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VI.Untersuchungen zur legalpräventiven Wirksamkeit des Jugendstrafrechts
Оглавление73Zahlreiche kriminologische Untersuchungen haben sich mit der Überprüfung der Wirksamkeit des Jugendstrafrechts im Hinblick auf eine Rückfallvermeidung befasst.148 Noch aber ist die Forschung auf diesem wichtigen Gebiet noch nicht ausgereift und damit auch noch nicht zu für die Kriminalpolitik bedenkenlos verwertbaren Ergebnissen gelangt. Die in den folgenden Kapiteln dieses Buches enthaltenen Zahlen der Bewährungsstatistik bei einzelnen Sanktionen (dazu Rn. 379, 438, 483 ff.) sind daher mit Vorsicht und erheblichen Vorbehalten aufzunehmen. Zum einen liegt ein Teil der dort vorgestellten Untersuchungen bereits längere Zeit zurück, zum anderen konzentrieren sich die Rückfalluntersuchungen ganz überwiegend auf freiheitsentziehende Sanktionen, insbesondere Jugendstrafe und Jugendarrest. Vergleichbare Ergebnisuntersuchungen über ambulante Sanktionen (z. B. Erziehungsmaßnahmen, Geldauflagen, Arbeitsauflagen, Betreuungsweisungen) sind kaum zu bekommen, so dass auch statistisch abgesicherte Aussagen darüber, ob den einen oder den anderen Sanktionen ceteris paribus ein größerer Erfolg beschieden ist, nicht möglich sind. Darüber hinaus werden die Begriffe von „Erfolg“ und „Rückfall“ in diesen Studien unterschiedlich interpretiert. Ein Teil der Untersuchungen wertet jede neue registrierte Straftat als Rückfall, während der andere Teil nur neue Straftaten und Sanktionen von einigem Gewicht als echten Rückfall ansieht. So wird man nur mit größter Zurückhaltung zu einer Art „Stufenleiter“ des Erfolgs bzw. Misserfolgs der Maßnahmen gelangen, die sich aus empirischen Untersuchungen ergibt (Tabelle 5).
Tabelle 5: Legalbewährung nach jugendstrafrechtlichen Sanktionen149
Verhängte Sanktionen und Maßnahmen | Rückfallquote in % | ||
2004–2007 (3 Jahre) | 2004–2010 (6 Jahre) | 2010–2013 (3 Jahre) | |
Einstellungen gem. §§ 45, 47 JGG | 38,0 | 46,0 | 34,4 |
Sonstige jugendrichterliche Maßnahme nach JGG | 54,0 | 63,0 | 52,1 |
Jugendstrafe ohne Bewährung | 70,0 | 81,0 | 64,5 |
Jugendstrafe mit Bewährung | 64,0 | 75,0 | 61,4 |
Jugendarrest | 67,0 | 76,0 | 63,7 |
74Vergleicht man die mitgeteilten Ergebnisse mit parallelen Studien, gelangt man zwar zu einer großen Schwankungsbreite, der „Aufwärtstrend“ der Rückfallquote mit steigender Intensität der Maßnahme bleibt jedoch erhalten. Eine besonders harte Sanktionierung bietet also keine Gewähr für einen größeren Erfolg. Im Einzelfall wird vielmehr die Wahl des milderen Reaktionsmittels möglich sein, ohne dass sich damit die Rückfallwahrscheinlichkeit erhöht. Das Jugendstrafrecht leitet aus dieser durchaus nicht neuen Erkenntnis die besondere Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips ab (dazu näher unter Rn. 723). Der Jugendrichter soll nur dann zu der nächstschwereren Sanktionsform greifen, wenn er sie für unverzichtbar hält. Insbesondere ist nie bestritten worden und wird von der Praxis auch beachtet, dass die Jugendstrafe wirklich nur als ultima ratio unter den Rechtsfolgen erheblicher Jugendstraftaten eingesetzt werden darf (s. unten Rn. 440). Daraus kann jedoch nicht der Schluss gezogen werden, dass die empirischen Forschungsergebnisse den Jugendrichter dazu zwängen, die jeweils mildere Sanktion zu wählen.150 Die aus der Rückfallstatistik abgeleitete Erkenntnis, dass sich mit steigender Sanktionsschwere die zukünftige Legalbewährung eines Täters nicht verbessert, ist nur einer von mehreren Gesichtspunkten, der in die richterliche Sanktionsfindung einfließt. Für den konkreten Fall ist er unter Umständen nicht einschlägig oder wird durch andere Erwägungen überlagert. Auch ist zu bedenken, dass eine schlechtere Bewährung der schwerer sanktionierten Probanden schon deshalb erwartungskonform ist, weil der Richter eine Vorselektion vornimmt und bei günstigerer Prognose gerade mildere Reaktionen bevorzugt. Probanden aus dem Jugendarrestvollzug und in noch viel stärkerem Maße Probanden aus dem Jugendstrafvollzug stellen zumeist eine negative Auslese unter den jugendlichen und heranwachsenden Straftätern dar. Regelmäßig sind sie im Zeitpunkt ihrer Verurteilung auch bereits mehrfach auffällig geworden. Bei ihnen kann es deshalb nicht verwundern, dass ihre Rückfallquote besonders hoch ist. Mit der Behauptung, die Ergebnisse der wissenschaftlichen Rückfallforschung belegten eindeutig die zumindest gleich große Wirksamkeit des „leichteren“ Eingriffs, werden alle anderen Kausalfaktoren in unzulänglicher Weise ausgeklammert, obwohl menschliches Verhalten auf einer unendlichen Fülle von lebensbestimmenden Einflüssen basiert. Niemand garantiert Strafverfolgungsorganen, dass dieser Jugendliche auch im konkreten Fall sich ebenfalls zumindest gleich gut bewähren wird, wenn auf intensivere Maßnahmen verzichtet wird. Mittlerweile haben auch erste Untersuchungen die Vermutung einer größeren Legalbewährungschance bei Ausweitung informeller Sanktionen sehr eindrucksvoll widerlegt. Bareinske151 z. B. nutzt die in der Freiburger Kohortenstudie gewonnenen Daten, um in einer regional begrenzten Vergleichsstudie den Effekt der Ausweitung informeller Sanktionen auf die Gesamtlegalbewährungsrate zu untersuchen. Die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Straffälligkeit sinkt seinen Ergebnissen zufolge auch dann kaum, wenn vermehrt informelle Sanktionen verhängt werden. Allerdings gilt dann weiterhin gemäß dem Gebot der Verhältnismäßigkeit, dass bei leichter Jugendkriminalität bei zu erwartender gleicher Präventionswirkung der informellen Erledigung der Vorzug zu geben ist.
75Mit Sicherheit wird es immer wieder Jugendliche geben, für die gerade der Verzicht auf ein klares Signal seitens der Rechtsgemeinschaft, dass ein derartiges Verhalten nicht geduldet wird, im Sinne einer Kriminalitätsprophylaxe kontraproduktiv ist. Empirische Untersuchungen bestätigen aber, dass sich überführte Täter bei Sanktionierung in ihrer kriminellen Betätigungsweise stärker gesteigert haben als Nichtsanktionierte.152 Diese vom Sanktionsverzicht ausgehende Normirritation153 erscheint nach der allgemeinen Lebenserfahrung erwartungskonform. Allein statistische Aussagen zur Legalbewährung geben aber natürlich keine Auskunft über die Wirksamkeit eines Sanktionsverzichts zur Kriminalitätsprophylaxe im Einzelfall. Deswegen wäre auch falsch, aus der „Stufenleiter“ der Maßnahmenerfolge bzw. Maßnahmenmisserfolge auf eine Verpflichtung des Jugendrichters zu schließen, bei der Wahl der milderen Sanktion immer auf der niedrigsten Stufe zu beginnen. Er dürfte dann nicht bei der nächstniedrigeren Sanktionsstufe Halt machen, sondern müsste die Treppe stets bis ganz nach unten abschreiten, denn bei völligem Sanktionsverzicht wurden in der empirischen Forschung bisher die besten Bewährungsquoten ermittelt. Dann aber dürfte letztlich überhaupt kein Jugendlicher mehr bestraft werden. Die Empirie ist vielmehr mit Augenmaß zu lesen. Sie hat den wissenschaftlichen Nachweis für eine Regelvermutung zu Ungunsten härterer Sanktionen nicht erbracht, weil in den vergangenen Jahrzehnten die Sanktionsschwere im Jugendstrafrecht zwar drastisch vermindert wurde, die Jugendkriminalität aber weiterhin auf einem hohen Niveau verblieben ist. Natürlich darf und muss der Jugendrichter die Empirie als kriminologisches Grundwissen berücksichtigen. Er sollte sie bei seinen Überlegungen zur positiven Generalprävention ebenbürtig in die Entscheidung mit einfließen lassen, zumal er sich ohnehin von der Devise leiten lassen sollte, dass im Zweifel ein „Weniger“ an Sanktionen dem Erziehungsgedanken eher gerecht wird als der Rückgriff auf drastische Strafen.154 Statistisch-quantitative Prognosen sind nicht mit individuellen Wahrscheinlichkeitsprognosen für den konkreten Einzelfall zu verwechseln. Sie können die differenzierte Einzelfallanalyse allenfalls ergänzen, haben ansonsten aber für die Auswahl der geeigneten Sanktion nur geringen Aussagewert.
76Angesichts der dargelegten beschränkten Wirksamkeit jugendstrafrechtlicher Maßnahmen lassen diese von vornherein allenfalls Teilerfolge erwarten. Sie sollten ergänzt werden durch andere private und öffentliche Bemühungen um Verbesserung des emotionalen, personalen und sozialen Umfeldes, z. B. in Familie, Schule und Wohngebiet.155 Die Präventionsbemühungen in vielen Städten und Gemeinden156 kranken in der Praxis aber häufig an der fehlenden Kooperationsbereitschaft aller Beteiligten. Auch wurde das Ziel einer Einbeziehung der Bürger in vielen Gremien verfehlt.157
77Innerhalb der Kriminalprävention wäre zudem eine verstärkte interdisziplinäre Kooperation von Jugendhilfe, Schule, Polizei, Justiz und Psychiatrie zu begrüßen,158 wie sie z. B. in den so genannten Jugendrechtshäusern praktiziert wird.159 Wohnortsbezogene Projekte versprechen zudem, den Jugendlichen unmittelbar in seinem konkreten Lebensbereich und in seiner persönlichen Lebenssituation abzufangen. Dennoch liegen grundlegende Veränderungen der Lebensumstände des Täters zumeist außerhalb des Einflussbereiches der mit der Aufarbeitung jugendstrafrechtlichen Verhaltens befassten Institutionen. Sie müssen sich deshalb notwendigerweise mit dem Einsatz des begrenzt wirksamen Instrumentariums des Jugendstraf- und Jugendhilferechts begnügen.
78Die Präventionseuphorie hat durch den 1998 in den USA veröffentlichten „Sherman-Report“ erhebliche Ernüchterung erfahren. Diese Studie der Universität Maryland untersuchte Möglichkeiten und Wirkungen verschiedener Maßnahmen der Kriminalprävention. Dabei zeigte sich, dass im Grunde nur die individual- oder familienorientierte Kriminalprävention durch Hausbesuche, Familien-Therapie und Eltern-Training oder durch besondere schulische Betreuung und Angebote für auffällige Kinder effektiv zur Vermeidung von Kriminalität beitragen kann. Neben individueller Betreuung und Schulung gefährdeter Kinder und Jugendlicher wurde ansonsten nur noch die verstärkte Überwachung „kriminogener“ Orte als wirksame Präventionsmaßnahme eingestuft. Als unwirksam haben sich hingegen z. B. kurzfristige ambulante Trainingsprogramme für gefährdete Jugendliche, Jugendarrest, „Boot camps“ und ähnliche Schock-Programme erwiesen. Auch Maßnahmen, bei denen die Bevölkerung zur Mobilisierung gegen Kriminalität und zur Teilnahme an Nachbarschafts-Überwachungs-Programmen aufgerufen wurde, blieben in sozial benachteiligten und stark kriminalitätsbelasteten Gegenden wirkungslos.160