Читать книгу Jugendstrafrecht - Sabine Swoboda - Страница 16
4.Jugendkriminalität als ubiquitäres Phänomen – jugendliche Intensivtäter
Оглавление21Indessen ist keineswegs jede Jugendstraftat nur als pubertäre Entgleisung oder als Ergebnis relativ leicht behebbarer Umwelteinflüsse anzusehen. Es kann sich auch um das Frühsymptom einer tieferen Persönlichkeitsstörung handeln. Dabei ist es für die strafrechtliche Bewertung unwesentlich, ob die Persönlichkeitsstörung auf eine Erbanlage zurückzuführen ist oder ob sie das Ergebnis einer erzieherischen Fehlentwicklung darstellt, die unter Umständen ihren Ursprung im frühsten Kindesalter hat. Denn in jedem Fall liegt es nahe, dass sich eine solche Auffälligkeit schon früh äußert, mit hoher Wahrscheinlichkeit jedenfalls dann, wenn das soziale Verhalten durch die Pubertät und den Eintritt in das Arbeits- und Berufsleben der ersten großen Belastungsprobe ausgesetzt wird.
22Auf die besondere Bedeutung des Frühbeginns der Kriminalität für spätere Rückfälligkeit wird in zahlreichen in- und ausländischen Untersuchungen der Lebensläufe Vielfach-Rückfälliger immer wieder hingewiesen. Bei der Untersuchung des Ehepaars Glueck28 lag der Erfolg der untersuchten Bewährungsprobanden bei 9 %, sofern sie bis zum 11. Lebensjahr das Erstdelikt begangen hatten, hingegen bewährten sich 33 %, wenn das Erstdelikt erst mit 17 Jahren oder später begangen wurde. Nach Weiher29 lag das Durchschnittsalter der von ihm untersuchten jugendlichen Vielfachtäter zum Zeitpunkt der ersten gerichtlichen Verurteilung bereits bei 15,3 Jahren.
23Andererseits kann die Kriminologie bis heute keinen monokausalen Zusammenhang zwischen Frühkriminalität und späterer Rückfälligkeit feststellen.30 Zwar haben spätere Intensivtäter ihre kriminelle Karriere häufig relativ früh begonnen,31 jedoch hat auch bei sehr jungen Straftätern die Kriminalität zumeist nur episodenhaften (passageren) Charakter, und die Straffälligkeit erledigt sich dann mit dem Abklingen der Pubertät und der Bewältigung des sozialen Rollenwechsels.32 Es ist bis heute nicht gelungen, sozusagen im Frühstadium die Gruppe der nur vorübergehend Auffälligen von der der später vielfach Rückfälligen zu unterscheiden. Vor allem die Ergebnisse der so genannten Kohorten-Forschung, bei der der Geburtsjahrgang einer bestimmten Region im Langzeitvergleich insgesamt auf sein registriertes und nichtregistriertes Legalverhalten befragt wird, haben keine Indikatorenwirkung der Frühkriminalität nachgewiesen.33 Einzelstudien ergaben allenfalls, dass die Wahrscheinlichkeit, nach dem 14. Lebensjahr mehrfach registriert zu werden, für kindliche Mehrfachtäter doppelt so hoch ist wie für kindliche Einfachtäter. Gleichzeitig aber zeigten die Ergebnisse auch, dass sich die Delinquenz im Kindesalter nur dann zu einer persistierenden, chronischen Delinquenz entwickelt, wenn auch nach dem 14. Lebensjahr mehrfach Straftaten begangen werden.34 Deshalb kann bei dem heutigen Wissensstand die Aussagekraft des sehr frühen Einsetzens der Straffälligkeit doch nur mit äußerster Zurückhaltung bewertet werden.35 Nicht die mehrfache Registrierung im Kindesalter, sondern die Mehrfachtatbegehung während der Adoleszenz stellt die Weichen für eine kriminelle Karriere. Ein – wenn auch schwacher – Zusammenhang besteht zwischen früher krimineller Auffälligkeit allenfalls dann, wenn die erste Tat bereits vor dem 11. Lebensjahr stattgefunden hat. Bedeutend für das spätere Legalverhalten ist zudem eher die Deliktsgruppe der ersten Registrierung als das Alter. Besonders ungünstig erscheinen schwere Eigentumsdelikte und Raubdelikte.36
24Gleichwohl bleibt zu bedenken, dass einer in der Begehung von Straftaten zum Ausdruck kommenden Persönlichkeitsstörung mit größerem Erfolg entgegengewirkt werden kann, wenn sie rechtzeitig erkannt und möglichst umgehend eine Gegensteuerung vorgenommen wird. Stellt sich also ausnahmsweise in einem sehr frühen Lebensstadium heraus, dass der Betreffende immer wieder schwerwiegende Straftaten begeht, so bedarf es dafür anderer und nachdrücklicherer, allerdings wiederum auch nicht ungerecht harter Reaktionsmittel, als gegenüber denen, deren Straffälligkeit sowieso bald abklingen wird.
25Forschungsergebnisse über „Intensivtäter“37 zeigen, dass sich der „harte Kern“ der jungen Intensivtäter frühestens bei drei bis fünf Registrierungen herauszuschälen beginnt: Ein Großteil der registrierten männlichen Jugendlichen weist, wenn überhaupt, nur eine Eintragung oder ein bis zwei Eintragungen auf. Nur ein sehr kleiner Teil wird fünfmal oder öfter auffällig. Die meisten Mehrfachtäter mit bis zu fünf Auffälligkeiten fallen nach zwei bis drei Jahren aus dem Bereich der offiziellen Sozialkontrolle wieder heraus.38 Sehr häufig lässt sich also bei den ersten Auffälligkeiten noch nicht mit hinreichender Sicherheit prognostizieren, ob der Jugendliche zu den späteren Intensivtätern gehören wird. Deshalb sollte sich der die Sanktion festsetzende Jugendrichter im Zweifel für die möglichst geringe Maßnahme entscheiden, um nicht gerade durch eine Überreaktion die Chance späterer Legalbewährung zu verringern. Sicherlich darf er dabei die Schuldangemessenheit nicht aus den Augen verlieren, da auch sie zum Maßstab des erzieherisch Sinnvollen gehört. Allerdings resultieren nach kriminologischen Erkenntnissen viele der härteren strafrechtlichen Reaktionen aus einem Gefühl der Ohnmacht bzw. dem Gefühl eines vorgehenden Scheiterns mit dem Versuch, durch mildere Sanktionen spezialpräventive Erfolge zu erreichen. Diese „Hilflosigkeit“, die die Justiz gegenüber einigen wenigen chronischen Straftätern möglicherweise empfinden mag, darf aber keine Sanktionseskalation legitimieren.39
26Der weitgehend episodenhafte Charakter der Jugendkriminalität spiegelt sich auch in der Altersstruktur aller Tatverdächtigen der offiziellen Kriminalstatistik der Bundesrepublik wider (s. Schaubild 1).40 Während die Kurve der Tatverdächtigenbelastungszahlen (Anzahl der von der Polizei ermittelten Tatverdächtigen bezogen auf 100 000 Personen der jeweiligen Altersgruppe – TVBZ) mit zunehmendem Alter zunächst steil ansteigt, bis sie bei den männlichen Straftätern in der „schwierigen“ Lebensphase von 18 bis 21 Jahren ihren dramatischen Höhepunkt erreicht (bei den Straftäterinnen etwas früher), sinkt sie dann permanent und zwar erst sehr stark, später langsam und kontinuierlich.41 Das Absinken der Tatverdächtigenbelastungszahlen mit fortschreitendem Alter können wir auf Grund seiner Konstanz in allen Statistiken vergangener Jahrzehnte als feststehende Größe betrachten, und zwar unabhängig von den jeweils herrschenden kriminalpolitischen Anschauungen, also insbesondere losgelöst von der Favorisierung milderer oder härterer Sanktionen als Reaktion auf strafbares Verhalten. Bereits durch die Erreichung des Lebensabschnitts des Jungerwachsenen (ab dem 21. Lebensjahr), der i. d. R. einhergeht mit einer verstärkten Integration in die Erwachsenenwelt (Bindung an einen sozial unauffälligen Partner, Familiengründung, Finden einer den Neigungen entsprechenden Arbeit, Schuldenabbau und damit einhergehend die Ermöglichung eines zufriedenstellenden durchschnittlichen Lebensstandards etc.), ist also – statistisch gesehen – mit einem stetigen Rückgang der (offiziell registrierten) Kriminalität zu rechnen. Vieles spricht deshalb dafür, den Faktor „Zeitablauf“ als eine wichtige Komponente bei der Suche nach der angemessenen Reaktionsweise auf Jugendkriminalität einzustufen.42
Schaubild 1: Tatverdächtigenbelastungszahlen (TVBZ) der deutschen Tatverdächtigen bei Straftaten insgesamt, 2018