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4. Europäisches Unionsrecht als Verfassungsrecht

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Mit dem Vertrag über eine Verfassung für Europa (EVV, vgl Rn 56 ff) sollte der Begriff der Verfassung Eingang in das Primärrecht der Europäischen Union finden. Der Gedanke einer „Verfassung“ für Europa reicht historisch bis zum Ausgang des Mittelalters zurück. Er war mit der Europäischen Integration stets eng verbunden und hat – insbesondere im 20. Jahrhundert – eine Vielzahl von „Verfassungsentwürfen“ unterschiedlichster Urheber hervorgebracht[83]. Nach der Gründung der Europäischen Gemeinschaften konzentrierten sich die Verfassungsbestrebungen auf eine Konsolidierung und Vereinfachung der Verträge. Die meisten Initiativen gingen dabei nicht von den Institutionen der Europäischen Gemeinschaften sondern von privater Seite aus. Lediglich das Europäische Parlament spielte mit seinem Verfassungsentwurf von 1984 sowie der Forderung nach einem „Projekt einer Europäischen Verfassung“[84] eine aktive Rolle. Schließlich führte der im Vertrag von Nizza angelegte und vom Europäischen Rat mit der Erklärung von Laeken präzisierte Post-Nizza-Prozess zur Einsetzung des Konvents über die Zukunft der Europäischen Union, der dem von ihm vorgelegten Abschlussdokument den Titel „Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa“ gab (vgl Rn 56). Der „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ wurde am 29.10.2004 in Rom unterzeichnet. Für sein Scheitern wird nicht zuletzt der Begriff „Verfassung“ selbst verantwortlich gemacht, der daher auch im Vertrag von Lissabon bewusst aufgegeben wurde (s. Rn 61).

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Die Bezeichnung eines Dokuments als „Verfassung“ bedeutete allerdings nicht automatisch, dass auch der sich dahinter verbergende Inhalt eine Verfassung darstellen würde. So ist bereits umstritten, ob die Europäische Union überhaupt „verfassungsfähig“ ist. Haupteinwand dagegen ist vorrangig die fehlende Staatsqualität der EU[85]. Die darin zum Ausdruck kommende exklusive Zuordnung des Verfassungsbegriffs zum Staat überzeugt jedoch nicht. Sie erklärt sich daraus, dass der Staat traditionell die Form politischer Herrschaft war, die es durch die Verfassung in die Schranken zu weisen galt. In Zeiten der allenthalben festzustellenden Entmachtung des Staates, seiner schwindenden Souveränität (postnationale Konstellation)[86] ist es jedoch durchaus sinnvoll, den Begriff der Verfassung – unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Europäischen Union als supranationaler Integrationsgemeinschaft – weiter zu verstehen und auf jede Form der dauerhaften, institutionalisierten politischen Herrschaftsausübung zu beziehen[87].

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In diesem Sinn (Rn 146) bilden die Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen Union, jetzt der Vertrag von Lissabon deren – nicht nur formale – Verfassung. Sie enthalten wesentliche Elemente von Verfassungen und erfüllen für die europäisierte Herrschaftsgewaltsausübung die zentralen Funktionen der Herrschaftslegitimation, Herrschaftszuweisung und Herrschaftsbegrenzung. Auch der EuGH bezeichnete den EGV – insoweit im Einklang mit dem völkerrechtlichen Verständnis, wonach die Gründungsurkunden internationaler Organisationen deren Verfassung bilden – als „Verfassungsurkunde der Gemeinschaft“[88]. Ohne Zweifel leisten die Verträge zudem einen Beitrag zur Integration der Unionsbürger in einem zusammenwachsenden politischen Gemeinwesen „Europäische Union“, welches in zunehmendem Maße zumindest auch Anknüpfungspunkte für eine europäische Identität bietet[89]. Die gerade in jüngerer Zeit vorzufindende europakritische Haltung bei vielen Unionsbürgern ist differenziert zu sehen. Einerseits wird Überreglementierung und das Ausgreifen in alle Bereiche beklagt. Andererseits wünscht eine Mehrheit der Unionsbürger eine verstärkte Integration gerade in Kernbereichen staatlicher Souveränität (zB Außenpolitik). In einem anderen Kernbereich, der Wirtschafts- und Währungsunion, wird die an sich konsequente Verstärkung der Integration im Bereich der Wirtschaftspolitik angesichts der der Zweifel, ob die verantwortlichen Entscheidungsträger fähig oder auch nur willens sind, die Schuldenkrise nachhaltig zu bewältigen, aber auch wegen der erheblichen institutionellen und tatsächlichen Folgen skeptisch gesehen (s. dazu Rn 1154 ff).

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Gegenüber dem EGV wies der Verfassungsvertrag allenfalls geringfügige qualitative Unterschiede im Hinblick auf seinen Verfassungscharakter auf. Entscheidend war, dass der EVV nach wie vor keine verfassungsändernde Gewalt konstituiert hätte, sondern sich im Verfahren der Vertragsänderung (Art. IV-443 EVV) die fortbestehende verfassungsgebende und -ändernde Gewalt der Mitgliedstaaten betätigte, die durch die Verträge selbst zwar einem geordneten Verfahren unter Einbeziehung von Organen der EU (wobei der Europäische Rat entscheidend ist) unterworfen wird (vgl Art. 48 EUV), letztlich aber nicht gebunden werden kann (insoweit anders als nach Art. 79 Abs. 3 GG). Die mit dem Diktum von den Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“[90] insoweit zutreffend beschriebene Konstellation wurde durch das in Art. I-60 EVV vorgesehene und in Art. 50 EUV übernommene Austrittsrecht der Mitgliedstaaten sogar noch betont. Als problematisch erwies sich der Verfassungsbegriff selbst (vgl Rn 61).

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Die rechtliche Existenz der Europäischen Union hängt daher auch in Zukunft von der verfassungsrechtlichen Ermächtigung der mitgliedstaatlichen Verfassungsrechtsordnungen und deren Realisierung durch die Gesamtheit der Mitgliedstaaten ab. Die diesbezüglichen Vorschriften der mitgliedstaatlichen Verfassungen (vgl auch Rn 91 ff) bilden als „Europaverfassungsrecht“ (Peter Häberle) damit neben den Gründungsverträgen (EUV, EGV, EAGV) bzw dem Vertrag von Lissabon einen notwendigen Baustein des „europäischen Verfassungsverbundes“[91].

Literatur:

von Bogdandy, A./Cruz Villalón, P./Huber, P.M. (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. II, 2008; Häberle, P./Kotzur, M., Europäische Verfassungslehre, 8. Aufl. 2016; Huber, P.M., Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 194 ff; Möllers, C., Verfassunggebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung, in: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 227 ff; Pernice, I., Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 148 ff; Zuleeg, M., Die Vorzüge der Europäischen Verfassung, in: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 1045 ff.

§ 3 Grundlagen der Europäischen Union › VI. Das Verhältnis der Europäischen Union zu den Mitgliedstaaten

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