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1.Jugendkriminalität im Spiegel der Kriminal- und Strafverfolgungsstatistiken

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38Bei der Benutzung der Kriminalstatistik sind deren zahlreiche Fehlerquellen zu beachten. Amnestien, Schwankungen der Verfolgungsintensität und der Aufklärungsquote, Änderungen in der Strafgesetzgebung durch Neuschaffung oder Abschaffung von Straftatbeständen usw. können das Bild erheblich trüben. Es wird behauptet, die Kriminalstatistik erfasse nicht mehr als zehn Prozent der wirklich begangenen Straftaten.53 Für die Statistik der Jugendkriminalität kommt hinzu, dass zahlreiche jugendliche Täter mangels Verantwortlichkeit (§ 3 JGG), vor allem aber wegen Absehens von einer Strafverfolgung (§§ 45, 47 JGG) nicht in der Verurteilungsstatistik erscheinen. Daraus ergibt sich jenes bei den einzelnen Delikten unterschiedlich breite, aber insgesamt bei der Jugendkriminalität besonders große Dunkelfeld, von dem im vorigen Abschnitt die Rede war.

Nur mit diesen Vorbehalten und Einschränkungen sind die im Folgenden angeführten Zahlen der Strafverfolgungs- und der Polizeilichen Kriminalstatistik zu benutzen.

Tabelle 1: Von 100 % Verurteilten waren (in %)

Jahr 1951 1954 1962 1971 1977 1980 1990 2000 2009 2012 2018
Jugendliche 7,6 5,8 7,2 8,8 9,8 11,0 5,0 6,8 7,2 5,8 4,1
Heranwachsende 11,7 11,7 14,4 13,2 13,1 13,5 9,7 10,0 10,2 9,0 7,0

39Da für Jugendliche und Heranwachsende die Jugendgerichte zuständig sind, wurden im ersten Jahr der Geltung des neuen JGG, 1954, bereits 17,5 % aller wegen Verbrechens und Vergehens Verurteilten von den Jugendgerichten, 82,5 % bzw. 84,1 % von den allgemeinen Strafgerichten abgeurteilt.54

40Der Prozentsatz der Mädchen betrug bei der Jugendkriminalität nach der Verurteiltenstatistik in den letzten Jahrzehnten konstant nur etwas über 10 % (1999: 13,6 %), beginnt aber zu steigen. 2018 waren es 18,3 % bei den Jugendlichen und 15,1 % bei den Heranwachsenden. Der Anteil der Mädchen bei den Tatverdächtigen lag laut polizeilicher Kriminalstatistik auch bereits früher deutlich höher als der Anteil an den Verurteilten (2018: 27,7 % bei Jugendlichen, 20,8 % bei Heranwachsenden). Gleichwohl verbleibt es bei dem weitaus geringeren Anteil der Mädchen an der Jugendkriminalität. Dies entspricht auch der Erwachsenenkriminalität, bei der im Jahre 2018 der Anteil der weiblichen Tatverdächtigen bei 19,1 % lag.55 Schließlich hat auch die Dunkelfeldforschung eine gegenüber männlichen Personen geringere Belastung der Mädchen und Frauen ergeben, wenn auch hier die Unterschiede weniger ausgeprägt sind als in der offiziellen Statistik.56

41Eine Übersicht über die Entwicklung der Jugendkriminalität und Vergleiche mit früheren Jahren sind wegen der starken Bevölkerungsschwankungen nur auf Grund der so genannten „Verurteilungsziffern“ möglich, welche die Zahl der Verurteilungen auf je 100 000 gleichaltriger Personen der Gesamtbevölkerung angeben. Dabei ergibt sich folgendes Bild57:

Schaubild 2:: Wegen Verbrechen und Vergehen Verurteilte, unterschieden nach Jugendlichen und Heranwachsenden, ab 1951 (Verurteiltenziffer – Verurteilte pro 100 000 der Wohnbevölkerung derselben Altersgruppe)58


Tabelle 2: Verurteiltenziffern (VUZ) seit 195159

Jahr 1951 1954 1962 1971 1980 1990 2000 2005 2012 2018
Jugendliche (14-18 Jahre) 1548 1816 1913 1172 1521 1662 1260 799
Jugendliche von 14 bis unter 16 Jahren 764 572 1088 1358
Jugendliche von 16 bis unter 18 Jahren 1306 1138 2095 2256
Heranwachsende (18–21 Jahre) 2296 2623 3402 3611 3294 2362 2968 3120 2449 1512
alle Straftäter 1073 1281 1328 1401 1352 1141 1055 1125 918 704

Tabelle 3: Tatverdächtigenbelastungszahlen ab 1978 (ermittelte Tatverdächtige auf 100 000 gleichaltrige Personen ohne Kinder unter 8 Jahren)60

Jahr 1978 1980 1985 1989 1993 1999 2005 2012 2018
Jugendliche (14–18 Jahre) 4806,6 5112,3 3962,7 4503 6279 7226 6744 5616 4765
Heranwachsende (18–21 Jahre) 5927,5 6483,9 4733,2 5108 7836 7243 7795 6597 5312
alle Straftäter 2341,3 2515,0 2284,4 2409 2771 1932 2570 2295 1977

Schaubild 3: Tatverdächtigenbelastungszahlen (TVBZ) ab 1979 – ermittelte Tatverdächtige auf 100 000 gleichaltrige Personen ohne Kinder unter 8 Jahren61


42Der Vergleich der neueren Entwicklung mit der Jugendkriminalität älterer Perioden ergibt insofern ein recht ungünstiges Bild, als trotz oder sogar wegen des steigenden Wohlstands die Kriminalitätsziffern für Jugendliche und Heranwachsende ganz erheblich über denen der Weimarer Republik und sogar denen der großen Wirtschaftskrise von 1930–1933 liegen (Durchschnittsstand 1928/1934 für Jugendliche von 14–16 Jahren 334, von 16–18 Jahren 720, für Heranwachsende 1571). Nach einem vorübergehenden Absinken nach Überwindung der Nachkriegsnöte (relativer Tiefstand 1954) hat die Jugendkriminalität in der Bundesrepublik in verblüffender Übereinstimmung mit den meisten großen Industrienationen der Welt (USA, Japan, Großbritannien, Frankreich) seit Mitte der 50er Jahre einen neuen erheblichen Anstieg erfahren. Nachdem bei den Heranwachsenden schon zu Beginn, bei den Jugendlichen erst gegen Ende der 70er Jahre ein Höhepunkt erreicht war, ist allerdings dann ab Mitte der 80er Jahre in allen Altersgruppen, insbesondere aber bei den Jugendlichen und Heranwachsenden, ein erheblicher Rückgang der Verurteilungsziffern zu verzeichnen. Jedoch kann daraus leider nicht auf einen Rückgang der Jugendkriminalität geschlossen werden. Denn die damalige Abnahme der Verurteilungsziffern ist vornehmlich auf die von Jahr zu Jahr steigende, von den Justizverwaltungen geförderte Bereitschaft der Strafverfolgungsbehörden und der Jugendgerichte zurückzuführen, kleinere und selbst mittelschwere Jugendkriminalität nicht durch Verurteilung, sondern informell auf dem Weg der Diversion (§§ 45 und 47 JGG) zu erledigen. Dieser informelle Abschluss durch Verfahrenseinstellung erscheint nicht in den Verurteilungsstatistiken. Ab Ende der 90er Jahren schien sich der Trend dann umzukehren. Die Verurteilungsziffern wiesen bei Jugendlichen und Heranwachsenden wieder steigende Tendenz auf. Das war umso erstaunlicher, als bei allen Straftätern insgesamt die Verurteiltenzahlen auch in diesen Jahren in etwa gleich blieben. Möglicherweise fand in den Jahren zwischen 1995 und 2005 eine Verschärfung speziell der jugendstrafrechtlichen Gerichtspraxis statt, die erst in den letzten Jahren wieder zurückgenommen wird. Jedenfalls sinken seit Jahren die Verurteiltenzahlen kontinuierlich, allerdings nicht nur bei den Jugendlichen und Heranwachsenden, sondern quer durch alle Altersgruppen.

43Da in der polizeilichen Kriminalstatistik die später eingestellten Strafverfahren zunächst noch mitberücksichtigt werden, dürfte diese noch aussagekräftiger sein. Allerdings ist zu beachten, dass dort die Methode der Tatverdächtigenzählung über die Jahre mehrfach verändert wurde, so dass die „Tatverdächtigenbelastungszahlen“ (ermittelte Tatverdächtige auf 100 000 gleichaltrige Personen ohne Kinder unter 8 Jahren) über die Jahre nicht verlässlich miteinander zu vergleichen sind. Erst seit 1984 gibt es die sog. „echte“ Tatverdächtigenzählung, bei der ein Tatverdächtiger, der während des Berichtszeitraums mehrfach auffällig geworden ist, in den Ländertabellen nur einmal und nicht mit der Zahl der gegen ihn anhängigen Strafverfahren erfasst wird. Seit 2009 ist die „echte“ Tatverdächtigenzählung auch für die Bundestabellen möglich, so dass diejenigen Mehrfachtäter, die im Berichtszeitraum in mehreren Bundesländern kriminell auffällig geworden sind, auch in den Bundestabellen nur einmal auftauchen.

44Der in der Verurteilungsstatistik bis 1995 zu verzeichnende Kriminalitätsrückgang ist hier nicht zu erkennen. Es spiegelt sich in den gegenüber den Tatverdächtigenbelastungszahlen zeitweise niedrigeren Verurteilungszahlen deutlich die informelle Erledigungspraxis nach §§ 45, 47 JGG wieder, die dann Ende der 90er Jahre wieder eingeschränkt wurde. Eine andere Erklärung könnte sein, dass eine erhöhte Sensibilisierung der Bevölkerung vermehrt zur Anzeige von Bagatellkriminalität und minder schweren Delikten geführt hat oder Anzeige solcher Vorgänge, deren Tathergang in den Ermittlungen letztlich unklar blieb, so dass nach § 170 II StPO eingestellt werden musste. Ab etwa dem Jahr 2005 sinken die Tatverdächtigenbelastungszahlen wieder. Zeitgleich gehen die Verurteiltenzahlen nach 2005 zurück.

45Die Tatverdächtigenbelastungszahlen ab 1995 sind mit den früheren aber nur bedingt vergleichbar, weil seit 1995 nur noch die deutschen Tatverdächtigen in der Zählung berücksichtigt werden. Seit 2009 hat sich zudem auch bundesweit die „echte“ Tatverdächtigenzählung durchsetzen können, d. h. auch Tatverdächtige, die in mehreren Bundesländern während des Berichtszeitraums auffällig geworden sind, sind seither in den Bundestabellen nur einmal erfasst. Bis 2009 erschienen die Tatverdächtigenbelastungszahlen in der bundesweiten polizeilichen Kriminalstatistik daher bis zu 3 % überhöht.

46Alles in allem zeigen die Tatverdächtigenbelastungszahlen bei Jugendlichen, Heranwachsenden und Kindern eine starke Kriminalitätszunahme bis etwa zum Jahre 2004. Seither sinken die Zahlen wieder. Es gibt bei Jugendlichen und Heranwachsenden keine so hohe Kriminalitätsbelastung mehr wie in früheren Jahrzehnten.62 Vor allem die 90er Jahre erscheinen in der Statistik als stark von Kriminalitätszunahme gezeichnetes Jahrzehnt, wobei in diesen Jahren insbesondere das überproportional schnelle Ansteigen der Kinderkriminalität63 (Tatverdächtige unter 14 Jahren) auffiel.

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