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1.Das Jahrhundert des Kindes

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90a) Neue biologische, psychologische und soziologische Einsichten und sozial-politische Programmatik vereinigten sich darin, der Kindheit und Jugend einen eigenen und bevorzugten sozialen Rang zuzuweisen. Er wird gekennzeichnet durch das Wort der schwedischen Schriftstellerin Ellen Key, die das damals anbrechende 20. Jahrhundert als das „Jahrhundert des Kindes“ bezeichnete. Ihre Prophezeiung wurde im Laufe des Jahrhunderts in allen Bereichen des geistigen und sozialen Lebens Realität, so in dem gewandelten Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern, in den modernen Entwicklungen in Pädagogik und Schulwesen, in der Ausbildung von Kinderheilkunde, Jugendpsychologie und Jugendpsychiatrie zu selbstständigen wissenschaftlichen Disziplinen, in staatlichem Jugendschutz und öffentlicher Jugendpflege. Das Strafrecht konnte davon nicht unberührt bleiben.

91Auch die aus der Jugend selbst kommende „Jugendbewegung“, die im Jahrzehnt vor dem 1. Weltkrieg einsetzte, hat die neue Einsicht, dass der „Jugendliche kein kleiner Erwachsener“ sei, gefördert. Wenn von ihr aus auch kein unmittelbarer Einfluss auf die strafrechtliche Behandlung Jugendlicher ausging, so war doch die mittelbare Bedeutung der von ihr proklamierten „Eigenständigkeit der Jugendwelt“ auch für diesen Bereich groß. Das gilt namentlich auch für die Pädagogik der Heimerziehung und des Jugendstrafvollzugs.

92b) Allerdings hätte jene neue machtvolle Zeitströmung, die das „Jahrhundert des Kindes“ heraufführte, kaum so schnell das Strafrecht erobern können, wenn nicht bereits dessen eigene Entwicklung von einem anderen Ansatzpunkt aus in die gleiche Richtung gelenkt worden wäre. Schon seit den 80er Jahren („Marburger Programm“, 1882) des 19. Jahrhunderts hatten Franz von Liszt und die von ihm geführte „moderne Schule“ der Strafrechtswissenschaft die Umwandlung des alten tatvergeltenden Strafrechts in ein spezialpräventives Täterstrafrecht gefordert. Sinn des Strafrechts sei nicht die Vergeltung fragwürdiger Schuld, sondern die Verhütung künftiger Straftaten, wenn möglich und erforderlich durch erzieherische Resozialisierung des Straffälligen. Eben deshalb aber müsse die einzelne strafrechtliche Maßnahme individualisiert, d. h. der jeweiligen Eigenart der Täterpersönlichkeit und ihren erzieherischen Bedürfnissen angepasst werden. Wenn nun aber überhaupt unter allen Straffälligen sich eine Gruppe durch ihre individuelle Besonderheit und die Chancen einer Resozialisierung heraushebt, so ist es diejenige der Jugendlichen. Ihr hat deshalb auch von Anfang an die „moderne Schule“ besondere Aufmerksamkeit gewidmet, und hier ist sie auch dem schwächsten Widerstand begegnet. Wenn der die folgenden Jahrzehnte ausfüllende „Schulenstreit“ zwischen „klassischer“ und „moderner“ Richtung in seinen gesetzlichen Ergebnissen auch insgesamt mit einem „Remis“ endete, so hat er doch, wie in fast allen Ländern der Welt, so auch in Deutschland, auf dem Gebiet des Jugendstrafrechts zu einem überwiegenden Erfolg der Lisztschen Gedanken geführt.162

93Schon auf der zweiten Tagung der deutschen Landesgruppe der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung (IKV) in Halle (1891), die das Programm der „modernen Schule“ vertrat, war Verhandlungsgegenstand das Thema „Nach welcher Richtung hin ist eine Umgestaltung der über eine Behandlung jugendlicher Verbrecher im StGB gegebenen Bestimmungen wünschenswert?“. Bereits im folgenden Jahr veröffentlichte einer der Tagungsreferenten, der Staatsanwalt Appelius, sein Buch über „Die Behandlung jugendlicher Verbrecher und verwahrloster Kinder“. Dieses Werk war insofern Epoche machend, als es zum ersten Male statt der bisherigen dürftigen Gesetzesbestimmungen über die Strafmündigkeit und Strafmilderungen bei Jugendlichen ein ausführliches, vom Erziehungsgedanken ausgehendes System für die strafrechtliche Sonderbehandlung jugendlicher Rechtsbrecher entwickelte. Es enthielt in seinen Vorschlägen bereits das meiste von dem, was viele Jahrzehnte später nach und nach durch die verschiedenen Jugendgerichtsgesetze verwirklicht wurde. So forderte Appelius u. a.: Heraufsetzung der Strafmündigkeit auf das 14. Lebensjahr; für straffällige Kinder staatlich überwachte Erziehung in einer Familie oder Anstalt; Ersetzung des „discernement“ durch das Erfordernis der geistig-sittlichen Reife; Beseitigung der der Resozialisierung abträglichen kurzzeitigen Gefängnisstrafen, Strafmindestdauer bei Vergehen einen Monat, bei Verbrechen ein Jahr Gefängnis; Möglichkeit der Aussetzung der Strafvollstreckung unter gleichzeitiger Anordnung staatlich überwachter Erziehung; Betreuung der Jugendlichen bei Entlassung aus der Strafhaft; Erziehungsmaßnahmen neben oder an Stelle der Strafe; Beachtung der Persönlichkeit des Täters, daher Erforschung der häuslichen Verhältnisse; Ausschluss der Öffentlichkeit in der Hauptverhandlung.

94Die lebhafte Diskussion der Reformvorschläge, die nunmehr in der juristischen und sozialpolitischen Öffentlichkeit einsetzte, erhielt wesentliche Anregungen durch die Erfahrungen und Erfolge, zu denen man bereits im Ausland, besonders in den Vereinigten Staaten und England, auf Grund ähnlicher Bestimmungen gelangt war. In Amerika waren bereits besondere Jugendgerichte entstanden, wobei der Jugendrichter zugleich fürsorgerische und strafrechtliche Maßnahmen anordnen konnte (sog. Wohlfahrtsmodell, orientiert am Konzept des parens patriae). Auch hatte sich dort und in England die Unterstützung der Richter durch einen zunächst freiwilligen nebenamtlichen, später hauptberuflichen „probation officer“ bewährt, der dem Richter über die Persönlichkeit der Jugendlichen zu berichten und diese sodann zu betreuen hatte. Von den englischen Einrichtungen gewann später namentlich das so genannte Borstal-System (genannt nach der Anstalt Borstal), eine Erziehungshaft von unbestimmter Dauer für 16- bis 21-jährige Verbrecher, vorbildhafte Bedeutung für die deutsche Entwicklung.163

Jugendstrafrecht

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