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b) Die gegenseitig bestehenden Pflichten
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Fall 2 (nach EuGH, Rs 68/88, Kommission/Griechenland, Slg 1989, 2965):
Als die Kommission auf Grund bestimmter Informationen zu der Überzeugung kam, dass griechische Behörden Waren falsch deklariert hatten, wodurch sekundärrechtlich vorgeschriebene Agrarabschöpfungen zur Finanzierung der eigenen Mittel der Gemeinschaft nicht erhoben wurden, forderte sie Griechenland zur Zahlung dieser Agrarabschöpfungen an die Kommission, zur Einziehung der hinterzogenen Beträge und zur Einleitung von Straf- oder Disziplinarverfahren gegen die Täter der Hinterziehung und die Tatteilnehmer sowie zur Durchführung einer Erhebung über bestimmte Einfuhren, Ausfuhren und Durchfuhren in dem betreffenden Zeitraum auf. Ist Griechenland dazu verpflichtet? (Lösung: Rn 180)
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Art. 4 Abs. 2 EUV statuiert allgemeine Grundpflichten der Union, Art. 4 Abs. 3 UAbs. 1 EUV wechselseitige Pflichten von EU und Mitgliedstaaten, Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 und 3 EUV Pflichten der Mitgliedstaaten gegenüber der EU. Gemäß Art. 4 Abs. 2 EUV achtet die Union die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen und ihre jeweilige nationale Identität, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt. Dadurch und durch die weiteren Achtungsgebote (grundlegende Funktionen des Staates, von denen einige hervorgehoben werden) wird das bislang in Art. 6 Abs. 3 EUV aF geregelte Achtungsgebot präzisiert und zugleich die Rolle der Mitgliedstaaten als Basis der Union (s. Rn 150 f) demonstriert.
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Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 und 3 EUV erlegt den Mitgliedstaaten Handlungspflichten und eine Unterlassungspflicht auf. Die Existenz einer besonderen Vorschrift spricht dafür, dass die Vertragserfüllungspflicht aus Art. 4 Abs. 3 UAbs. 1 und 2 EUV nicht lediglich deklaratorisch den auch für die Gründungsverträge geltenden völkerrechtlichen Grundsatz „pacta sunt servanda“ wiedergibt, sondern darüber hinausgeht (Loyalitätspflicht). Dementsprechend hat der EuGH, der bereits in ex-Art. 10 EGV den Grundsatz der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten mit den Gemeinschaftsorganen sah, hieraus eine Reihe von konkreten Einzelpflichten der einzelnen Staatsorgane abgeleitet, was die Bejahung der unmittelbaren Wirkung dieser Vorschrift gegenüber den Mitgliedstaaten voraussetzt.
Beispiele:
Konkrete Anforderungen an die Umsetzung von Richtlinien[106]; Konsultationspflichten[107]; Pflicht zur Einräumung des Vorrangs von unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht (jetzt Unionsrecht) durch Anpassung oder Aufhebung von nationalem Recht (s. Rn 224, 228); Sicherung der Grundfreiheiten gegen Beeinträchtigungen durch Privatpersonen (s. Rn 882 f); Pflicht zum Handeln als „Sachwalter des gemeinsamen Interesses“ bei Untätigkeit des Rates[108].
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Die aus Art. 4 Abs. 3 UAbs. 3 EUV folgende Unterlassungspflicht besteht allgemein darin, keine „Maßnahmen zu ergreifen oder aufrechtzuerhalten, welche die praktische Wirksamkeit der Verträge beeinträchtigen könnten“[109].
Beispiel:
Beachtung des Vorrangs des Unionsrechts durch Unterlassung unionsrechtswidriger nationaler Rechtsetzung[110]. Zur Klarstellungspflicht vgl Rn 226.
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Als Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit aller Beteiligten[111] begründet Art. 4 Abs. 3 UAbs. 1 EUV auch Verpflichtungen der Unionsorgane gegenüber den Mitgliedstaaten. Sie müssen auf berechtigte Interessen der Mitgliedstaaten, gegebenenfalls verfassungsrechtliche Probleme Rücksicht nehmen, und mit den Mitgliedstaaten redlich zusammenwirken, um Schwierigkeiten zu überwinden[112]. Auch gegenüber den Mitgliedstaaten ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten (Art. 5 Abs. 4 EUV).
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Ob darüber hinausgehend ein der Bundestreue entsprechender allgemeiner Grundsatz der Unionstreue existiert, ist umstritten. Angesichts der gegenseitigen Tragweite der Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 3 EUV dürfte er keinen zusätzlichen Rechtsgehalt bringen. Der Vertrag von Lissabon sieht in Art. 222 AEUV eine über die allgemeine Unionstreue in Art. 4 Abs. 3 EUV hinausgehende Solidaritätsklausel für Fälle terroristischer Anschläge und Katastrophen (zu „Finanzkatastrophen“ s. Rn 1164) sowie in Art. 42 Abs. 7 EUV eine Beistandspflicht für den Fall eines bewaffneten Angriffs (s. dazu Rn 1349) vor.
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Die Verpflichtungen der Europäischen Union gegenüber den Mitgliedstaaten sind im Unionsvertrag von Maastricht fixiert und im Vertrag von Lissabon bestätigt und präzisiert worden.
Gemäß Art. 4 Abs. 2 EUV achtet die Union die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten. Damit wird zum einen zum Ausdruck gebracht, dass die Europäische Union (wie bereits die Europäischen Gemeinschaften) auf den Mitgliedstaaten basiert (vgl Rn 150 ff), zum anderen, dass die Union nicht zentralistisch sein soll. Dies ist ein Signal an die Unionsorgane, insbesondere an den Gerichtshof, der sein Rollenverständnis als „Motor der Integration“[113] überdenken sollte und ansatzweise auch bereits überdacht hat (vgl Rn 628). Damit werden aber auch unionsrechtlichen Vorgaben für die Ausgestaltung der inneren Verfassungsstruktur Grenzen gesetzt, was Art. 4 Abs. 2 EUV hervorhebt. Dies ist beim Ruf nach einem „Europa der Regionen“ zu berücksichtigen.
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Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 EUV schreiben das bereits zuvor anerkannte Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ausdrücklich fest. Dies hat Auswirkungen auf Art. 311 Abs. 1 AEUV (Art. 6 Abs. 4 EUV aF), der deshalb nicht als Kompetenzvorschrift angesehen werden darf (vgl Rn 139, 550 f).
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Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 EUV verankert das Subsidiaritätsprinzip. Danach wird die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind. Da das Subsidiaritätsprinzip ausdrücklich nicht für die ausschließlichen Unionskompetenzen gilt, ist deren Abgrenzung zu den anderen Zuständigkeitskategorien (vgl Rn 156 ff) von praktischer Bedeutung. Es handelt sich dabei um eine Rechtspflicht, deren Justiziabilität freilich Schwierigkeiten bereitet[114]. Diese Feststellung berechtigt aber nicht dazu, von einem Bemühen um juristische Konkretisierung von vornherein Abstand zu nehmen. Inhaltlich ist das Subsidiaritätsprinzip als Kompetenzausübungsschranke zu interpretieren – so auch die interinstitutionelle Vereinbarung zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission über die Verfahren zur Anwendung des Subsidiaritätsprinzips[115] und das Protokoll (Nr 2) über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit[116] –, die den Unionsorganen eine Rechtfertigungslast auferlegt. Es ist darauf zu achten, dass man sich einerseits seitens des Unionsgesetzgebers dieser Rechtfertigungslast nicht formalistisch entledigt, andererseits es seitens der Mitgliedstaaten unterlässt, das Subsidiaritätsprinzip schematisch und sachfremd geltend zu machen.
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Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 4 EUV ordnet das im Verhältnis zum betroffenen Bürger seit langem als allgemeiner Rechtsgrundsatz anerkannte Prinzip der Verhältnismäßigkeit (Erforderlichkeit) auch im Verhältnis der Union zu den Mitgliedstaaten an. Es setzt sowohl den Unionsorganen bei der Rechtsetzung und Verwaltung (vgl Rn 793) als auch den Mitgliedstaaten beim Vollzug von Unionsrecht und bei der Beschränkung von Grundfreiheiten (vgl Rn 877 f) Schranken. Als Kompetenzausübungsschranke ergänzt es das Subsidiaritätsprinzip.
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Die früher in Art. 6 EWGV bzw Art. 4 Abs. 1 EGV verankerte Pflicht zur Koordinierung der mitgliedstaatlichen Wirtschaftspolitiken findet sich jetzt in Art. 119 Abs. 1 AEUV. Die dort angesprochene „enge“ Koordinierung weist auf die gegenüber dem bisherigen Zustand viel weitergehenden Bedürfnisse im Hinblick auf die Währungsunion hin. Art. 120 ff AEUV enthalten die entsprechenden Einzelverpflichtungen und Instrumente (s. Rn 1146 ff).