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IV.Jugendkriminalität nach Deliktsgruppen

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65Zum vollständigen Bild der Jugendkriminalität, ihrer Schwankungen und ihrer Erscheinungsformen gehört eine Aufgliederung nach den einzelnen Deliktsgruppen. Hier zeigt sich mit besonderer Deutlichkeit die relativ schnelle Wandlung von der „Krisen- und Notkriminalität“ der unmittelbaren Nachkriegsjahre in eine Kriminalität der industriellen Wohlstandsgesellschaft. Dabei ist freilich zu beachten, dass „Not“ und „Wohlstand“ relative Begriffe darstellen und heute wie seit Jahren die Versuchungen zu Vermögensstraftaten besonders groß sind für diejenigen jungen Menschen, die etwa wegen Arbeitslosigkeit in ihren Verdienst- und Konsummöglichkeiten hinter den stets weiter steigenden Standards zurückbleiben. So ging denn zwar die Vermögenskriminalität nach Überwindung der wirtschaftlichen Not der Nachkriegsjahre zunächst erheblich zurück, ist dann aber seit 1953, ungeachtet der weiteren Verbesserung der wirtschaftlichen Lage, sowohl bei den Jugendlichen (dort besonders deutlich) als auch bei den Heranwachsenden erheblich angestiegen. Häufigstes Vermögensdelikt Jugendlicher und Heranwachsender ist der Diebstahl. Das Schaubild 4 zeigt seine Entwicklung bis 2018. Zu beachten ist jedoch, dass die Diebstahlsstatistik in Bezug auf jugendtypische Kriminalität seit Ende der 90er Jahre an Aussagekraft verliert. Nicht nur, dass seit 1999 die Einstellungen nach §§ 45, 47 JGG im Bereich der Bagatelldiebstähle stark zugenommen haben, auch die Verfügbarkeit des Internets hat die Struktur der Jugendkriminalität nachhaltig verändert. Das Netz bietet ganz neue Möglichkeiten für die Beschaffung begehrter Konsumobjekte, etwa durch „Phishing“ (Ausspionieren von Zugangsdaten mit dem Ziel, diese anschließend zur Plünderung fremder Konten, zur Warenbestellung unter falscher Identität oder anderen schädigenden Internettransaktionen einzusetzen)129, Warenbetrug, Betrug bei Online-Auktionen oder Softwarepiraterie (vgl. § 106 I UrhG). Darüber hinaus mehren sich die Fälle von Mobbing über das Internet und damit Taten §§ 185 ff., 240 und gegebenenfalls sogar § 241 StGB.130

Schaubild 4: Verurteiltenziffern bei Jugendlichen und Heranwachsenden für Diebstahl und Unterschlagung, §§ 242 bis 248c StGB


66Eine weitere Tabelle, die wir der Polizeilichen Kriminalstatistik entnehmen, zeigt uns, in welchem unterschiedlichen Maße die Jugendlichen und Heranwachsenden (im Hellfeld der Kriminalität) bei besonders wichtigen einzelnen Deliktsgruppen an der Kriminalität als tatverdächtig registriert werden. Bei dieser Tabelle sind jedoch wieder die oben erwähnten Fehlerquellen der Kriminalstatistik zu beachten. Zu berücksichtigen ist insbesondere die je nach Jahr unterschiedlich hohe Aufklärungsquote in den einzelnen Deliktsgruppen. Zudem liegen der Polizeilichen Kriminalstatistik recht komplexe Richtlinien zur Erfassung von Straftaten zu Grunde, die in der Praxis nicht immer fehlerfrei umgesetzt werden. Die Folge ist eine quantitative Mehr- oder Mindererfassung einzelner Delikte.131 Die Anteile junger Täter an den Gesamttatverdächtigen dürften in der PKS im Übrigen auch deswegen überproportional hoch liegen, weil Jugendliche ihre Taten mit weniger Raffinesse begehen und damit auch leichter zu überführen sind als Erwachsene.

Tabelle 4: Jugendliche bzw. Heranwachsende waren an den Tatverdächtigen 1968, 1980, 2000 und 2018 beteiligt

Jugendliche Heranwachsende
Jahr 1968 1980 2000 2018 1968 1980 2000 2018
Alle Delikte 10,9 12,6 9,6 8,6 7,9 11,7 8,8 9,0
Vergewaltigung & Sexuelle Nötigung (§§ 177 II, III u. IV, 178 StGB) 12,5 7,4 9,0 11,1 16,2 15,3 9,4 13,4
Sexueller Missbrauch von Kindern (§§ 176, 176a, 176b StGB) 17,6 15,6 12,9 20,4 7,5 8,2 6,0 8,8
Verbreitung pornographischer Schriften (§§ 184, 184a, 184b, 184c, 184d, 184e StGB) 19,5 6,6
Diebstahl ohne erschwerende Umstände 17,7 15,4 11,9 15,5 11 8,3 6,8 8,2
Diebstahl unter erschwerenden Umständen 21,5 32,5 24,2 14,7 17,9 21,8 17,3 11,4
Auto- und Gebrauchsdiebstahl 20,2 26,4 27,5 14,6 29,9 30,4 19,9 13,6
Moped- und Motorraddiebstahl 58,5 61,2 58,7 40,3 19,5 18,3 14,1 15,9
Raubdelikte 16,2 20,9 27,6 20,2 19,6 22,1 18,0 16,3
Betrug 1,7 4,8 5,0 5,1 5,7 8,6 8,1 9,5
Sachbeschädigung 19,2 21,4 23,9 16,1 15,2 17,1 13,0 11,4
Rauschgiftdelikte (BtMG) 19,4 5,8 14,0 12,8 23 21,4 22,9 17,7
Gefährliche und schwere Körperverletzung 9,2 11,5 17,9 12,3 14,4 17,1 15,0 12,9
Mord und Totschlag 4,1 4,3 5,6 5,7 9,5 11,8 10,8 12,1
Brandstiftung und Herbeiführen einer Brandgefahr 9,4 11,5 10,3 6,9 5,9 6,4

67Die Zahlen von Tabelle 4 geben uns dennoch einen recht instruktiven Einblick in die Kriminalpsychologie der Pubertäts- und Adoleszenzjahre.132 Bei den Heranwachsenden sind die Rauschgiftdelikte, die Autodiebstähle, Raub und räuberische Erpressung sowie der Diebstahl unter erschwerenden Umständen überproportional häufig vertreten. Bei den Jugendlichen stehen das Moped und Motorrad an der Spitze aller begehrten Objekte. Überpro­por­tio­nal häufig werden von den Jugendlichen auch Raub bzw. räuberische Erpressung, Auto- und Gebrauchsdiebstahl, Diebstahl unter erschwerenden Umständen sowie Sachbeschädigung133 begangen. Bei der Brandstiftung fällt ebenfalls eine hohe Belastung auf.

68Unter dem Durchschnitt liegen die Prozentsätze der jungen Täter für den Betrug, der in der Regel an Gelegenheit und Erfahrung höhere Anforderungen stellt und deswegen trotz der zunehmenden Verlagerung der jugendlichen Konsumkriminalität ins Internet weiterhin ein typisches Erwachsenendelikt ist. Bei der für die Jugendkriminalität im Internet typischen „Softwarepiraterie“ nach § 106 UrhG sinken die Anteile der Jugendlichen und Heranwachsenden an den Tatverdächtigen rapide. Die Polizeiliche Kriminalstatistik 2012 wies noch einen Anteil von Jugendlichen mit 7,0 % und einen Anteil von Heranwachsenden von 6,1 % an allen entsprechenden Urheberrechtsverletzungen aus, doch 2018 betrug der Anteil der Jugendlichen unter 2 % und der Anteil der Heranwachsenden gerade noch 2,6 %.

69Einer gesonderten Würdigung bedarf noch das Phänomen der Gewaltkriminalität,134 die bei jungen Straftätern trotz absinkender Tendenz weiter Sorgen bereitet. Zwar findet sich Gewaltkriminalität auch bei erwachsenen Straftätern, vor allem bei den sog. Jungerwachsenen, sie tritt aber in der Öffentlichkeit besonders – bezogen auf ihren Altersanteil an der Bevölkerung – bei den Heranwachsenden zwischen 18 und 21 Jahren und bei den Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren deutlich in Erscheinung (s. Schaubild 5).

Schaubild 5: Kriminalitätsbelastung der deutschen Tatverdächtigen bei Gewaltkriminalität im Bundesgebiet, 2018; Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 2018, Band 4, Tabelle 4 – 3.2.-G03, S. 167


70Die überproportional hohe Tatbeteiligung der Jugendlichen und Heranwachsenden überrascht nicht, denn sie ist auch Ausdruck der altersspezifischen Aggressivität. Die Steigerung der physischen Kräfte, die um das 20. Lebensjahr ihren höchsten Stand erreichen, wird meist noch nicht in ihrer Entfaltung durch ein psychisches Einsichtsvermögen gebremst, das die Folgen der Gewalttätigkeit für das Opfer und den Täter selbst bedenkt. Auch kommen gerade in den Gewaltdelikten jene oben (Rn. 12) bereits angeführten allgemeinen Ursachen der Jugendkriminalität zum Ausdruck, insbesondere das häufige Fehlen einer legalen Ventilierung, ein falsches Zugehörigkeitsgefühl zu einer gewalttätigen peer group135 und die frühe Gewöhnung an die Gewaltausübung durch die Massenmedien, namentlich durch Online-Medien. Horror- und Kriegsfilme stehen wegen ihres hohen Gewaltpotentials verstärkt in der Kritik,136 ebenso virtuelle Kampfspiele. Trotzdem zeigen Untersuchungen, dass Haupteinflussgröße für eine Gewaltbereitschaft im Jugendalter weiterhin die innerfamiliäre Gewalterfahrung ist, häufig verstärkt durch die Wirkung medialisierter Gewalt.137 Die in den letzten Jahren mehr und mehr beklagte Zunahme von Gewalttaten in der Schule – vor allem in Sonder- und Hauptschulen, sowie in großen Schulzentren oder Gesamtschulen – konnte durch empirische Untersuchungen bisher kaum eindeutig nachgewiesen werden.138 Zumeist ist auch die öffentlich wahrgenommene Schulgewalt nur typisches Abbild jugendlicher Gewalt. Zudem wird die Wahrnehmung des Phänomens der Schulgewalt dadurch verzerrt, dass die Polizeistatistiken unter „Gewaltdelikten“ je nach Bundesland auch bloße Sachbeschädigungen und verbale Beleidigungen registrieren.139 Möglicherweise führt zudem die verstärkte Präsenz der Polizei an den Schulen im Rahmen von Präventionsmaßnahmen dazu, dass die Polizei von mehr Delikten Kenntnis erlangt als früher.140 Aufmerksamkeit fordert vielmehr die latent hohe Fremdenfeindlichkeit unter den Schülern und das Phänomen des Schulschwänzens, das die Dunkelfeldforschung als erheblichen Risikofaktor für jugendliche Delinquenz ausweist.141 Auch hier wäre es zu kurz gedacht, das Problem nur bei den Jugendlichen selbst oder bei der Schule zu suchen, da ein großer, wenn nicht der entscheidende Einfluss auf die Gewaltbereitschaft junger Menschen von der familiären Situation ausgeht. Dabei spielen allgemeine gesellschaftliche Schwierigkeiten wie Alkoholismus, Arbeitslosigkeit und instabile familiäre Bindungen bzw. Partnerschaften eine wichtige Rolle.142

71Eine besondere Form jugendlicher Gewaltkriminalität stellen seit Jahren die bis zu Mord, Brandstiftung und schwerem Landfriedensbruch gesteigerten Ausschreitungen rechts-, aber z. T. auch linksextremistischer Straftäter dar. Ab Mitte der 90er Jahre häuften sich Fälle, in denen Ausländer Opfer rechtsextremistischer Gewalt wurden. In den 90er Jahren waren an diesen Straftaten auch Jugendliche und Heranwachsende stark beteiligt, heute sind Jüngere eher bei islamistischen und linksextremen Straftaten involviert. Bei rechtsmotivierten Straftaten ist hingegen eine Altersverschiebung dahingehend zu verzeichnen, dass rechtsmotivierte Gewalt mehrheitlich von Erwachsenen begangen wird.143 Bei schweren extremistischen Straftaten junger Täter wird es nur selten eine Alternative zur Jugendstrafe geben, allein wegen des Gedankens des angemessenen Schuldausgleichs. Außerdem bedarf es einer nachhaltigen erzieherischen Einwirkung auf den jungen Straftäter im Rahmen des Strafvollzugs. Diese scheint zumindest bei jugendlichen Mitläufern extremistischer Gewaltdelinquenz Aussicht auf Erfolg zu haben.144 Auf jeden Fall aber müssen im Vorfeld etwaiger Straftaten intensive Präventionsprogramme ansetzen.145

Andererseits muss nicht jedes missbilligenswerte Verhalten zu schweren Straftaten hochstilisiert werden; vielmehr sollte stets mit „gelassener Entschiedenheit“ reagiert werden.146

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