Читать книгу Jugendstrafrecht - Sabine Swoboda - Страница 23

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58Die damaligen hohen Werte der ausländischen Tatverdächtigen (bei der Verurteiltenstatistik ist die Höherbelastung weniger ausgeprägt) wurden zu einem beträchtlichen Teil durch die besonders stark belasteten Gruppen der Jugendlichen und Heranwachsenden, also der sog. „zweiten“ bzw. „dritten“ Gastarbeitergeneration verursacht. Aus der polizeilichen Kriminalstatistik war bis 1989101 erkennbar, dass in den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts die registrierte Ausländerkriminalität bei den Jugendlichen und Heranwachsenden etwa dreimal so hoch war wie bei den Deutschen aus derselben Altersstufe. Von einer Kriminalität der Gastarbeiterkinder kann heute in der dritten und vierten Generation allerdings nicht mehr gesprochen werden. Der Anteil der nichtdeutschen Tatverdächtigen stagnierte laut polizeilicher Kriminalstatistik zu Beginn des 21. Jahrhunderts bis etwa 2014 bei einem Wert zwischen 20,9 und 25,7 % aller Tatverdächtigen. Das war erheblich weniger, als noch in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts.102 Von 33,6 % im Jahr 1993 sank der Wert in einer Wellenbewegung bis auf 20,9 % aller Tatverdächtigen im Jahr 2008. Ab 2014 schnellte der Ausländeranteil an den Tatverdächtigen jedoch wieder in die Höhe, von 28,7 % im Jahr 2014 über 40,4 % im Jahr 2016, sank aber zuletzt im Jahr 2018 wieder auf 34,5 %.103 Allerdings ist insoweit zu berücksichtigen, dass die Strafverfolgungsstatistik – anders als die Polizeiliche Kriminalstatistik – die typischerweise nur von Ausländern begehbaren Delikte wie Verstöße gegen das Aufenthaltsgesetz, das Asylgesetz und das Freizügigkeitsgesetz/EU nicht herausrechnet. Deswegen könnte der von der Polizeilichen Kriminalstatistik vermittelte Eindruck einer sinkenden Ausländerkriminalität im Bereich der allgemeinen Delikte tatsächlich zutreffen. Hinzuweisen ist weiterhin darauf, dass die Polizeiliche Kriminalstatistik einen Migrationshintergrund nicht generell berücksichtigen kann, sondern nur nach Staatsangehörigkeit der Tatverdächtigen klassifiziert. Über die Kriminalität von Menschen mit Migrationshintergrund können daher letztlich nur Dunkelfeldstudien eine Aussage treffen. Auch unterscheidet die Polizeiliche Kriminalstatistik seit 2016 zwischen Nichtdeutschen und „Zuwanderern“, d. h. zwischen Nichtdeutschen, die sich erlaubt in Deutschland aufhalten (Personen mit einem ständigen Aufenthaltstitel, EU-Bürger, Touristen, etc.), auf der einen Seite und auf der anderen Seite einer Gruppe bestehend aus Asylbewerbern, Schutz- und Asylberechtigten, Kontingentflüchtlingen, geduldeten Personen und solchen ohne Aufenthaltserlaubnis.

59Der Zusammenhang zwischen Migrationshintergrund und Kriminalität ist komplex. Eine spezifische Form von Ausländerkriminalität gibt es nicht. Ebenso wenig lassen sich für Gruppen mit Migrationshintergrund einheitliche Kriminalitätsbelastungsfaktoren aufzeigen. Die Kriminalstatistiken verzichten heute größtenteils darauf, die ausländischen Tatverdächtigen nach dem Grad ihrer Integration in die Gruppen: Arbeitnehmer mit Aufenthaltserlaubnis, Illegale, Asylanten, Durchreisende/Touristen, Studenten/Schüler oder Gewerbetreibende zu unterscheiden, sondern weisen nur noch Staatsangehörigkeiten aus. Auffällig bleibt in der Ausländerkriminalität, dass Nichtdeutsche weiterhin einen (im Vergleich zu ihrem Anteil an der Wohnbevölkerung) überproportional hohen Anteil an den Tatverdächtigen stellen.104 In den letzten Jahren fiel ferner auf, dass ausländische Tatverdächtige insgesamt überproportional bei Straftaten wie Diebstahl vertreten waren und bei zahlreichen Straftaten, die einen hohen Organisationsgrad erfordern, z. B. beim illegalen Handel mit harten Drogen oder Menschenhandel.105 Bei den Jugendlichen fielen die nichtdeutschen Tatverdächtigen damit auf, dass sie innerhalb ihrer Altersgruppe höhere Anteile an Diebstahlsdelikten und Bedrohung sowie bei Körperverletzungsdelikten hatten als deutsche Jugendliche.106

60Die Kriminalitätsbelastung der „Zuwanderer“, die in den 90er Jahren sehr viel Aufmerksamkeit auf sich zog, ist mittlerweile nicht mehr Gegenstand der Diskussion. Das Phänomen der „Zuwanderungskriminalität“ betraf vor allem Aussiedler aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion.107 Nach den Ereignissen in der Silvesternacht 2015/2016 in Köln108 verlagerte sich das mediale und wissenschaftliche Interesse insbesondere auf die Flüchtlingswelle der letzten Jahre und die hierdurch steigende Kriminalität.

In der polizeilichen Kriminalstatistik wurden für das Jahr 2018 als tatverdächtige Jugendliche und Heranwachsende 26,8 % Nichtdeutsche registriert. Der Anteil der tatverdächtigen Zuwanderer unter diesen nichtdeutschen Jugendlichen und Heranwachsenden betrug wiederum 24,1 %.109

Die Gründe für delinquentes Verhalten von Migranten sind vielschichtig. Ein Erklärungsansatz, der sog. sozioökonomische Ansatz, sieht eine Ursache delinquenten Verhaltens darin, dass einem Individuum nicht ausreichend legitime Mittel zur Verfügung stehen, um allgemein erstrebenswerte Ziele zu erreichen. Der Rückgriff auf illegale Mittel erscheint dem Individuum möglicherweise als einzige Möglichkeit, um seinen Zielen näherzukommen.110 Der subkulturtheoretische Ansatz betont dagegen, dass Migranten einer Diskrepanz zwischen den Normen und Werten des Aufnahmelandes und dem Heimatland ausgesetzt sind. Wenn nachfolgende Generationen sich dann zunehmend an die Normen und Werte des Aufnahmelandes anpassen, können Konflikte mit den älteren Generationen entstehen, wenn letztere weiterhin nach den Weltbildern des Heimatlandes leben.111 Die sozioökonomische Benachteiligung und der Rückzug in die Subkultur haben zudem Bedeutung bei der Bildung von Banden oder Cliquen, in denen Jugendliche möglicherweise ihr eigenes, vielleicht auch aus Gewalterfahrungen in den eigenen Familien gewonnenes, gewaltgeneigtes Werte- und Normensystem entwickeln. Mit einem höheren Anteil deutscher Freunde sinkt dagegen laut Statistiken die Gewaltneigung. Daher werden interethnische Kontakte als sehr wichtig erachtet.112 Der dritte Erklärungsansatz betont, dass in Gebieten mit schlechten ökologischen Bedingungen und einem niedrigen sozialen Status soziale Organisation und Zusammenhalt fehlen. Die Konzentration polizeilicher Kontrollen auf solchen Gebieten könne zu Spannungen mit der Polizei führen und zu einem verstärkten Registrierungsrisiko.113 Allen Ansätzen ist gemein, dass der Status als „Ausländer“ oder „Migrant“ grundsätzlich keine Aussage über die Kriminalitätsgefährdung hergibt. Vielmehr ist die besondere „Lebenslage“ für die Entwicklung von Kriminalität ausschlaggebend.114

Dieser Blick auf die besondere „Lebenslage“ ist auch hinsichtlich der Kriminalität durch die „neuen“ Zuwanderer, die Flüchtlinge, wichtig. Posttraumatische Belastungsstörungen, schleche Unterbringungssituationen und die Tatsache, dass die Mehrheit der ankommenden Flüchtlinge jung und männlich ist, sich also sowieso schon in einem kritischen Alter befindet, erklären die erhöhte Kriminalitätsauffälligkeit.115 Studien zeigen, dass Ausländer mit zumindest einer Aussicht auf einen Aufenthaltstitel weniger kriminalitätsauffällig sind als Menschen mit ungünstigen Bleibeperspektiven.116

61Insgesamt ist immer zu bedenken, dass die Statistik der Ausländerkriminalität durch viele weitere Faktoren verzerrt wird, nicht zuletzt durch Berücksichtigung der Straftaten gegen das Ausländergesetz, das Asylgesetz und das Freizügigkeitsgesetz/EU und durch die fehlende melderechtliche Erfassung eines Großteils der sich tatsächlich in der Bundesrepublik Deutschland aufhaltenden Ausländer. So bezogen sich z. B. die Tatverdächtigenbelastungszahlen für nichtdeutsche Arbeitnehmer, die noch bis vor einigen Jahren in der polizeilichen Kriminalstatistik gebildet wurden, nur auf die Anzahl der legal in der Bundesrepublik lebenden Nichtdeutschen unter Ausklammerung aller illegal oder nur kurzfristig in der Bundesrepublik verweilenden Ausländer. Die Zahlen zur Kriminalitätsbelastung der nichtdeutschen Wohnbevölkerung waren daher grundsätzlich nach oben verfälscht. Klammert man all diese Einflüsse soweit wie möglich aus, so ergibt sich zwar insgesamt wohl keine erhöhte Kriminalität der dauerhaft in Deutschland lebenden Nichtdeutschen, jedoch verbleibt eine höhere Belastung der nachwachsenden Generationen Nichtdeutscher mit Gewaltdelikten.117 Der überhöhte Anteil der Nichtdeutschen an der Gesamtkriminalität ist wohl in erster Linie mit der kulturellen und sozialen Entwurzelung, d. h. mit dem Kulturkonflikt, in dem sich diese jungen Menschen befinden, zu erklären. Die soziale Randständigkeit kann zudem zu Schulschwierigkeiten, Arbeitslosigkeit und sonstigen Benachteiligungen führen und damit die Bedingungen schaffen, die nach den Ergebnissen der Dunkelfeldforschung weltweit ein Abgleiten junger Männer in die schwere Kriminalität befördern.118 Die besondere psycho-soziale Situation dieser hochbelasteten jungen Männer bedingt zudem eine erhöhte Suchtmittelgefährdung.119 Für die hohe Gewaltrate bei männlichen Jugendlichen türkischer oder arabischer Herkunft werden darüber hinaus importierte Ehr- und Wertvorstellungen sowie ein erhöhtes Gewaltpotential innerhalb der Familien verantwortlich gemacht.120 Eine in bestimmten Deliktsbereichen erhöhte Kriminalität der ausländischen Jugendlichen und Heranwachsenden ist deshalb nicht überraschend. Neuere empirische Befunde lassen aber auch die Deutung zu, dass vor allem die eigene Gewalterfahrung eine Affinität zu gewalttätigen Konfliktlösungen begründet und dass deutsche Jugendliche in vergleichbarer sozialer Situation eine ähnlich hohe Kriminalitätsbelastung aufweisen wie nichtausländische Jugendliche.121

62Zur Verdeutlichung sei hier nochmals darauf hingewiesen, dass nicht die Staatsangehörigkeit als Erklärung für überhöhte Kriminalität dienen kann, sondern dass die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebensverhältnisse der Ausländer die erhöhte Auffälligkeit entscheidend bedingen.122 Ferner bedarf der Hervorhebung, dass Ausländer nicht nur überproportional häufig als Täter, sondern ebenso verstärkt auch Opfer strafbarer Handlungen werden.123 Das gilt gerade auch bei Jugendlichen. Ob die Ausländer darüber hinaus bei der Strafzumessung für eigenes strafbares Verhalten benachteiligt werden, ist umstritten. Manche empirischen Arbeiten haben entsprechende Ergebnisse angedeutet.124 Jugendliche mit Migrationshintergrund haben offenbar auch heute noch ein leicht erhöhtes Anzeigerisiko, wobei sich aber die polizeiliche Registrierungsrate und die Verurteilungsquote bei den Nichtdeutschen in den letzten Jahren einander angeglichen haben.125

63Dass die Nationalität Einfluss auf die Anklage- und Sanktionierungspraxis der Gerichte nimmt, konnte bisher nicht bzw. höchstens als Folge regionaler Anklagepraktiken belegt werden. Einfluss auf das Verhalten der Strafverfolgungsbehörden nahmen vielmehr andere Faktoren wie Vorstrafenbelastung, Geständnisbereitschaft, Deliktsschwere und ob gegen den Betroffenen zuvor Untersuchungshaft verhängt wurde. Die Nationalität korrelierte dabei allenfalls mit der Geständnisbereitschaft, die bei Nichtdeutschen – möglicherweise auch wegen eingeschränkter Kommunikationsmöglichkeiten – geringer ist.126 Die zeitliche, räumliche und thematische Begrenzung der bisher hierzu erfolgten Untersuchungen gestattet aber nicht, ihre Aussagen zu verallgemeinern. Bei weiterer Differenzierung innerhalb der nichtdeutschen Staatsangehörigkeiten könnten bestimmte Nationalitäten durchaus von Ungleichbehandlungen betroffen sein, etwa durch eine erhöhte Untersuchungshaftrate, die dann möglicherweise aus Sicht der Gerichte ein Indiz dafür schafft, dass der Betroffene schlechtere Bewährungschancen im Fall einer nur bedingten Jugendstrafe hat.127

64Belastend wirkt sich für die jungen Ausländer weiterhin das Nebeneinander von Ausländerrecht und Strafrecht aus. Faktisch kann das zur Doppelbestrafung führen: Einmal durch das Strafrecht und ein zweites Mal durch die ausländerrechtliche Reaktion. Dabei kollidiert der Erziehungsgedanke im Jugendstrafrecht zwangsläufig mit dem repressiven Charakter des Ausländerrechts.128

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