Читать книгу Jugendstrafrecht - Sabine Swoboda - Страница 35
2.Die „Jugendgerichtsbewegung“
Оглавление95Die Forderungen der kriminalpolitischen Reformer und die ausländischen Anregungen fanden bald in weiten Kreisen Deutschlands eine Zustimmung, die ihren kämpferischen Elan durch das bereits erwähnte besondere Interesse des neuen Jahrhunderts für alle Fragen der Jugend erhielt. So entstand die „Jugendgerichtsbewegung“, die ihr Programm auf den „Deutschen Jugendgerichtstagen“ (zuerst 1909 in Berlin)164, aber auch auf den Juristentagen und den Versammlungen der IKV verkündete. Aus der Reihe ihrer verdienstvollen Vorkämpfer sind besonders die Namen des Berliner Vormundschaftsrichters Koehne und der Jugendrichter Blumenthal, Altona, Herbert Francke, Berlin, und Clostermann, Bonn, in die Geschichte des Jugendstrafrechts eingegangen.
96In der deutschen Diskussion165 der jugendrechtlichen Reformpläne bildeten sich von Anfang an zwei bis heute fortwirkende unterschiedliche Richtungen heraus. Von ihnen wollte die eine allen Formen jugendlicher Dissozialität, einerlei, ob sie in einer Straftat oder ohne eine solche in anderen Verwahrlosungserscheinungen zu Tage trat, mit einem einheitlichen System reiner Erziehungsmaßnahmen begegnen. Die andere hielt an der Strafe als rechtlicher Sanktion gegenüber Straftaten Jugendlicher fest und wollte sich mit der Einführung erzieherischer Gesichtspunkte in das neu zu schaffende „Jugendstrafrecht“ begnügen, während es nach wie vor Sache des Vormundschaftsrichters bleiben sollte, sich der verwahrlosten, aber noch nicht straffällig gewordenen Jugendlichen anzunehmen.166 Mit dem Dualismus von BGB und Jugendhilferecht (früher: Jugendwohlfahrtsgesetz) einerseits, Jugendgerichtsgesetz andererseits, hat sich nach dem 1. Weltkrieg die zweite Auffassung durchgesetzt, wobei man freilich von Anfang an darauf bedacht war, durch die angestrebte Personalunion von Vormundschaftsrichter und Jugendrichter, aber auch durch die Mitwirkung des Jugendamts im Jugendstrafverfahren und auf andere Weise die beiden Bereiche miteinander zu verknüpfen.
97Dabei kam jedoch die gesetzliche Reform, die zunächst mit der allgemeinen Strafrechtsreform verbunden war, nur langsam voran und blieb mit dieser im 1. Weltkrieg stecken. Doch wurde schon vorher ohne irgendeine Gesetzesänderung ein echter und wesentlicher Erfolg erzielt, als 1908 im Wege der Geschäftsverteilung innerhalb der Gerichte in Frankfurt, Köln und Berlin besondere Jugendgerichte eingerichtet wurden, denen mit der strafrichterlichen Aburteilung Jugendlicher auch die sie betreffenden vormundschaftsrichterlichen Erziehungsaufgaben übertragen wurden.167 Diesen ersten Jugendgerichten, die sich bewährten und ministerielle Anerkennung fanden, folgten bald weitere in allen Teilen Deutschlands. Ferner wurde 1912 in Wittlich im Rheinland, ebenfalls nach amerikanischem Vorbild, das erste deutsche Jugendgefängnis eingerichtet, in dem jugendliche Häftlinge unter strenger Trennung von erwachsenen Gefangenen einem jugendgemäßen Erziehungsstrafvollzug unterzogen wurden.
98Waren diese Fortschritte in der Behandlung jugendlicher Straffälliger bisher nur durch Verwaltungsanordnungen erzielt worden, so erhielt in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, besonders auf Grund der von den Reichsjustizministern Schiffer und Radbruch entfalteten Initiative, auch die Gesetzgebung neuen Auftrieb. Das 1922 erlassene Jugendwohlfahrtsgesetz schuf u. a. die Jugendämter und stellte Schutzaufsicht und Fürsorgeerziehung als vormundschaftsrichterliche Maßnahmen gegen Jugendverwahrlosung auf rechtliche Grundlagen.168 Vor allem aber wurde nunmehr die immer dringlichere Reform des Jugendstrafrechts von der sich weiterhin verzögernden Reform des allgemeinen Strafrechts gelöst169 und nach längeren sorgfältigen Vorarbeiten durch das erste deutsche Jugendgerichtsgesetz vom 16.2.1923 zu einem vorläufigen gesetzlichen Abschluss gebracht.