment keine Alternativen denkbar sind.

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Diese doppelte Unterscheidung macht auch die beiden scheinbar widersprüchlichen Ansätze von der teleologischen Auslegung als „Königsdisziplin“ einer- und dem Vorrang normtextnaher Argumente andererseits miteinander kompatibel: Die grammatische Auslegung ist zwar abstrakt-normstrukturell vorrangig, fällt aber ihrer Intensität nach häufig nur unter die Kategorie „möglich“; die teleologische Auslegung ist abstrakt-normstrukturell zwar nachrangig, lässt aber – wenn man das als erkannt geglaubte Telos als verbindlich unterstellt – die Einschlägigkeit oder Nichteinschlägigkeit einer Norm am ehesten „evident“ erscheinen.[229]

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4. Entwickelt wurden die vorstehenden Überlegungen vor allem für die bzw. jedenfalls am Beispiel der klassischen Auslegungskanones.[230] Im Grundsatz spricht natürlich auch bei der Verwendung anderer Auslegungsargumente[231] nichts dagegen, ihre Rangfolge bzw. argumentative Gewichtung in ähnlicher Weise zu beurteilen: Die Aspekte der Normtextnähe und der Plausibilität sind nicht allein mit dem klassischen Methodenquartett verbunden, sondern stellen sich als allgemein sinnvolle Bewertungsparameter dar. Speziell mit Blick auf zwei hier genannte Auslegungsinstrumente (zumindest in einem weiteren Sinn) gilt jedoch zu beachten: Weder im Bereich der (echten) Konformauslegung noch bei der strafrahmenorientierten Auslegung können die Kriterien zur Reihenfolge bzw. Gewichtung eins zu eins herangezogen werden.

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Die „echte Konformauslegung“ ist (im Gegensatz etwa zu einer nur grundrechtsorientierten Auslegung gleichsam als Sonderfall der systematischen Auslegung, vgl. Rn. 48 ff.) gerade dadurch geprägt, dass ein bestimmtes Verständnis der Norm gegen höherrangiges Recht bzw. gegen die Forderung nach einem Anwendungsvorrang einer anderen Materie verstoßen würde.[232] In diesem Sinne wirken die Konformauslegungen grundsätzlich „absolut“ und beanspruchen stets einen Vorrang vor anderen Argumenten. Umgekehrt sind sie aber in dieser Absolutheit auch nur selten in ihrem Anwendungsbereich eröffnet, d.h. der Rangfolgenkonflikt stellt sich hier viel seltener – wenn er sich aber stellt, ist er zugunsten der Konformauslegung zu entscheiden. Und soweit zwei Konformauslegungen miteinander kollidieren, müssen auch hier Vorrangregeln entwickelt werden (welche oben zur unionskonformen Auslegung etwa dahingehend formuliert wurden, dass auch sie keine Verfassungsverstöße, etwa wegen Art. 103 Abs. 2 GG, rechtfertigen könnte).

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Die „strafrahmenorientierte Auslegung“ dagegen wurde oben als „Auslegungsargument zweiter Stufe“ beschrieben, mit dessen Hilfe sich andere Argumente operationalisieren lassen. In diesem Sinn geht es hier regelmäßig nicht um einen Konflikt zwischen „dem Strafrahmen“ und einem anderen Argument, sondern allenfalls zwischen dem durch Strafrahmenerwägungen illustrierten bzw. begründeten Argument und anderen Kontexten. Erst diese Argumente bzw. Kontexte können dann in die bekannten Konflikte geraten, die nach den genannten Regeln aufzulösen sind. Zu bemerken bleibt insoweit allenfalls, dass durch den Bezug auf die Strafrahmen als Teil der gesetzlichen Sanktionsnorm das jeweils darauf gestützte Argument jedenfalls einen (zusätzlichen oder erstmaligen[233]) engen Normbezug erhält.

1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung§ 3 Die Auslegung von Strafgesetzen › C. Fazit

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