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2. Die Besonderheit des hohen Integrationsgrades der Europäischen Union – ihre Supranationalität

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Es gibt keine allgemein anerkannte juristische Definition des Begriffes der Supranationalität. Für die Europäischen Gemeinschaften bzw jetzt die Europäische Union wird er verbreitet verwendet, um diejenigen Merkmale zusammenzufassen, die in ihrer Intensität und Kumulation ihre Besonderheit gegenüber „herkömmlichen“ internationalen Organisationen ausmachen. Soweit damit keine durch das Unionsrecht nicht gedeckten Deduktionen verbunden werden (vgl Rn 132), ist nichts dagegen einzuwenden, den Begriff für solche Klassifizierungszwecke zu gebrauchen.

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Übereinstimmend gefordertes Kriterium der Supranationalität einer Organisation ist deren Möglichkeit, verbindliche Beschlüsse zu fassen, die die Mitgliedstaaten auch gegen deren Willen zu einem bestimmten Verhalten verpflichten können. Dies kann durch die Schaffung von Beschlussorganen geschehen, in denen gar kein oder nicht alle Mitgliedstaaten vertreten sind (unabhängiges Beschlussorgan) oder in denen alle Mitgliedstaaten vertreten sind, die aber mit Stimmenmehrheit entscheiden können (Majoritätsprinzip).

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Beide Formen finden sich bei der Europäischen Union. Unabhängige Organe, die die Mitgliedstaaten und sogar unmittelbar deren Bürger (Durchgriff, vgl Rn 478) verpflichten können, sind die Kommission (durch Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse) und der EuGH (durch verbindliche Urteile). Der Rat setzt sich zwar aus echten Staatenvertretern zusammen und ist, obwohl Unionsorgan, in diesem Sinne nicht „unabhängig“; er kann aber, von wenigen, allerdings bedeutsamen Ausnahmen abgesehen, mit (qualifizierter) Mehrheit beschließen.

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Letzteres wurde allerdings durch die Abstimmungspraxis nach der Luxemburger Vereinbarung (s. Rn 367 ff) dahingehend ausgesetzt, dass gegen den (qualifiziert geäußerten) Willen eines Mitgliedstaates keine Mehrheitsabstimmung vorgenommen wurde. Dadurch wurde der supranationale Charakter der Gemeinschaften erheblich beeinträchtigt. Seit Inkrafttreten der EEA (1987) kommt es aber auch in bedeutsamen Fällen zu Mehrheitsentscheidungen, wenngleich im Agrarbereich die genannte Abstimmungspraxis noch fortwirkte (vgl Rn 370).

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Intergouvernementale Strukturen wurden in die Europäischen Gemeinschaften und jetzt die EU durch die Aufwertung des Europäischen Rates eingebaut, der in Art. 2 EEA, Art. 4 EUV aF, jetzt Art. 15 EUV institutionalisiert wurde (s. Rn 292 ff).

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Als weitere Kennzeichen der Supranationalität der Union werden angeführt: Eigenständigkeit und Vorrang des Unionsrechts (dieser ist aber von einer verfassungsrechtlichen Ermächtigung abhängig, vgl Rn 228), die unmittelbare Wirksamkeit des autonomen und breite Materien erfassenden Unionsrechts ohne Dazwischentreten eines nationalen Bestätigungsakts (Durchgriffswirkung, vgl Rn 478), die finanzielle Selbstständigkeit der Union durch Eigenmittel (s. Rn 739 ff).

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Von einem Staat unterscheidet sich die Europäische Union grundlegend dadurch, dass sie nicht über die Kompetenz-Kompetenz, dh die Kompetenz, neue Kompetenzen zu begründen, verfügt. Wenngleich Art. 352 AEUV dieser faktisch nahe kommt und auch Art. 114 und Art. 115 AEUV breite Kompetenzräume eröffnen, ist die Kompetenz-Kompetenz bei den Mitgliedstaaten verblieben. Das Prinzip der begrenzten Ermächtigung (vgl Rn 550) wurde durch den Unionsvertrag in Art. 5 EUV aF und Art. 5 Abs. 1 EGV erstmals ausdrücklich verankert und im Vertrag von Lissabon bekräftigt (Art. 5 EUV)[67]. Art. 311 Abs. 1 AEUV (ex-Art. 6 Abs. 4 EUV aF), wonach sich die Europäische Union mit den erforderlichen Mitteln ausstattet, um ihre Ziele erreichen und ihre Politik durchführen zu können, ist entsprechend restriktiv dahingehend zu interpretieren, dass er keine Kompetenzvorschrift darstellt[68]. Das BVerfG hat diesem Prinzip der begrenzten Ermächtigung aus verfassungsrechtlicher Sicht große Bedeutung zugemessen[69].

Literatur:

Broß, S., Überlegungen zur europäischen Staatswerdung, JZ 2008, 811; Brinkhorst, L.J., Staatliche Souveränität innerhalb der EU? 2010; Di Fabio, U., Der Auftrag zur europäischen Integration und seine Grenzen, in: FS M. Schröder, 2012, 169; Everling, U., Die EU als föderaler Zusammenschluss von Staaten und Bürgern, in: v. Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, 961; Habermas, J., Zur Verfassung Europas, 2012; Ipsen, H.P., Über Supranationalität, in: Europäisches Gemeinschaftsrecht in Einzelstudien, 1984, S. 97 ff; Lecheler, H., „Supranationalität“ der Europäischen Gemeinschaften – Rechtliche Beschreibung oder unverbindliche Leerformel?, JuS 1974, 7; Ress, G. (Hrsg.), Souveränitätsverständnis in den Europäischen Gemeinschaften, 1980; Riklin, A., Die Europäische Gemeinschaft im System der Staatenverbindungen, 1972; Schweitzer, M., Supranationalität, in: Katholisches Soziallexikon, 2. Aufl., 1980; Zuleeg, M., Wandlungen des Begriffs der Supranationalität, Integration 1988, 103.

§ 3 Grundlagen der Europäischen Union › V. Die Rechtsnatur der Europäischen Union › 3. Rechtsnatur der Europäischen Union

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