Читать книгу Jugendstrafrecht - Sabine Swoboda - Страница 21
2.Erklärungen für die Entwicklung der Jugendkriminalität in den letzten 60 Jahren
Оглавление47Die Gründe für den Anstieg der Jugendkriminalität seit Mitte der 50er Jahre und ihr Verbleiben auf einem im Vergleich zu früher hohen Stand wird man vornehmlich in nicht auf Deutschland beschränkten Missständen der modernen Industriegesellschaft suchen müssen.64 Sie wirken speziell auf die noch in der Reifung befindlichen jungen Menschen ein, lassen aber, wie die Zahlen für die älteren Jahrgänge zeigen, in ihrer Wirkung nach, sobald die Jahre der Pubertät und Adoleszenz mit ihren spezifischen Gefährdungen überwunden worden sind.65
48a) Komplexes Ursachengeflecht. Es wäre falsch, die Ursachen für den Stand der Jugendkriminalität einseitig in einem einzelnen Aspekt der gesellschaftlichen Entwicklung zu sehen. Sie sind vielmehr überaus komplexer Natur. Nur mit dieser Maßgabe lassen sich hier einige besonders wichtige Faktoren aufzählen: Die Zunahme der gestörten oder aus irgendeinem Grund (Tod, Trennung, Scheidung, berufsbedingte Abwesenheit) unvollständigen Familien,66 die nachlassende Erziehungskraft auch der an sich intakten Familien, die Abnahme sozialer Kontrolle und des sozialen Zusammenhalts im modernen Leben, vor allem der Anonymität des Einzelnen in der Stadt, dann die Wandlung in eine reine Konsumgesellschaft, welche mit ihren raffinierten Werbungsmethoden gerade auch die Bedürfnisse leicht beeinflussbarer Jugendlicher künstlich anreizt, also das, was mit guten Gründen als „Konsumzwang“ angeprangert wird. Hinzu kommt in vielen Gesellschaftsgruppen die Verschlechterung der ökonomischen Situation durch wirtschaftliche Umstrukturierungsprozesse, Wirtschaftskrisen, Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit.67 Diese Krisen produzieren zwar selten Notkriminalität im eigentlichen Sinne, verstärken aber die soziale Randständigkeit mancher Gruppen und lassen die sozialen Gegensätze wachsen.
49Es erscheint jedoch wiederum nicht sachgerecht, einen kausalen Zusammenhang zwischen neuer Armut (insbesondere Anstieg der Sozialhilfe- bzw. Hartz-IV-Empfänger) und Kriminalität zu konstruieren, denn die Erfahrungen der Nachkriegszeit haben uns gezeigt, dass gerade mit dem Wohlstand die Kriminalitätssteigerung Hand in Hand ging. Auch berichten Jugendstaatsanwälte und Jugendrichter immer wieder über erstaunlich hohe Taschengeldbudgets sehr junger Straftäter. Mit der These des Zusammenhangs zwischen sozialer Armut und Straffälligkeit setzt man in unerfreulicher Weise beide Gesellschaftsgruppen gleich.68 Die Kausalitätssuche wird vielmehr an vielen Stellen fündig. So ist neben den ökonomischen Bedingungen auch die allgemeine Gewaltbereitschaft unserer Gesellschaft als ein Faktor zu benennen. Insofern dürften die Massenmedien, wenn auch keine monokausale, so doch zumindest eine verstärkende Funktion ausüben.69 Neben Gewaltfilm- und -serien-Konsum dürften dabei aber auch gewaltverherrlichende Computer- und Onlinerollenspiele eine Rolle spielen.70 Der suchtartige Konsum von gewaltdarstellenden Horror-Videos bei gleichzeitigem Versagen der Eltern und sonstigen Angehörigen wurde vom LG Passau71 ausdrücklich als Quelle einer schweren anderen seelischen Abartigkeit i. S. v. § 21 StGB anerkannt, die Ursache für die Gewalttat des 14-jährigen Angeklagten war. Dazu kommt die mangelnde Fähigkeit sehr vieler Jugendlicher und Heranwachsender, ihre Freizeit sinnvoll auszufüllen72, ferner die gerade in Städten zu beobachtende Beschränkung der Möglichkeiten, altersgemäße Aggressivitätstendenzen legal abzureagieren, z. B. durch körperliche Aktivität; und endlich, damit im Zusammenhang, die „existentielle Frustration“ einer Jugend, der es in einer materialistisch geprägten Erwachsenenwelt an Möglichkeiten zur Selbsterfahrung, Bewährung und Verantwortung in der Bewältigung wirklicher Aufgaben fehlt.73 Dieses Gefühl verstärkt sich häufig noch in der Situation des Versagens in der Schule,74 in der Berufsausbildung oder am Arbeitsplatz, das oft in Arbeits- und Perspektivlosigkeit mündet.75
50b) Gewalt- und Drogenkriminalität. Auch die (Gewalt-)Kriminalität an den Schulen selbst wird durch spektakuläre Extremfälle wie Amokläufe von Schülern immer wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Dabei lässt sich eine Ursache für angeblich vermehrt auftretende Gewaltdelikte in Schulen nicht eindeutig bestimmen. Vielmehr ist von einem Ursachenbündel aus den bereits angesprochenen kriminogenen Faktoren und innerschulischen Ursachen auszugehen.76 Aufmerksamkeit sollte aber erregen, dass die in der PKS abgebildeten Zahlen für Gewalt und Kriminalität in Schulen sinken, seit sich die Schulen und die Öffentlichkeit verstärkt gegen Gewalt und Kriminalität unter jungen Menschen und gegen den Konsum von Gewaltmedien engagieren. Aufklärungskampagnen über die Auswirkungen von Drogen und Alkohol und über die aggressivitätssteigernde Wirkung von gewalttätigen Computerspielen zeigen langsam Wirkung. Zudem bewirkt die zunehmende Missbilligung von Gewalt in der Familie, dass die Kinder und Jugendlichen im Umgang miteinander eher auf Gewalt verzichten.77
51Eine besondere Problemgruppe mit überhöhtem Anteil an der Jugendkriminalität bleiben aber die Drogensüchtigen.78 Vor allem in den Großstädten ist die mit dem Rauschmittelgenuss (insbes. Cannabis, synthetische Opioide und Cannabinoide, Ecstasy, Speed, „Badesalz“, Metamphetamine und andere Partydrogen, daneben in geringeren Mengen auch Kokain und Heroin) in Zusammenhang stehende Beschaffungskriminalität (Rauschmittelhandel, Rezeptfälschungen, darüber hinaus aber alle Arten von Vermögenskriminalität, um die hohen Geldmittel für den Drogenerwerb aufzubringen) weit verbreitet. Die Fallzahlen für die Drogenkriminalität selbst sind zwar nach einem vorläufigen Höhepunkt im Jahr 2004 wieder gesunken, zumindest, wenn man die Rauschgiftdelikte mit den klassischen „harten“ Drogen wie Heroin oder Kokain betrachtet,79 doch dann stiegen die Tatverdächtigenbelastungszahlen (TVBZ = Tatverdächtige pro 100 000 der Bevölkerung in derselben Altersgruppe) – mit Ausnahme der Belastungszahlen bei Heroin – wieder. Insbesondere die männlichen Heranwachsenden sind unter den polizeilich ermittelten Tatverdächtigen überrepräsentiert. So lag die TVBZ für die deutschen männlichen Heranwachsenden bei Rauschgiftdelikten (nur in den alten Bundesländern) im Jahr 2000 bei 1893, im Jahr 2005 bei 1709, im Jahr 2012 (dann für das gesamte Bundesgebiet) bei 1934 und im Jahr 2018 bei 2804. Die Polizeiliche Kriminalstatistik 2018 weist den Anteil der 18- bis 25-jährigen Täter an der Rauschgiftkriminalität sogar mit 35,8 % aus. Bei der direkten Beschaffungskriminalität betrug ihr Anteil immerhin noch 16,3 %.80
52Bei den männlichen Jugendlichen nahm die Kriminalitätsbelastung im Hellfeld seit den 90er Jahren zunächst ab und dann wieder zu. Im Jahr 2000 lag die TVBZ für diese Gruppe in den alten Bundesländern noch bei 1453, im Jahr 2005 dann nur noch bei 705. Im Jahr 2012 wies die PKS die TVBZ für deutsche männliche Jugendliche bei Rauschgiftdelikten im gesamten Bundesgebiet bereits wieder mit 1000 aus, im Jahr 2018 lag die TVBZ sogar bei 1745. Statistisch können viele Rauschgiftdelikte nicht erfasst werden, gerade jüngere Täter experimentieren öfters mit neuen Substanzen (z. B. mit neuen Arten synthetischer Opioide und Cannabinoide), die noch nicht in den Verbotslisten des Betäubungsmittelgesetzes erscheinen und damit trotz ihrer Gefährlichkeit strafrechtlich (noch) nicht zu erfassen sind.
53Wie genau der Zusammenhang zwischen Drogenabhängigkeit und Kriminalität aussieht, ist in der Wissenschaft umstritten. Erwiesen scheint nur, dass die besten Chancen, aus der Drogenkriminalität herauszukommen, im Älterwerden und damit im Verlassen der „Szene“ bestehen.81 Dagegen hat sich die Vermutung, dass weiche Drogen wie Cannabis den Grundstein für eine Drogenkarriere legen, nicht bestätigt. Für das Entstehen einer Drogenabhängigkeit scheinen andere Faktoren, die auf eine allgemein schlechte psychische Gesundheit hinweisen, eine größere Rolle zu spielen (z. B. Gehemmtheit, sehr früher Konsumeinstieg).82 In den 70er und 80er Jahren ging man auch noch davon aus, dass vor allem die Beschaffungskriminalität Ursache für steigende Kriminalitätszahlen ist. Spätere Studien aber zeigten, dass Drogenkonsum nicht unbedingt am Beginn einer kriminellen Karriere steht, sondern erst später hinzutritt.83 Das gilt insbesondere für den Konsum „harter“ Drogen wie Heroin. Kriminalität und Drogenkonsum folgen daher nicht notwendigerweise eins aus dem anderen. Beide Erscheinungen sind oft auch eher das Resultat gemeinsamer dritter Faktoren, etwa die Folge psychischer Auffälligkeiten oder einer von sozialen Problemen und devianten Subkulturen geprägten Umgebung.84 Drogenkonsum wird aber regelmäßig als Verstärker delinquenter Verhaltensmuster anzusehen sein, wenn auch nur in der Form, dass sich aufgrund der Abhängigkeit bestehende kriminelle Verhaltensformen verfestigen. Das Phänomen der Beschaffungskriminalität ist also nicht überholt, auch wenn sie in den Medien nicht mehr so präsent erscheint wie in den neunziger Jahren.85
54c) Tatgenossenschaftliche Begehungsweise. Charakteristisch für die Jugendkriminalität ist die besonders häufige „tatgenossenschaftliche“ Begehungsweise, mag diese nun juristisch als Mittäterschaft oder bloße Beihilfe erscheinen.86 Sie beträgt nach englischen und amerikanischen Untersuchungen 60 bzw. 75 % aller Jugendstraftaten, während für Deutschland zuverlässige Zahlen und Angaben fehlen. Für die jugendrichterliche Bewertung ist bedeutsam, dass den mit Tatgenossen handelnden Jugendlichen durchschnittlich eine günstigere Kriminalprognose zu stellen ist als den Alleintätern, was sich leicht daraus erklärt, dass meist ein Teil der Genossen durch Verführung und Gruppendruck beeinflusste bloße Mitläufer sind. In Großstädten sind als besondere Erscheinungsform jugendlicher Gruppendelinquenz Hooligans, besondere Cliquen und kriminelle Großfamilien, Street-Gangs etc. anzutreffen.87 Dieses Phänomen der Gruppenbildung hat sogar zu Überlegungen geführt, Bandendelikte des StGB, insbesondere §§ 244 I Nr. 2, 244a und § 250 I Nr. 2 StGB, bei Gruppendelikten jugendlicher Täter einschränkend auszulegen.88 Allerdings wird sich bei den meisten Normen – auch bei §§ 244, 244a StGB – kaum überzeugend begründen lassen, warum sie gegen jugendliche und heranwachsende Täter keine Schutzwirkung entfalten sollten.89 Deswegen haben diese Ideen auch nur wenig Rückhalt in der Praxis gefunden. Nicht nur, dass sie Unsicherheitsfaktoren in die Anwendung des materiellen Strafrechts hineintragen,90 auch ihr erzieherischer Mehrwert gegenüber einer mit Augenmaß verhängten jugendstrafrechtlichen Rechtsfolge, die auch die besonderen Umstände und jugendtümlichen Tatmotive in den Blick nimmt, erscheint fraglich.
55Ein altes Phänomen, das in jüngster Zeit aber wieder vermehrt Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, ist die durch Hooligans ausgeübte Gewalt, also Gewaltakte, die durch Massenphänomene ausgelöst werden, z. B. durch Großveranstaltungen wie Fußballspiele. Ein klarer Ursache-Wirkungs-Mechanismus lässt sich für diese Form der Gewalt nicht aufzeigen, aber es fällt auf, dass die Beteiligten diese Form der Gewalt als „Quasi-Wettkampf“ oder „Erlebniskriminalität“ wahrnehmen, der sich aber nicht nur gegen den Gegner, sondern auch gegen die Polizei und Unbeteiligte richtet.91 Die jungen Gewalttäter entfliehen an den Fußballwochenenden gleichsam ihrem Alltag und agieren, unterstützt durch die spezifische Subkultur, enthemmt.92
d) Spontanes, ungeplantes kriminelles Verhalten.
56Charakteristisch für Kinder und Jugendliche ist auch ein eher planloses Auftreten von Kriminalität. Jugendliche und Heranwachsende sind alters- und entwicklungsbedingt noch unausgeglichen und neigen zu bizarrem, rebellischem, überspanntem Verhalten. Delikte werden unüberlegt, aus dem Moment heraus begangen, was sich auch darin zeigt, dass sich die Jugenddelinquenz sehr stark auf Freizeit und unkontrollierte Freiräume konzentriert. Diese Planlosigkeit birgt Gefahren. Häufig hat der jugendliche Täter die durch sein Verhalten eintretenden Verletzungen und Schäden weder beabsichtigt noch bedacht. Er nimmt sein delinquentes Verhalten und die Folgen selbst nicht ernst. Die Planlosigkeit kann zwar auch dazu führen, dass der Jugendliche seine Tat schon auf einer frühen Verwirklichungsstufe wieder abbricht, gefährlich aber ist vor allem die für solche Spontandelikte typische Eskalation des Verhaltens, wenn der Täter in jugendtypischer Kompromisslosigkeit, oft auch noch gepaart mit emotionaler Erregung, für ihn unübersehbare Risiken eingeht oder ein durch die Medien erlerntes (Gewalt-)Verhalten nachzuahmen sucht.93 Sind zudem gruppendynamische Prozesse im Spiel, lassen sich oft Straftaten von besonderer Brutalität feststellen. Die Gruppe stellt einen zusätzlichen Enthemmungsfaktor dar (sog. peer group pressure).94
56ae) Radikalisierungsphänomene. Unter „Radikalisierung“ wird die Bereitschaft verstanden, das geltende gesellschaftliche und/oder rechtliche System zu verändern, wenn es nicht mit der eigenen Weltvorstellung übereinstimmt.95 Bock unterscheidet die primäre von der sekundären Radikalisierung.96 Primäre Radikalisierung kann bei denjenigen Jugendlichen eintreten, die eine Sinnkrise durchleben und auf der Suche nach einer neuen Identität sind. Diesen Sinn glauben sie vermeintlich in einer bestimmten extremen Auffassung zu finden. Eine Sinnsuche kann u. a. auf psychischer Instabilität oder der Unzufriedenheit im sozialen Umfeld beruhen,97 vor allem auch auf der ständigen Konfrontation mit gesellschaftlicher Islamfeindlichkeit und anderen Stereotypen.98 Die Hemmschwelle vor der Begehung von Straftaten ist bei diesen Sinnsuchern groß. Anders bei sekundär radikalisierten Jugendlichen. Diese haben bereits Erfahrung mit (allgemeinen) Straftaten und finden Rechtfertigungen für ihre Handlungen und in radikalen Parolen ein eigenes positives Selbstbild und für ihre kriminellen Neigungen einen höheren Sinn. Aktuell stehen drei Radikalisierungsphänomene im Fokus: Rechtsextremismus, Linksextremismus und islamischer Extremismus. Jede Form des Extremismus hat für sich eigenständige Einflussfaktoren, die jedoch teilweise überlappen können.99